Living Legends

Living Legends

Des Todes Sünden

Maja Köllinger

Drachenmond Verlag

Für alle,

die anderen Menschen ein Licht schenken,

obwohl sie sich selbst in tiefster

Finsternis befinden.

»Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.«

Konfuzius

Inhalt

Teil I

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil III

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Danksagung

Teil I

Prolog

Unser ewiger Begleiter

Lynn

Ich kann es nicht fassen …

Nicht begreifen …

Nicht erklären.


Nic ist fort. Er wird nie wieder bei mir sein. Sein Blick wird niemals wieder den meinen treffen. Seine Hände werden mich nie wieder berühren können. Sein Herz wird bis in alle Ewigkeit verstummt bleiben.

Und ich kann nichts dagegen tun.

Sein Tod hat ein Loch in mein Innerstes gerissen, dessen Ränder sich immer weiter ausweiten und drohen, alles von mir zu verschlingen.

Ich würde ohne zu zögern seinen Platz einnehmen. Um Nic zu retten, würde ich jederzeit meine eigene Existenz aufgeben, denn ein Leben ohne Nic ist für mich nicht lebenswert. Ich war noch nie ohne ihn, musste noch nie seine Abwesenheit ertragen.


Wie soll ich das jemals verkraften?


Es muss einfach einen Weg geben, um ihn zurückzuholen. Es muss.

Eine andere Möglichkeit kann ich nicht zulassen.

Mein Gedankenkarussell dreht sich und dreht sich und dreht sich …

Ein Leben ohne Nic scheint mir so fern wie ein anderes Universum.

Dabei bin ich in diesem Augenblick bereits allein.

Ganz allein.

Da sind nur ich und dieses endlose Nichts, das mich von innen heraus zu verschlingen droht.

In meiner dunkelsten Stunde gebe ich dir ein Versprechen.

»Ich werde dich retten, Nic. Selbst wenn es mich alles kosten wird.«

Kapitel 1

Alte Freunde

Lynn

Nics Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine bläuliche Aura, die Kälte seiner verlorenen Seele, die auf meiner Haut brannte. Je weiter ich mich von ihm entfernte, desto schlimmer wurden meine Gewissensbisse.

Ich habe ihn sterben lassen.

Es ist meine Schuld.

Einzig und allein meine Schuld.

Ein Schluchzen schlich sich aus meinem Mund und durchbrach die Stille der frühen Morgenstunden. Ich hatte meinen Partner im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Das würde ich mir nie verzeihen können.

Ich hatte mehrere Meter Abstand zwischen mich und die Leiche gebracht, mit der festen Absicht, zu gehen. Doch jeder Schritt ließ das Gefühl des Verrats in mir auflodern wie ein Feuer, das in meinem Inneren brannte. Ich konnte und wollte Nic nicht allein lassen. Noch nicht.

Ich war bereits an einer Brücke angelangt, als ich mich umentschied. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Doch was ich entdeckte, ließ mich einen Moment lang vor Schock erstarren. Am Boden lag der tote Körper meines Freundes. Blut sammelte sich in einer großen Lache unter ihm und verteilte sich in winzigen Rinnsalen über das Kopfsteinpflaster. Ich mied den Anblick der Verletzungen und Wunden, die ihm der marmorne Löwe zugefügt hatte. Stattdessen beobachtete ich die fast transparente Gestalt, die sich über den leblosen Körper beugte und Nic wie ein Spiegelbild glich. Die verlorene Seele meines einstigen Schützlings wirkte neugierig, nicht abgeschreckt. Ich glaubte, dass er nicht verstand, dass es sein Körper war, der dort zerschmettert am Boden lag.

Ich schluckte schwer.

Der stechende Schmerz in meinem Brustkorb wurde immer stärker. Als würde sich eine Hand um meinen Oberkörper schließen und zudrücken. Ich spürte den enormen Druck, unter dem meine Rippen zu brechen drohten, und fühlte das unregelmäßige Pulsieren meines Herzens.

Ich wollte etwas sagen, irgendetwas. Ich wollte Nic Trost spenden. Ich wollte für ihn da sein.

Doch ich wusste nicht wie.

Ich brauche Hilfe …

Dieses Eingeständnis riss mir zusätzlich den Boden unter den Füßen weg. Noch nie in meinem Leben hatte ich Hilfe von anderen angenommen, abgesehen von Nic. Obwohl ich in einer menschlichen Hülle feststeckte, besaß ich immer noch das Wesen eines Schutzgeistes. Ich wollte keine Hilfe annehmen, sondern selbst helfen.

Erst jetzt wurde mir klar, dass es genau diese Sturheit war, die mir meine Probleme eingebrockt und Nic das Leben gekostet hatte. Wenn es mir nur irgendwie möglich war, ihn von seinem Leiden zu erlösen, so musste ich dennoch zurück an meine Kräfte gelangen. Ohne Unterstützung würde mir das niemals gelingen.

Ich atmete tief durch und wollte mich gerade wieder abwenden, als ich plötzlich ein seltsames Flackern direkt neben der verlorenen Seele bemerkte.

Das Flackern glich einer Art Bildstörung in der Welt. Als würde plötzlich die Luft anfangen, sich mit schnellen, kleinen Bewegungen zu verschieben. Das seltsame Flackern offenbarte zunächst nicht mehr als einen dunkel anmutenden Schatten.

