Nachdem ich mich geduscht und dadurch alle Spuren des heutigen freien Abends abgewaschen hatte, schlich ich über den Flur in mein helles Schlafzimmer. Mein noch feuchtes türkisfarbenes Haar hatte ich zu einem lockeren Dutt hochgedreht. Die Bildflächen der Wände waren alle über den Beleuchtungsmodus auf neutrales Weiß voreingestellt. Das ovale große Bett schwebte einen halben Meter über dem Boden. Ein weißer Baldachin hing darüber, der an einer Seite von einem metallischen Roboterarm, der an der Decke montiert war, hochgehoben wurde. Da mir das weiße Zimmer mit dem hellbeigen Flauschteppich auf granitgrauem Untergrund zu fröhlich für meine derzeitige Stimmung erschien, stellte ich das Design via HandChip auf Abenddämmerung – Wald um. Alle Wände verdunkelten sich sofort, Bäume wurden darauf projiziert und sogar der Geruch von Tannenzapfen zog durch den Raum. Im Hintergrund hörte man leises Wasserplätschern und das Gezwitscher von Vögeln. Dies war der einzige moderne Schnickschnack, den ich mir neben der in die Felsen geschlagenen Dusche, direkt beim versteckten Wasserfall des kleinen Berges, gegönnt hatte.
Als müsste ich frische Luft schnappen, atmete ich einmal tief ein und ging dann zum in die Wand eingelassenen Kleiderschrank, betätigte die Tür, die innen zur Seite glitt, und bückte mich in die Ecke, um dort einen kleinen, luftgeschützten Behälter herauszufischen. Mit diesem setzte ich mich vor dem Schrank auf den Boden, öffnete die versiegelte Box und holte ein Shirt daraus hervor, auf dem das verblichene Logo der Band AC/DC zu erkennen war.
Obwohl ich das Kleidungsstück bereits seit einigen Monaten darin verwahrte, haftete Matejs Geruch noch daran. Ich schloss die Augen, und so verrückt ich mir dabei auch vorkam, schnüffelte ich genüsslich am Shirt. Wenige Sekunden später rief ich über meinen HandChip das 3D-Bild seiner entspannten Gestalt auf und öffnete die Augen, um ihn in der Luft schweben zu sehen. Er lag direkt vor mir. So, wie ich ihn vor Monaten nackt schlafend in seinem Bett fotografiert hatte. Nur sein bestes Stück war leider Gottes unter einer dünnen Decke verborgen. Zum Glück war mein Erinnerungsvermögen gut ausgeprägt und somit konnte ich mir auch diesen speziellen Abschnitt bestens vorstellen – der ebenfalls nicht von schlechten Eltern war. Ich seufzte bei der Erinnerung, einmal, zweimal, und wenn ich schon dabei war, auch gleich ein drittes Mal. Dass ich mich beim Anstarren des Bildes und beim Schnüffeln am Shirt ein wenig armselig und wie eine Stalkerin fühlte, musste ich wohl nicht extra erwähnen.
Wehmut machte sich in meinem Herzen breit. Bevor ich jedoch etwas richtig Blödes tun konnte, wie zum Beispiel ihn anzurufen, nur um seine einladende Stimme zu hören, riss mich ein warnendes Klingeln in meinem Kopf aus meiner Träumerei von verbotenen Leckerbissen. Zum Glück. Denn so war es am besten, und ich hatte die richtige Entscheidung getroffen, ihn damals zurückzulassen. Die Fragen in mir konnte ich aber trotz allem nicht stoppen oder damit aufzuhören, die Was-wäre-wenn-Szenarien durchzuspielen.
Dachte er auch manchmal noch an mich? Wären wir zusammengekommen, wenn ich ihn mitgenommen hätte? Wären wir dann glücklich? Hätten wir in dieser Welt überhaupt die Chance auf eine gemeinsame Zukunft gehabt?
