Rabenaas

Rabenaas

Wie man die Schatten fängt

Sarah Adler

Für alle,

die sich damals so energisch darüber beschwert haben,

dass mein erstes Buch nicht ihnen,

sondern meinem Hund gewidmet wurde.


Und natürlich für Ernie – den besten Hund, den es gibt.

Inhalt

0 - Corax

1 - Fionagh

2 - Mirembe

3 - Carl

4 - Geist

5 - Nix

6 - Alesander

7 - Sia

8 - Jamie

9 - Carl

10 - Nix

11 - Sia

12 - Fionagh

13 - Mirembe

13 - Teil 2

12 - Geist

11 - Mirembe

10 - Sia

9 - Fionagh

8 - Carl

7 - Nix

6 - Fionagh

5 - Mirembe

4 - Corax

3 - Fionagh

2 - Jamie

1 - Sia

0 - Corax

Glossar

Danke …

Über die Autorin

Bücher von Sarah Adler

0 - Corax

Das Unglück folgt Corax wie ein Schatten, wohin auch immer er geht. Auf samtweichen Pfoten.

Es gibt viele Schatten in den Millionen von Universen da draußen. Große, finstere Schatten grollender Gewitterwolken, die von kalten Stürmen zerfressen werden. Die schnellen, vom Wasser gebrochenen Schatten kleiner Fische. Schatten ohne Anfang und Ende – Schatten, die so scharf vom Licht umrissen sind, dass einem die Augen davon schmerzen.

In seinem Fall ist es ein ganz besonders dunkler Schatten.

Die Sonne überflutet den Platz wie Wasser, das über die Ränder einer Schüssel quillt. Die runden Tische glänzen unter den gefüllten Tellern und Tassen, Gläsern und den Dingern, die man benutzt, um Essen aufzuspießen und es sich in den Mund zu stecken. Er wird nie verstehen, wozu man so etwas Starres, Unbewegliches braucht, wenn es mit den Fingern doch viel besser geht.

Corax lauert im Halbverborgenen und tritt unruhig von einem Bein auf das andere. Er hat einen Grund, hier zu sein, heute, an diesem sonnigen Tag, an dem die Welt noch nicht in Stücke zersprungen ist: Er ist auf einer Mission. Es wird nicht einfach sein, aber das Loch in seinem Magen treibt ihn voran, und wenn er sich vorstellt, wie das süße Gebäck auf seiner Zunge zergeht, wird ihm ganz anders vor Hunger.

Corax ist hergekommen, um einen Keks zu ergattern.

Oh je, oh je. Die vielen, vielen Weisen, in denen so ein Versuch schiefgehen kann. Er hat sie alle erlebt. Wenn man es nüchtern betrachtet, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste: Er bekommt einen Keks. Die zweite: Der Tag endet in einem Blutbad. Entweder er bekommt einen Keks oder er bekommt eine Katastrophe. Das ist das Schlimme an der Sache – Corax will eigentlich keine weitere Katastrophe. Er will nur einen Keks. Und für einen Keks muss man tun, was man für einen Keks tun muss.

Manchmal gehen die Dinge weniger schlimm aus. Manchmal sind die Tage voller Glück, das die Verheerung zur Seite drängt wie ein behäbiges Tier, das durchs hohe Gras schreitet und die Halme an sich abprallen lässt.

Er hofft, dass heute einer dieser Tage ist.

Als er aus den Schatten tritt, das Herz voller kribbelnder Hoffnungen, lachen die Leute. Sie wissen nicht, was sie von ihm halten sollen, das spürt er. Sie sehen in ihm nur die endlose Schwärze der Nacht, zusammengedrängt in einem kleinen, merkwürdig geformten Körper. Aber daran hat er sich gewöhnt, und er ist gut darin geworden, Tonlagen zu verstehen. Manche von ihnen halten ihn für niedlich, das passiert ab und zu. Andere halten ihn für seltsam und lachen nur, damit sie etwas zu tun haben. Aber die meisten haben Angst. Corax findet es besser, wenn sie denken, dass er niedlich ist, denn es ist ein gutes Gefühl. Glaubt er. Zudem erhöht es die Chance auf Kekse.