Aus dem Schatten wurde schwarzer, fließender Stoff. Dieser wiederum formte eine bodenlange Robe. Ich wagte kaum zu atmen und hielt gespannt inne. Von diesem Wesen ging eine ganz andere Energie aus als von den Dämonen und Fra Mauro. Es war keine böse Gestalt, das ahnte ich bereits. Die Art und Weise, wie sich das Wesen formierte, wie es sich aus den Schatten der Umgebung schälte und wie es friedlich an einem Ort der Gewalt und Zerstörung verharrte, strahlte eine unfassbare Ruhe auf mich aus.

Ohne es wirklich wahrzunehmen, trat ich wieder näher an das Geschehen heran. Nics verlorene Seele hatte das Auftauchen der fremden Macht inzwischen auch bemerkt und sich dem lebendigen Schatten zugewandt.

Je näher ich an die beiden herantrat, desto mehr Details erkannte ich. Es war tatsächlich eine Robe, die den Fremden einhüllte. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen, darunter war ungesund bleiche Haut zu sehen.

Die Gestalt schien darauf zu warten, dass ich näher herantrat. Sobald ich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt war, positionierte ich mich so, dass ich mit dem Rücken zu Nics Leiche stand. Ich ertrug den Anblick einfach nicht. In meinen Augen sammelten sich erneut Tränen, die ich eilig hinfort wischte. Diese Schwäche wollte ich mir nicht eingestehen. Nicht, solange Nics Seele sich immer noch hier aufhielt. Es war noch nicht vorbei. Ich weigerte mich, jetzt schon aufzugeben.

»So sehen wir uns also wieder«, sprach plötzlich die Gestalt. Die Aura des Wesens kam mir nur allzu bekannt vor. Als es dann noch die Kapuze ergriff und sie nach hinten zog, war ich mir sicher.

Ich hätte es wissen müssen.

Die bleiche Haut, das schwarze Gewand. Und nun offenbarte der Fremde seinen kahlen Kopf und stechend gelbe Augen. Selbst wenn ich gestorben und wiedergeboren worden wäre, hätte ich dieses Gesicht vermutlich überall wiedererkannt. Allerdings wusste ich nicht, ob ich froh darüber sein sollte, ihn so schnell wiederzusehen. Er war mit einer der Gründe, warum ich mich schließlich auf den Kampf mit Fra Mauro eingelassen hatte.

»Fährmann«, hauchte ich tonlos und blinzelte verblüfft. Sein Anblick erinnerte mich an jene Mittsommernacht, in der wir das erste Mal gegen Fra Mauro gekämpft hatten und ich meine Kräfte einbüßen musste. So viel war in dieser Nacht schiefgelaufen. Und trotzdem hatten wir gesiegt. Nicht zuletzt dank der Hilfe des Fährmanns. »Was tust du hier?« Meine Frage klang harscher als beabsichtigt. Insgeheim freute ich mich, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das uns nicht den Tod wünschte. Dennoch konnte die Gegenwart eines Wesens, das für die Aufbewahrung und den Transport von Seelen zuständig war, nichts Gutes verheißen.

Ist er wegen Nic hier?

Mein Blick streifte die verlorene Seele, die zwei Schritte von mir entfernt stand. Die geisterhafte Kälte verursachte bei mir Gänsehaut. Unauffällig versuchte ich meine Arme mit meinen Händen zu rubbeln, um Wärme zu erzeugen. Vergebens. Die eisige Aura meines ehemaligen Freundes hatte sich bereits in mein Herz gefressen und pumpte nun flüssige Kälte durch meinen gesamten Körper. Sie sickerte in meine Knochen und ließ mich von innen heraus erstarren.

Ich halte das nicht aus. Ich muss etwas dagegen tun. So schnell wie möglich.

Der Fährmann ließ seinen prüfenden Blick über mich gleiten, nur um schließlich Nic zu fokussieren. Er starrte direkt durch die verlorene Seele hindurch, auf den leblosen Körper meines Schützlings.

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte der Fährmann. Seine Stimme wirkte heiser und glich einem Röcheln. »Er ist der Grund, warum ich gekommen bin.«

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, begann ich zu zittern.

Nein.

Nein.

Nein.

Er darf Nic nicht mitnehmen!

»Seine Seele ist nun bereit, in die ewigen Gefilde überzugehen«, eröffnete er mir.

Aber ich bin es nicht!

»Nein. Nein, du kannst ihn noch nicht mitnehmen«, stotterte ich. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Mir wurde schwindelig und übel. Die Beine drohten mir unter dem Körper wegzuknicken, so sehr bebten sie plötzlich. »Das kannst du nicht machen.«

»Ich kann und ich werde. Schließlich ist das meine Berufung.«

Verzweiflung packte mich und legte meinen Verstand lahm. Nach allem, was der Fährmann und wir miteinander durchgemacht hatten, konnte er uns doch nicht einfach mit solch einer Nüchternheit behandeln. Er hatte uns schon mehrmals geholfen. Nur noch ein Mal … er musste uns nur noch ein Mal helfen. Und wenn er sich dazu nicht bereit erklärte, dann musste ich eben zu anderen Mitteln greifen.