Tief einatmend schüttelte ich den Kopf – nein, das war keine Option. Vermutlich hatte er mich längst vergessen, womöglich sogar eine nette Frau kennengelernt, die ihm gab, was ich nie gekonnt hätte. Ich hoffte, dass er glücklich war, und vor allem in Sicherheit, denn das war der einzige Gedanke, der mich dazu bewegte, die Kraft aufzubringen, nicht seine Nummer zu wählen. Nun gut, hin und wieder hatte ich sie doch gewählt, da ich die Nummer seines ganz gewöhnlichen Handys noch gespeichert hatte, jedoch gleich wieder aufgelegt. Matej war vom alten Schlag, der sich gegen die modernen HandChips wehrte. Dank meiner vorsichtshalber verborgenen Nummer würde er nie und nimmer herausfinden, wer sein Handy zu den unmöglichsten Zeiten zum Klingeln brachte. Vermutlich verfluchte er denjenigen sogar, trotz seiner christlichen Berufung.
Von meinen ganzen Überlegungen wollte mein Sicherheitssystem nichts wissen und klingelte unterdessen fröhlich in meinem Kopf weiter. Es war ungefähr genauso nervig wie ein Wecker am frühen Morgen, der das Krähen eines Hahnes imitierte. Herzallerliebst.
Die magische Schutzwehr der Amethyststeine rund um mein Grundstück informierte mich über das Übertreten der unsichtbaren Grenze durch zwei menschliche Wesen – Männer. Normalerweise wäre das die einzige Information gewesen, die mir der Schutzzauber übermitteln konnte. Da ich diese beiden Männer jedoch so gut kannte, wusste ich durch die Schwingungen im Zauber – wie ein Gefühl, das mitgetragen wurde – sofort, dass es sich dabei um meine Ziehbrüder, die Zwillinge Jayden und Julian, handelte. Diese Tatsache ließ mich endgültig hochschrecken. Die beiden besaßen einen Schlüssel für mein Haus und würden jeden Moment hereinschneien, ohne auch nur einen Gedanken an meine Privatsphäre zu verschwenden.
Ich wollte mir ihre Kommentare gar nicht vorstellen, wenn sie mich hier Trübsal blasend wie ein Häufchen Elend vorfanden – noch dazu mit einem alten Shirt, in das ich meine Nase vergraben hatte und das nicht mir gehörte. Vermutlich würden sie mir das ewig vorhalten. Außerdem waren sie furchtbar neugierig wie Waschweiber und würden mir die Ohren abkauen, um zu erfahren, was mit mir los war. Aber ich wollte nicht reden. Nicht über die Geschehnisse in Tschechien und auch nicht darüber, dass wir nicht blutsverwandt waren, sie aber im Herzen stets Brüder für mich sein würden.
Vor einigen Monaten hatte ich durch Zufall herausgefunden, dass mein an Alzheimer erkrankter Dad nicht mein leiblicher Vater ist. Zuerst hatte es mich erschüttert, anschließend hatte ich es hingenommen. Etwas anderes blieb mir auch nicht übrig. Die fehlende Blutsverwandtschaft änderte nichts an unserem Zugehörigkeitsgefühl und war somit fast Schnee von gestern.
Mit Onkel Héctor hatte ich mich wieder zusammengerauft, auch, wenn es nicht mehr ganz so war wie zuvor, weil er mir die Wahrheit so lange Zeit verschwiegen hatte. Den Schmerz, der bei dem Gedanken manchmal aufwallte, schluckte ich gekonnt hinunter. Da meine Mutter von übernatürlichen Monstern getötet worden war, als ich sechs gewesen war, wusste ich nun so gut wie nichts über meine Wurzeln. Dad zu fragen brachte nichts. Dreimal hatte ich ihn seitdem im Heim besucht und ihn zur Vergangenheit befragt, war aber nie durch den Schleier seiner Krankheit durchgedrungen. Ich hätte gern ein paar Antworten auf meine Fragen bekommen: Wie hatten sie sich kennengelernt? Wie alt war ich damals gewesen? Wusste er etwas über meinen leiblichen Vater? Gab es noch andere Verwandte?
Natürlich würde ich mich nicht auf der Stelle auf die Suche nach ihnen machen und hier alles zurücklassen, da ich mich in meiner Heimat Montreal wohlfühlte, aber neugierig durfte man doch wohl sein. Theoretisch hätte ich Héctor darauf ansetzen können, da er in seiner Freizeit – während andere Pensionisten Blumenbeete pflegten oder Bingo spielten – lieber Computersysteme hackte. Irgendetwas hielt mich zurück. Eine Angst, die ich nicht benennen konnte, als sei ich noch nicht bereit, zu erfahren, was dabei womöglich aufgedeckt werden konnte. Jedoch musste ich langsam die ersten Schritte tun, ob ich wollte oder nicht. Ich war sicherlich kein Mensch, der vor etwas kniff – zumindest nicht zu lange.