Vorsichtig sieht er sich um. Sein Bild spiegelt sich in den bauchigen Gläsern, so unheimlich und fremdartig wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Er kann nicht sauer sein, dass das Mädchen mit der sumpfgrauen Haut ihn aus misstrauischen Mondaugen betrachtet und seinen Teller näher an sich heranzieht. Vielleicht spürt es seinen Hunger. Er kann auch nicht sauer sein, dass der Junge mit dem Stachelhaar einen Stein nach ihm wirft, mit einem Lachen, das scharfkantig wie eine Scherbe ist. Es hat schon immer Jungen gegeben, die gerne Vögel jagen. Es wird immer Jungen geben, die gern mit Steinen schmeißen. Die Ausgewachsenen schütteln mit den Köpfen und geben kleine, missbilligende Laute von sich, aber sie rufen ihn nicht zurück. Das sagt alles. Vorsichtig wagt Corax sich weiter vor in das gleißende Sonnenlicht, in dem das Silberbesteck so verlockend glitzert, dass nur sein Hunger ihn davon abhalten kann, sich aus lauter Gier auf Glanz und Glimmer darauf zu stürzen. Das Kichern und Tuscheln wird lauter, als die Zuschauenden sehen, wie ruckartig und unsicher er sich bewegt. Es wächst an wie eine Welle und drängt ihn immer weiter auf die dünne Klinge zu, die tief in ihm wohnt und nach der es kein Zurück mehr gibt. Er kann die Katastrophe schon auf den Lippen schmecken – vielleicht ist es besser, wenn er wieder geht. Dann hat er sich eben getäuscht, als er dachte, dass heute ein Kekstag ist.

Aber dann passiert es. Eine Frau mit leuchtend rotem Haar, durch mehrere lachende, glotzende Tische von ihm getrennt, hebt die Hand und wackelt einladend mit den Fingern. Corax kennt die Geste. Sie bedeutet: Komm doch näher und hol dir einen Keks. Die Tasse der Bluthaarigen ist randvoll mit schaumiger Milch. Auf dem weichen, mit kleinen Schnörkeln verzierten Stück Papier, das man benutzt, wenn beim Aufspießen der Nahrung etwas schiefgegangen ist, liegt er. Er zieht Corax’ Blick an wie eine Kerze den Falter – der perfekte, runde, goldgelbe Keks mit dem roten Klecks Marmelade in der Mitte.

Rotes Haar. Rote Marmelade.

Corax zögert nicht lange. Jeder, der klar denken kann, weiß, dass man sich nicht zweimal bitten lassen darf, wenn es um Kekse geht. Und er mag die Farbe Rot. Sie ist ein gutes Zeichen.

Mit drei, vier flachen Hüpfern nähert er sich dem Tisch der Fremden (hier schreien einige der Leute erschrocken auf, und das Geräusch ist wie kleine Speere, die in einen Teich gestoßen werden) und duckt sich neben den Stuhl, bis Ruhe eingetreten ist. Dann legt er behutsam, ganz sachte nur, die Fingerspitzen auf die Tischkante und richtet sich vorsichtig auf. Er hat Pflanzen gesehen, die sich der Sonne entgegentasten, und genau so fühlt er sich in diesem Moment. Er will die Bluthaarige nicht erschrecken.

Er will sich selbst nicht erschrecken.

Schlimme Dinge passieren, wenn Corax erschrickt.

Er reckt den Hals, legt nachdenklich das Kinn auf den Tisch und schenkt der Frau ein Lächeln, wie es ihm seit Langem nicht mehr auf die Lippen gekommen ist – breit und sorglos, nur für diesen einen Moment, in dem der Keks in der Sonne strahlt wie ein Versprechen. Kekse machen alles möglich. Zögerlich streckt die Bluthaarige die Hand aus, und Corax läuft das Wasser im Mund zusammen, als er auf die leuchtende Marmeladeninsel starrt, gefangen in einem Meer aus süßem Teig


und die Hölle bricht herein, laut und schmerzhaft. Der Jäger wirft sich auf ihn, Tische und Stühle und Gäste von den Beinen fegend, und Corax’ Welt ertrinkt in dem Brodeln seines Zorns. Wie hat er ihn gefunden? Die Frage hat keinen Zweck, denn sie duckt sich furchtsam unter den Fäusten, die ihm in die Seite gestoßen werden. Es ist nicht wichtig, wie der Jäger ihn gefunden hat – der Jäger findet ihn immer. Und er ist gekommen, um ihn zu töten.


Da. Er hat doch gesagt, es gibt eine Katastrophe.


Später wird er sich daran erinnern, wie die Bluthaarige entsetzt aufspringt und zur Seite hechtet, als es passiert. Wie ihr rotes Haar von ihrem Kopf rutscht und in einem eleganten Bogen durch die Luft segelt. Es breitet sich aus wie die Fangarme einer sonnenuntergangsfarbenen Qualle und dreht sich mühelos um die eigene Achse. Und landet auf dem Tablett eines schimpfenden Kellners. Später wird er sich daran erinnern, dass ihr Haar unter der Perücke rabenschwarz ist, wie er selbst.

Schwarzes Haar.

Schwarzer Rabe.

Es wäre ein gutes Zeichen gewesen.

Später, wenn er nicht länger mit dem Gesicht voran zu Boden gepresst wird, während dumpfe, hasserfüllte Schläge auf seinen Rücken prasseln wie Hagel, wird er darüber lachen.