»Nein! Das lasse ich nicht zu!« Ich griff nach meinem Dolch, wollte ihn zücken und gegen den Fährmann richten. Doch die Waffe befand sich nicht länger in ihrer Scheide. Sie musste während des Kampfes gegen Fra Mauro verloren gegangen sein.

Aber sie hätte bestimmt sowieso nichts gegen dieses Wesen ausrichten können.

Der Funke Kampfgeist in meinem Inneren erlosch genauso schnell, wie er aufgeflammt war. Denn erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich absolut nichts gegen den Fährmann tun konnte. Wenn er Nics Seele an sich nehmen wollte, dann konnte er das tun; ob mir das gefiel oder nicht, spielte dabei keine Rolle.

Ich schluchzte und rieb mir erneut über die Wangen, um die Tränen­spuren zu beseitigen. In meinen Gedanken versuchte ich irgendeinen Weg zu finden, der mich und Nic aus dieser Situation retten würde. Doch alles war aussichtslos. Jeder Strohhalm, an den ich mich klammerte, stellte sich als brüchig und unsicher heraus.

Nichts und niemand konnte mir jetzt noch helfen.

»Ich kann ihn noch nicht gehen lassen«, gab ich leise zu und vermied es, dem Fährmann in die Augen zu schauen. Ich spürte auch so seinen stechenden Blick auf mir.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch nicht so schwach«, sagte er plötzlich. Ich dachte an unsere letzte Begegnung zurück, bei der er mir mitgeteilt hatte, dass er sich um das »Problem« kümmern würde. Den Herzreißer.

Damals war ich entschlossener. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht gewusst, was ich alles verlieren könnte.

»Der Kampf gegen Fra Mauro hat alles verändert.« Meine Stimme bebte verräterisch, trotzdem versuchte ich, aufrecht zu stehen und mir nichts anmerken zu lassen.

»Du hast das Leben deines Schützlings riskiert? Um diese Stadt zu retten?« Der Fährmann klang ungläubig, als könne er nicht begreifen, dass so etwas überhaupt möglich war.

»Was wäre denn die Alternative gewesen? Noch mehr Menschen sterben zu lassen?« Inzwischen wusste ich es besser. Ich wäre nie hergekommen, wenn ich gewusst hätte, dass es Nic das Leben kosten würde.

»Nein. Ihr hättet fliehen können. Ihr hättet diesen Ort verlassen und nie wiederkehren können, egal was mit den Menschen hier geschieht. Aber ihr seid geblieben. Und habt gekämpft.«

Ich wandte mich Nic zu, dessen verlorene Seele Löcher in die Luft starrte und offenbar versuchte, unserer Unterhaltung zu folgen. Natürlich erinnerte er sich nicht an diese Ereignisse. Er hatte schließlich sein Gedächtnis verloren, sobald er in das Reich der Toten übergegangen war.

»Wenn Nic für sich sprechen könnte, würde er bestimmt dasselbe sagen«, fügte ich hinzu und wagte es schließlich doch, dem Fährmann in die Augen zu schauen.

Ich erkannte den Ausdruck in seinem Gesicht. Er war sich seines Vorhabens unsicher geworden.

»Gibt es keine Möglichkeit, ihn zurückzuholen? Er hat das hier nicht verdient. Nicht so früh.« Meine Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen. Ich beobachtete, wie mein Gegenüber die Stirn runzelte. »Ich würde alles tun, um ihn wieder bei den Lebenden zu wissen.«

»Tatsächlich?«, fragte er nun nach. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.

»Wovon sprecht ihr?«, unterbrach Nic uns. Er hatte große Schwierigkeiten, uns zu verstehen.

»Von deiner Zukunft«, erwiderte der Fährmann trocken.

Nic interessierte die Antwort gar nicht. Er zuckte mit den Schultern, als würde es ihn nicht scheren, was mit ihm geschah. Diese Tatsache verschlimmerte die Situation für mich nur umso mehr. Diese Gleichgültigkeit seinem eigenen Schicksal gegenüber ließ mich schaudern. Der echte Nic hätte niemals so reagiert.

»Du willst ihm also ein neues Leben schenken?«, hakte der Fährmann mit einem Blick in Nics Richtung nach.

»Ja.« Dieses winzige Wort lag so schwer wie Blei auf meiner Zunge.

»Hast du schon eine Ahnung, wie du das bewerkstelligen möchtest?«

Seufzend sah ich in Nics milchig weiße Augen. Beinahe vergaß ich zu antworten.

»Nein. Aber ich werde einen Weg finden. Dessen bin ich mir sicher.«

Der Fährmann nickte nachdenklich.

Was soll das hier werden?

Diese Unterhaltung führt doch zu nichts.

Sie wird Nic nicht zurückholen.

Ich schinde hier nur Zeit, um mich noch nicht verabschieden zu müssen.

Lange wird das nicht mehr funktionieren.

»Ich gebe dir fünfzehn Tage.«

Die dahingemurmelten Worte des Fährmanns ließen mich erstarren. Hatte er gerade das getan, wovon ich denke, dass er es getan hat?