Deswegen hatte ich Onkel Héctor vor wenigen Tagen darauf angesprochen, als ich bei ihnen zu Hause gewesen war und die Zwillinge in der Werkstatt weltbewegende neue technische Errungenschaften erforscht hatten – ihre Worte, nicht meine. Wahrscheinlicher war, dass sie Blödsinn gemacht hatten. Jedoch war es gut gewesen, Héctor allein zu erwischen. Er hatte mit einer Tasse Tee und seinem liebsten Spielzeug, seinem Inn∞Cube, am Esstisch gesessen, und seine Finger waren mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Holo-Tastatur getanzt, um im Inn∞Net herumzustöbern. Seine dunklen Augen hatten neugierig zu mir aufgeblickt, aber sein Gesicht war sofort etwas bleicher geworden, nachdem ich ihn ausführlich zu Mum und Dad befragt hatte. Anstatt mich zu erleuchten, hatte er nur bedauernd den Kopf geschüttelt.
Ich konnte mich trotz der paar Tage, die seitdem vergangen waren, noch ganz genau an die Enttäuschung bei seinen Worten erinnern, als wäre es gerade eben passiert.
»Tut mir leid, Kleines. Ich werde dir keine große Hilfe sein. Ich weiß nicht viel mehr als du.«
Das glaube ich kaum, war es mir durch den Kopf geschossen und ich hatte die Stirn gerunzelt, als ich mich neben ihn auf einen Stuhl plumpsen hatte lassen. Für Héctor Anzeichen genug, meinen Unglauben zu erkennen und mit mehr Details herauszurücken.
»Ich bin nicht stolz darauf. Ehrlich nicht. Aber nach dem Auftrag, bei dem dein Vater deine Mutter gerettet hat und danach ein Leben mit ihr aufbauen wollte, haben wir uns aus den Augen verloren. Ich habe sie nur einmal kurz kennengelernt. Außerdem hat er mich schwören lassen, ihr nicht hinterherzuschnüffeln. Raúl wurde nach diesem Auftrag etwas paranoid und hatte Angst, mein Rechner könnte gehackt werden.«
Halb belustigt, halb traurig schüttelte Héctor den Kopf, als konnte er nicht glauben, je einen derartigen Zweifel bei meinem Dad ausgelöst zu haben. Oder lag es an etwas anderem? Ich tippte ganz eindeutig auf Letzteres.
»Wie meinst du, aus den Augen verloren?«, fragte ich daher schnell und verschränkte die Arme vor der Brust, ließ sie aber rasch sinken, als ich meine eigene Abwehrhaltung bemerkte. Ich wollte mich wieder mit Héctor vertragen, die Barriere zwischen uns in Luft auflösen. Aber egal, wie sehr man manches wollte, oftmals konnte man nichts erzwingen, sondern nur der Zeit die Heilung des Bruches überlassen. Genauso wie hier. Statt also wie ein Kleinkind mit den Füßen aufzustampfen, biss ich mir auf die Zunge und forderte ihn mit meinem Blick auf – der Gold wert war und dem nur die wenigsten trotzen konnten – weiterzuerzählen.
Er knetete seine Finger, seufzte tief. Ein Bild der Unruhe, das mich erst recht verrückt machte, bis er mich endlich erlöste.
»Wir hatten einen riesigen Krach und danach nicht mehr miteinander geredet, bis zu dem Tag, an dem deine Mutter gestorben ist und er hilfesuchend zu mir kam, um dich für einige Zeit bei uns abzugeben. Dass er danach nie wieder derselbe war, muss ich dir nicht erzählen.«
Ich schüttelte den Kopf und schluckte den dicken Kloß, der sich bei seinen Worten in meiner Kehle verkeilt hatte, hinunter. Mit einem Schlag war damals alles anders, für immer fort gewesen: Die gemeinsamen Abendspaziergänge, bei denen er mir die Lehre der Sterne beibrachte und unerlaubt Geschichten von den Monstern erzählte, sofern Mum nicht da war, um ihm deswegen die Ohren lang zu ziehen. Die urigen Filmabende mit Retro-Filmen und -Serien, die wohl kein Kind sehen durfte, aber die Dad mir nie hatte abschlagen können. All die lustigen Spiele, die er sich extra für mich ausgedacht hatte, wenn wir unser Fort aus Decken und Kissen rund um das Sofa bauten. Oder die schönen Momente, wenn er für mich oder meine Mum gesungen hatte. Vielleicht nicht wie der beste Sänger, aber mit so viel Herz, das er mich stets mit einem bewundernden Lächeln zu ihm hatte aufsehen lassen. Er war mein Held gewesen.