»Was?«

»Ich gebe dir fünfzehn Tage, um einen Weg zu finden, deinen Schützling zu retten. Das bin ich euch schuldig, nachdem ihr euch für die Stadt und ihre Menschen aufgeopfert habt. Ich kann deinen Freund nicht zurück ins Reich der Lebenden überführen, aber ich kann den Prozess der Seelenwanderung ins Jenseits unterbinden oder verlangsamen.« Nach und nach wurde mir immer klarer, wovon mein alter Bekannter da gerade sprach. »Ich werde Nicolos Seele solange hier auf der Erde halten und sie vor den anderen Seelensammlern beschützen, die sie ins Jenseits bringen könnten. Dein Freund wird keine letzte Ruhe finden, solange du auf der Suche bist. Ich gebe dir fünfzehn Tage. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn du bis dahin keinen Weg gefunden hast, ihn zu retten, werde ich mich seiner Seele annehmen.«

Ich gab keinen Mucks von mir, aus Angst, dass der Fährmann seine Meinung noch ändern könnte.

»Mehr als fünfzehn Tage kann ich jedoch nicht verantworten. Obwohl dein Freund eines gewaltsamen Todes gestorben ist, hat er die Möglichkeit, den Weg ins Jenseits zu finden, auch ohne seinen Schutz­geist. Schließlich hätte er schon vor einer geraumen Weile sterben sollen.«

Als ich ihn aus dem Feuer gerettet habe.

Damals hat alles begonnen.

»Fünfzehn Tage«, flüsterte ich mehr zu mir selbst als zu den anderen. »Das schaffe ich.«

»Dann haben wir eine Abmachung.« Bevor ich auch nur ein weiteres Wort an ihn richten konnte, zerfaserte die dunkle Robe des Fährmanns in flüssige Schatten und seine Gestalt löste sich vor meinen Augen in Luft auf.

Habe ich gerade einen Pakt mit dem Tod geschlossen?

Kapitel 2

Gefunden

Lynn

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war ich wieder allein mit Nic. Genauer gesagt mit seinem leblosen Körper und seiner verlorenen Seele. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Auch dieses Mal konnte ich nicht einfach weggehen. Ich brachte es einfach nicht über mich, ihn allein zu lassen. Nics trübe Blicke wanderten über unsere Umgebung. Langsam begann er die Gegend zu erkunden und über den Boden zu schweben. Der Anblick von Nic als verlorene Seele ließ mein Herz zusammenkrampfen. Angestrengt versuchte ich den Kloß runterzuschlucken, der in meinem Hals entstanden war. Die Tränen in meinen Augenwinkeln blinzelte ich schnell weg.

Ich darf mir keine Schwäche erlauben.

Ich muss stark sein.

Für Nic.

Es war so surreal, ihn vor mir zu sehen und genau zu wissen, dass es nicht er war, der da vor mir schwebte. Zumindest nicht gänzlich.

»Was habe ich nur getan …«, flüsterte ich, doch niemand antwortete mir. Und so echote die Frage in meinem Inneren tausendfach wider.

»Oh mein Gott!«, erschallte plötzlich eine Stimme hinter mir. Sie war schrill und hoch. Eine Frau. Gleich darauf ertönten trippelnde Schritte. Ich spürte eine Berührung an meiner Schulter, als ich zu der Fremden herumgerissen wurde. Sie starrte mich verängstigt an. »Was ist hier geschehen? Wer ist das?« Sie deutete auf die Leiche neben ihr.

»Nic«, antwortete ich ihr, als sei das selbstverständlich. Meine Gedanken hingen immer noch seiner verlorenen Seele nach und wie ich sie retten sollte.

»Warst du das?«, fragte die Frau gleich darauf und ihr Griff um meinen Oberarm verstärkte sich wie bei einem Schraubstock.

Nun warf ich schließlich doch einen Blick auf Nics toten Körper. Seine verdrehten Glieder und die offene Wunde in seiner Brust ließen mich zu Stein erstarren. Die Selbstvorwürfe prasselten wie ein Regenschauer auf mich ein, als ich ihn so sah.

Ich hätte ihn beschützen müssen.

Das ist meine Aufgabe gewesen.

Es ist meine Schuld.

Dennoch schüttelte ich den Kopf als Antwort für die Frau.

»Ich habe versucht, ihn zu beschützen. Aber ich kam zu spät …« Meine Stimme klang rau. Jedes Wort kratzte in meinem Hals, als würde ein Monster von innen seine Klauen in meinen Rachen schlagen und meine Worte Lügen strafen. Dabei sagte ich die Wahrheit.

»Du armes Ding!« Augenblicklich verwandelte sich der feste Griff meines Gegenübers in eine Umarmung. »Du musst völlig trauma­tisiert sein!«

Auf diese Aussage erwiderte ich nichts. Mir fehlte einfach die Kraft dazu.

»Ich benachrichtige sofort die Polizei!« Die Frau ließ von mir ab und kramte ihr Handy hervor, um den Notruf zu wählen. Ich hätte weglaufen können und vielleicht hätte ich das tatsächlich tun sollen. Doch ich tat es nicht.

Ich wartete zusammen mit der Frau auf die Polizei. Währenddessen streichelte die Fremde beruhigend meinen Arm und murmelte immer wieder Floskeln vor sich hin, als würde das irgendetwas besser machen. Als würde das irgendetwas ändern. Stattdessen machte es das alles nur schlimmer.

»Es wird alles gut.«

Nichts wird jemals wieder gut sein.

»Hilfe kommt gleich.«

Ich brauche keine Hilfe.

Ich bin die, die helfen muss.

»Es dauert nicht mehr lange.«

Jede Sekunde, in der ich am Leben bin und er nicht, fühlt sich an wie eine Qual.

»Halte nur noch ein bisschen durch.«

Ich kann nicht mehr.

Ich kann nicht mehr.

Ich kann nicht mehr.

Doch ich muss stark sein.

Für Nic.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Beamten eintrafen. Sie schlenderten gemächlich auf uns zu, als wäre das hier ein entspannter Sonntagsspaziergang und kein Gewaltverbrechen. Als sie den Leichnam zu unseren Füßen sahen, verfinsterten sich jedoch ihre Mienen. Sofort wurden die Frau und ich mit Blicken attackiert, die voller falscher Vermutungen steckten. In ihren Augen war ich jetzt schon die Mörderin. Fall abgeschlossen.

»Ich habe das Mädchen hier stehen sehen und erst danach ist mir der junge Mann am Boden aufgefallen. Das kam mir seltsam vor, also habe ich mich genähert und dabei ist mir das ganze Blut ins Auge gesprungen …« Während die Fremde die Situation erklärte, lauschten die Beamten aufmerksam und machten sich Notizen. Ich stand daneben und kam mir vor, als wäre ich im falschen Film. Alles rauschte an mir vorbei, nichts betraf oder berührte mich. In meinem Kopf wiederholte sich immer und immer wieder die Szene von Nics gewaltsamen Tod.

Der Marmorlöwe hatte sich auf ihn gestürzt, die Fänge in seiner Haut vergraben und ihn zerfetzt. Bis er sein Herz im Maul hatte …

»Entschuldigen Sie!« Der Art und Weise, wie energisch mich die Beamten ansprachen, entnahm ich, dass sie nicht zum ersten Mal versuchten, meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Die Dame hier«, sie deuteten auf die Fremde, »hat behauptet, dass Sie das Opfer schützen wollten. Stimmt das?«

Ich nickte und beobachtete einen der Beamten, der sich gerade zu Nics Leiche hinabbeugte und seine Verletzungen inspizierte.

»Das Spezialteam wird gleich hier sein. Die Experten werden das hier besser beurteilen können. Für mich sieht das nach der Attacke eines wilden Tieres aus. Ein Mensch könnte niemals solche Verletzungen erzeugen.« Der am Boden knieende Beamte schaute zu mir hoch und runzelte die Stirn.

»Es war eine Raubkatze«, erwiderte ich ohne zu zögern. Die Worte kamen mir über die Lippen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. »Ich wusste nicht einmal, dass es hier in der Gegend welche gibt.«

»Ich auch nicht«, grummelte der Polizist. »Was geht nur in letzter Zeit in dieser Stadt vor sich?«

Offenbar dachte er an die Mordfälle, die der Geisterjunge verursacht hatte. Er war durch die Straßen der Stadt gezogen und hat die Herzen junger Mütter gesammelt, um sie seinem Meister darzubieten. Nic und mir war es zwar gelungen, den Geisterjungen zu erlösen, doch sein Herr, der kein anderer war als Fra Mauro, würde weiterhin sein Unwesen treiben.

Fra Mauro …

Er ist schuld an dem ganzen Scheiß.

An allem!

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Gedanken wieder abgedriftet waren, bis einer der Polizeibeamten das Wort an mich richtete: »Da Sie offenbar eine größere Rolle in diesem Verbrechen spielen, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie mit uns aufs Revier kommen sollten. Dort werden wir die Geschehnisse noch einmal im Detail durchgehen.«

Verdammte …

Für so etwas habe ich keine Zeit!

Und obwohl ich mich am liebsten von dem ganzen Geschehen abgewandt hätte, widerstand ich dem Drang wegzulaufen und schluckte meine Angst herunter. Solange die Polizisten tatsächlich den Verdacht hegten, dass ich an Nics Tod beteiligt sein könnte, würde ich nicht nach einer Lösung für Nics verlorene Seele suchen können.

Je schneller sie mit ihrer Befragung durch sind, desto eher kann ich mich auf die Suche machen.

Ich hoffte sehr, dass ich mit diesem Gedanken richtiglag. Deshalb wehrte ich mich nicht, als die beiden Beamten mich wenige Minuten später, nachdem das Spezialistenteam eingetroffen war, in ihre Mitte nahmen und abführten.

Wir fuhren etwa zwanzig Minuten, die wie im Rausch an mir vorbeizogen. Ich nahm kaum wahr, wie die Häuserfassaden und Kanäle vor meinen Augen verschwanden. Erst als der Wagen der Polizisten abrupt vor dem Polizeipräsidium anhielt, erwachte ich aus meiner Trance.

»Was passiert jetzt?«, fragte ich nach.

»Wir nehmen Ihre Personalien auf und lassen die Experten den Tatort untersuchen. Später findet zudem eine Befragung statt. Sie haben natürlich jederzeit das Recht auf einen Anwalt.« Stimmt. Meine Rechte hatten die beiden mir schon vorhin vorgetragen, aber ich hatte dem ganzen Prozedere keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die Haltung der Polizisten mir gegenüber hatte sich geändert. Zu Beginn waren sie noch misstrauisch gewesen, doch nun betrachteten sie mich mit Mitleid in ihren Augen. Ich war anscheinend keine Täterin mehr, sondern ein Opfer.