Ohne mir etwas von meinen Gefühlen anmerken zu lassen, bohrte ich weiter, denn meine Fragen waren nicht weniger geworden. Im Gegenteil. »Aber ich kenne dich und die Jungs schon immer. Wie kann es dann sein, dass du Mum nur einmal kurz getroffen hast?«
Sichtlich traurig griff Onkel Héctor nach meiner Hand. Seine Stärke, seine Wärme umhüllten meine klammen Finger, die während seiner Erzählungen ganz kalt geworden waren.
»Du standest genauso unter Schock wie dein Vater. Es ist nicht verwunderlich, dass du dich nicht mehr an alles erinnerst oder Zeiten durcheinanderbringst.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich beinahe tonlos.
»Du bist erst mit etwa sechs zu uns gekommen, Kleines. Und ja, du warst sofort ein Teil unserer Familie, doch zuvor hast du die Jungs nicht gekannt, mich genauso wenig.«
Auf der Stelle durchforstete ich mein Gehirn, um diese Behauptung zu überprüfen. Drehte, wendete und versuchte mich, so gut es ging, an meine frühere Kindheit zu erinnern, aber so sehr ich mich anstrengte, da war nichts. Sie war vor allem durch die Momente mit meinem Dad oder meiner Mum geprägt. Hätte ich bisher geschworen, auch Episoden mit Julian, Jayden und Héctor vorzufinden, so war das nun plötzlich nicht mehr möglich. Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. Ich konnte nichts finden, er musste recht haben – er würde mich kein weiteres Mal anlügen oder mir etwas verschweigen, das wusste ich.
»Warum hattet ihr Streit?«
Langsam ließ Onkel Héctor meine Hand wieder los, strich sich über den Kopf, wodurch sein schwarz meliertes Haar an einigen Stellen wild zu Berge stand. Erst, als er sich zurücklehnte, sah er zu mir hoch, wirkte plötzlich um Jahre gealtert. Ich hielt gebannt den Atem an.
»Du bist schon jahrelang ein Mitglied der Jägergilde, du kennst die Regeln. Weißt, was wichtig ist«, begann er, und ich nickte wie ein Wackeldackel, obwohl er mich nicht ansah, sondern sein Blick in die Ferne glitt. In eine andere Zeit.
»Ich weiß das, und dein Dad wusste es auch. Aber als er deine Mum kennenlernte, sie und ihr Kind – dich – bei einer Mission rettete, warf er auf einmal alle Regeln über Bord. Er verliebte sich auf der Stelle in sie, wollte bei ihr bleiben. Ein Leben mit ihr aufbauen. Du weißt, wie wir sind. Wir lassen uns nicht auf Menschen ein, die mit unseren Aufträgen zu tun haben, wir arbeiten im Geheimen. Das ist unser Leben, und da holen wir keine Fremden hinein. Es ist zu gefährlich.«
Ich wusste nur zu gut, wovon er sprach. Erneut nickte ich etwas geistesabwesend. Einerseits wegen meiner Sehnsucht nach Matej, und andererseits aufgrund meines schlechten Gewissens, da ich genau diese Regel ein wenig gedehnt hatte, obwohl mir das alles längst eingebläut worden war. Sehr, sehr gut sogar.
»Jedenfalls habe ich ihn vor die Wahl gestellt. Sein Leben als Jäger hinzuschmeißen und mit der Frau zu verschwinden oder sie gehen zu lassen und zu uns zurückzukommen. Du kennst seine Wahl. Ich dachte nie, dass er wirklich gehen würde. Oder dass er danach deiner Mutter alles zeigen, ihr all sein Wissen beibringen würde. Sie sogar ausbildet und dich mit hineinzieht. Es tut mir so leid, so hätte es nicht ausgehen sollen.«
Nun war ich diejenige, die ihm tröstend eine Hand auf den Arm legte, obwohl mir die Berührung vermutlich genauso viel Trost spendete.