»Natürlich wird auch der Familie des jungen Mannes Bescheid gegeben.«

Bei dem Gedanken daran, wie Nics Eltern und seine kleine Schwester auf seinen Tod reagieren würden, schnürte sich in meinem Oberkörper alles zusammen. Mein Magen verkrampfte sich so sehr, dass ich befürchtete, ich würde mich noch im Polizeiwagen übergeben.

Bevor das geschehen konnte, öffnete bereits einer der Beamten die Wagentür und hielt mir seine Hand hin. Mein ganzer Körper zitterte, weshalb ich sie dankbar ergriff. Als mir die frische Luft entgegenschlug, verflog die Übelkeit glücklicherweise ein wenig.

Ich gönnte mir einen Moment der Ruhe und schloss die Augen. Es existierte nur noch das Rauschen des Canal Grande im Hintergrund. Ein salziger Duft umwehte meine Nase und über mir kreischten ein paar Möwen.

Du schaffst das, Lynn.

Geh da rein, mach deine Aussage und geh wieder.

Sie haben nichts gegen dich in der Hand.

Sie können dich hier nicht festhalten.

Obwohl ich mich wegen Nics Tod schuldig fühlte, musste ich mir eingestehen, dass das nicht stimmte. Ich war nicht diejenige gewesen, die ihm die Krallen in den Brustkorb getrieben hatte. Auch wenn es mehr als alles andere wehtat, zugeben zu müssen, dass ich diese schreckliche Tat nicht verhindert hatte.

»Sind Sie bereit?«, fragte der Polizeibeamte neben mir. Erst jetzt konnte ich mich dazu überwinden, meine Lider wieder zu heben. Ich musste kurz blinzeln, weil mich das Sonnenlicht blendete.

Ich fühlte mich mit einem Mal erschöpft und ausgelaugt. Schließlich war ich die ganze Nacht unterwegs gewesen. Die Sehnsucht nach Schlaf traf mich so plötzlich wie ein Steinschlag.

»Ich will es einfach nur hinter mich bringen«, gab ich zu. Ich klang genauso niedergeschlagen, wie ich mich fühlte.

Die Beamten nickten und begleiteten mich die Treppe zur Eingangstür hinauf. Selbst die Türen öffneten sie für mich. Wäre ich nicht innerlich so kaputt gewesen, hätte mich ihr Respekt vermutlich beeindruckt. Doch das alles interessierte mich gerade nicht.

Sie ließen mich eine Ewigkeit warten. Nachdem meine Fingerabdrücke genommen wurden und ich mich ausweisen musste, wurde ich in den Wartebereich verwiesen. Zum Glück hatte mir Nic schon kurz nachdem ich menschlich geworden war einen Ausweis besorgt, sonst wäre ich in diesem Moment bestimmt aufgeflogen.

Doch viel schlimmer als dieses ganze Prozedere waren das endlose Warten und das Gefühl, absolut nichts zu erreichen. Ich saß auf einem billigen Plastikstuhl herum und lauschte den hektischen Schritten mehrerer Beamter, die von einem Schreibtisch zum anderen rannten. Im Hintergrund klingelte alle paar Minuten ein Telefon, Papier raschelte und private Unterhaltungen wurden mit gedämpfter Stimme geführt.

Ich grummelte und stützte meinen Ellenbogen auf der Lehne des Stuhls ab, um meinen Kopf seitlich auf meine Handfläche zu legen. Ich wollte nur für einen Moment meine Augen ausruhen. Nur ganz kurz, um diese grellen Deckenleuchten nicht ertragen zu müssen.

Die Schwere meiner Lider erschrak mich beinahe, doch die Dunkelheit fühlte sich so entspannend und beruhigend an. In diesem Augenblick konnte ich so tun, als sei alles nur ein schlechter Traum gewesen. Der Kampf gegen den Geisterjungen, die Löwen und Fra Mauro. Nics Tod.

Alles nur ein schlechter Traum.

Diese Vorstellung machte mich so glücklich, dass ich für eine Weile mit den Gedanken abdriftete. Immer weiter in die Tiefe meines Unbewusstseins hinein. Immer weiter vom Licht hinfort und in die Schwärze hinab.

Mein Kopf sackte plötzlich nach unten und ich fühlte mich, als würde ich fallen, weshalb ich aufschreckte. Das grelle Licht brannte sich in meine Netzhaut und die bekannte Geräuschkulisse schien nun viel lauter als zuvor zu sein.

Bin ich eingeschlafen?

Konzentrier dich, Lynn!

Schlafen kannst du noch, wenn Nic wieder da ist!

Ich schüttelte mich kurz durch und wedelte mit den Händen, um die Anspannung aus meinem Körper zu vertreiben. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich das Starren einiger Beamten. Offenbar hielten sie mich jetzt schon für einen unangenehmen Menschen.

Ich bin unschuldig!

Selbst in meinen Gedanken klang es wie eine Lüge. Es war meine Schuld, dass Nic tot war, auch wenn ich vielleicht nicht diejenige war, die ihn getötet hatte. Und diese Tatsache ließ sich nicht bestreiten. Von niemandem.

Ich schluckte schwer und versuchte herauszufinden, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war. An einer Wanduhr konnte ich ablesen, dass es bereits früher Nachmittag war. Ich saß hier schon mehrere Stunden fest! Stunden, in denen ich nach einer Lösung hätte suchen können …

Ein Seufzen entfuhr mir.

Sitz es einfach aus und dann kannst du in Ruhe nach einem Weg suchen, um Nic zu retten.

»Lynn?«, fragte mich eine kleine Frau, die sich langsam genähert hatte.

Ich schaute zu ihr auf und blinzelte gegen die Lampen an der Decke an, um überhaupt etwas von ihr zu erkennen. Auch sie trug eine Uniform und hatte ihre kastanienbraunen Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre hellblauen Augen strahlten Freundlichkeit und Verständnis aus, aber ebenso eine gewisse Härte. Man sollte sich wohl trotz ihrer geringen Körpergröße nicht mit ihr anlegen.

»Ja?«, entgegnete ich.

»Die Befragung beginnt gleich. Folge mir bitte.«

Kapitel 3

Verhör

Lynn

Die Beamtin begleitete mich in einen angrenzenden Gang, von dem aus mehrere Türen abzweigten. Ich vermutete, dass dahinter die Verhörräume lagen und vielleicht sogar noch einige Büros. So genau wollte ich es gar nicht wissen.

Die Polizistin öffnete eine der Türen. Unsicher betrat ich den kleinen Raum, während hinter mir die Tür geschlossen wurde.

Ich blickte mich skeptisch um und versuchte, jedes Detail aufzunehmen. Die grau gestrichenen Wände und den länglichen Tisch in der Mitte, auf dem zwei Mikrofone platziert worden waren. Der Boden bestand aus PVC und quietschte unter meinen Schuhsohlen, sobald ich auch nur einen Schritt tat. Es gab zudem noch zwei Stühle aus Hartplastik, die wahnsinnig unbequem aussahen. Mein Blick glitt schließlich in die oberen Ecken des Raumes, die allesamt mit Kameras ausgestattet waren. Um nicht auffällig zu wirken, setzte ich mich schließlich auf einen der Stühle. Ich behielt recht: Sie waren verdammt unbequem.

Das Warten in diesem fensterlosen Zimmer war fast noch schlimmer als die vorherige Tortur. Es gab keine Uhren oder Tageslicht. Ich konnte unmöglich einschätzen, wie viel Zeit innerhalb dieser vier Wände verstrich. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.

Mit jeder vergehenden Sekunde fühlte ich mich schrecklicher.

Die Müdigkeit zerrte an mir und erschwerte meine Konzen­tration. An meiner Kleidung und meiner Haut klebte immer noch Dreck vom Kampf und Blut. Meines und wahrscheinlich auch Nics. In meinem Kopf spielten sich immer und immer wieder die entscheidenden Szenen ab, die Nic das Leben gekostet hatten. Ich wartete und wartete und bekam immer mehr das Gefühl, dass ich hier meine Zeit vergeudete. Gerade als ich aufstehen und den Verhörraum verlassen wollte, trat ein Mann ein.

Er trug einen Anzug, der ihm etwas zu groß war, da er an den Schultern sehr locker saß und die Ärmel über seinen Handrücken fielen. Zudem waren seine grauen Haare kurz geschoren und er trug eine altmodische Hornbrille. Die dicken Gläser ließen seine Augen abnormal groß wirken. Der Fremde befeuchtete seine Lippen und reichte mir die Hand. Er nannte mir seinen Namen, doch er nuschelte ihn so sehr, dass ich ihn nicht verstand.

Kaum hatte er sich hingesetzt, öffnete er eine Akte und begann mich zu befragen.

»Ich muss Sie zunächst darüber aufklären, dass diese Unter­haltung mit Ton und Video aufgezeichnet wird. Darf ich Sie mit Lynn ansprechen?«

Ich nickte vorsichtig. Widerspruch hätte sowieso nirgends hingeführt.

»Sehr gut. Wollen Sie einen Anwalt an Ihrer Seite haben?«

Ich verneinte. Es sollten nicht noch mehr Personen involviert werden.

»Lynn, in welchem Verhältnis standen Sie zu Nicolo Fiore?«

Und schon kam die erste Frage, die ich nicht beantworten konnte.

»Das ist etwas kompliziert«, murmelte ich.

»Kein Problem, wir haben alle Zeit der Welt.« Der Mann lächelte mich an und plötzlich erinnerte er mich an einen Hai. Die Assoziation tauchte so plötzlich in meinem Kopf auf, dass ich erstaunt innehielt und den Mann beobachtete. Sein Gebiss blitzte im grellen Licht auf und mit einem Mal wirkte seine harmlose Erscheinung gefährlich und berechnend. Ich musste aufpassen, was ich sagte.

»Wir sind … waren Freunde. Aber irgendwie auch mehr als das. Er ist mein Partner … gewesen.« Ich begann, meine Erklärungen mit dem Fuchteln meiner Hände zu untermalen. Um das zu unterbinden, versteckte ich sie unter dem Tisch. Im Zusammenhang mit Nic nun in der Vergangenheit reden zu müssen, machte mir wieder einmal bewusst, was ich verloren hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um den Schmerz in meinem Inneren zurückzudrängen.