»Das muss es nicht. Geschehen ist geschehen, man kann es nicht rückgängig machen. Gib dir nicht die Schuld an etwas, für das du nichts kannst. Er war erwachsen. Er wusste, was er tat.«
»Und wenn doch? Wenn ich ihn nicht vor die Wahl gestellt hätte? Wenn ihr bei uns geblieben wärt? Vielleicht würde deine Mutter noch leben, vielleicht wäre dein Dad noch der Alte.«
Entschieden schüttelte ich den Kopf. »Er hat Alzheimer. So eine Krankheit kann niemand auslösen.«
Fast schon unwirsch redete sich Onkel Héctor in Rage. »Das glaube ich nicht. Wir sind mit mehr Magie gesegnet, wir sind stärker, robuster als Menschen mit weniger Magie. Weniger oft krank, wir heilen schneller. Wir bekommen keinen Krebs und ich bin mir sicher, dass wir auch kein Alzheimer bekommen – die starke Magie schützt uns vor solchen Erkrankungen. Warum also sollte es gerade deinen Dad erwischen? Ich glaube nicht an einen unglücklichen medizinischen Zufall. Ich glaube, dass ihn der Verlust deiner Mutter in eine Art Wahnsinn, in eine geistig abgeschirmte Welt getrieben hat, um vor dem Schmerz zu flüchten … Es hätte alles anders ausgehen können. Ich hätte für ihn da sein sollen … Ich …«
Zuerst war er noch laut und aufbrausend, dann stetig leiser, bis seine Stimme schließlich vollkommen brach. Er senkte den schmerzerfüllten Blick auf seine geballten Fäuste auf dem Tisch, als könnte er sie allein dadurch wieder öffnen. Seine Argumente machten Sinn. Sie machten verdammt viel Sinn, doch daran konnte ich nicht denken. Wollte ich auch gar nicht, denn sonst würde ich daran zerbrechen. Trotz meiner Trauer über die verspielten Was-wäre-Wenns klang meine Stimme sanfter und fester, als ich gedacht hätte. »Nein, lass es sein, Héctor. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen. Es ist, wie es ist. Dafür haben wir uns und wir halten wie Pech und Schwefel zusammen. Das ist mehr, als andere von sich behaupten können.«
Das Leben war nicht perfekt, ich hätte vieles daran geändert. Aber warum sich um etwas Gedanken machen oder das Herz zerbrechen lassen, das man nicht ändern konnte, anstatt sich an den Dingen zu erfreuen, die man hatte?
Keine Ahnung, warum ich diesen Lebensratgeber plötzlich aus dem Ärmel schüttelte, denn ansonsten war ich so dunkel wie meine Lederklamotten. Héctors traurig blickende Augen und sein Kummer brachten mich dazu, alles zu versuchen, damit es ihm besser ging. Und sei es auch nur mit ein paar weisen Sprüchen.
»Ich weiß, dennoch wünsche ich es mir oft. Weißt du, das ist die eine Sache, die ich in meinem ganzen Leben am meisten bereue. Nicht die Trennung von meiner Frau. Nein, wir haben uns einfach nicht mehr geliebt, sind nun gute Freunde. Sondern genau dieses eine: Deinem Dad nicht die Freiheit gegeben zu haben, sein Leben, so wie er wollte, mit deiner Mum zu führen. Ihn nicht unterstützt zu haben, auch, wenn ich nicht damit einverstanden war. Ich war stur, selbstgerecht, und wir alle haben dafür bezahlt.«
Nun schluckte ich, musste mich zusammenreißen, um mich von seiner Traurigkeit, die, seit ich Kind war, ebenfalls fest in meinem Herzen schlummerte, nicht hinunterziehen zu lassen. Daher wandte ich ein paar dieser weisen Sprüche an, die mir vorhin durch den Kopf gegangen waren, und siehe da, er lächelte. Wobei ich nicht wusste, ob sie ihm wirklich halfen oder er nur lächelte, um mich zu beruhigen.
Erst danach war ich aufgestanden, um zu den Zwillingen zu gehen. Es war alles gesagt worden, und nun hatte ich ein kleines Puzzlestück mehr von damals gefunden, das ich horten und für später bewahren würde. Der Rest würde sich finden.