»Partner? Also waren Sie beide in einer Beziehung?«

»Ja, so könnte man es sagen.«

»Könnte? Gab es also Schwierigkeiten? Probleme?« Der Mann machte sich eifrig Notizen, woraufhin ich die Stirn runzelte.

Worauf will er hinaus?

Sucht er etwa ein Motiv?

Hält er mich für eine Mörderin?

»Natürlich«, gab ich deswegen offen zu, was den Beamten für einen Moment irritierte. »In jeder Beziehung gibt es Probleme und Schwierigkeiten, die sich einem in den Weg stellen. Manche sind größer, manche kleiner. Doch wir haben uns immer als Team gesehen und sind diese Probleme gemeinsam angegangen. Allerdings sind wir noch nicht allzu lange zusammen gewesen.« Ich holte tief Luft. »Wir waren uns über viele Dinge noch nicht im Klaren und haben unsere Beziehung deswegen noch nicht öffentlich gemacht.«

»Haben Sie ihn geliebt?«

Die Frage warf mich für einen Moment aus der Bahn, allerdings zögerte ich nicht mit meiner Antwort: »Ja. Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt. Es war, als hätte ich ihn bereits mein ganzes Leben lang gekannt. Ich fühlte mich ihm so verbunden wie noch nie einem Menschen zuvor und am liebsten hätte ich ihn vor allem Bösen dieser Welt beschützt. Dass mir das nicht gelungen ist und dass ich deswegen nie die Chance hatte, ihm zu sagen, wie ich mich wirklich fühle, wird mich ewig verfolgen.«

Für einen Moment herrschte absolute Stille zwischen dem Beamten und mir. Keiner von uns wagte zu atmen, nicht einmal der Stift meines Gegenübers kratzte über das Papier. Ich bemerkte erst, dass ich weinte, als der Mann mir ein Taschentuch reichte und ich die Nässe von meinen Wangen tupfte.

Zusammen mit Nic hatte auch meine Welt ihre Farben verloren. Alles Gute war mit ihm zusammen verschwunden. Zurück blieb nur der graue Verhörraum. »Sollen wir eine kurze Pause machen?«, fragte der Polizist mir gegenüber. Mitgefühl schwang in seiner Stimme mit. Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Ich wollte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen und nicht unnötig hinauszögern.

»Fahren Sie bitte fort mit der Befragung«, erwiderte ich deswegen nur und zerrupfte das Taschentuch mit meinen Fingerspitzen.

»In Ordnung. Dann erläutern Sie mir bitte den Tathergang. Was hat sich zwischen Ihnen und Nicolo abgespielt? Wie kam es zu dem Raubtierangriff? Was führte zu seinem Tod?«

Ich fokussierte einen Punkt an der Wand direkt hinter dem Beamten und versuchte mich zu konzentrieren. Ich durfte das hier nicht versauen, sonst könnte ich noch länger im Präsidium festsitzen.

»Wir waren am Arsenal unterwegs und haben gekämpft.« Die Ermittler könnten unsere Waffen finden. Sie würden Fragen dazu stellen. Ich musste sie im Keim ersticken.

»Sie haben gekämpft?« Der Stift flog über das Papier.

»Ja. Wir haben zusammen trainiert. Nic und ich lieben Schaukämpfe und haben unter anderem Dolche dafür verwendet. Der Platz vor dem Arsenal war einfach perfekt dafür geeignet, um zu üben. Und in den frühen Morgenstunden waren auch noch keine Schaulustigen dort, weshalb wir es für den perfekten Zeitpunkt hielten.« Ich war selbst überrascht, wie leicht mir die Lügen über die Lippen flossen. Doch es war ein Notfall und dringend notwendig. Ich musste mich hier irgendwie rausboxen.

»Wir haben tatsächlich Waffen am Tatort sichergestellt.« Offenbar rechnete es mir der Beamte hoch an, dass ich sie selbst erwähnt hatte, denn ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Züge. »Was geschah dann?«

»Wir haben unser Training absolviert und waren sehr vertieft in unsere Arbeit. Ich habe nicht bemerkt, wie sich die Raubkatze genähert hatte. Es ging alles so schnell …« Ich schluckte und fuhr dann schnell fort: »Nic hat versucht, mich zu schützen. Er stellte sich dem Tier in den Weg und konnte auch mit seinen Waffen nichts mehr ausrichten. Ich versuchte, ihm zu helfen, doch es brachte nichts. Da war so viel Blut. Ich …« Mein Mund stand offen, ich brachte den Satz nicht zu Ende und schwieg kurz.

»Ich wollte helfen. Ich wollte ihn beschützen, schließlich hat auch er mich immer beschützt. Aber ich war zu schwach. Und als das Tier von ihm abließ, war es zu spät. Er war tot. Und es ist meine Schuld.« Diese Tatsache laut auszusprechen, verursachte mir beinahe körper­liche Schmerzen. Als hätte das laute Aussprechen meine Worte erst zur Wahrheit gemacht.

Der Beamte hielt inne und schaute mich stumm an, während ich versuchte ruhig zu atmen, um nicht zu hyperventilieren. Ich durfte nicht zusammenbrechen. Das hier war zu wichtig, um es zu versauen.

»Wir können wirklich kurz eine Pause …«

»Nein!«, rief ich. »Nein. Wenn wir jetzt aufhören, kann ich es nicht zu Ende bringen.«

Der Mann presste seine Lippen aufeinander, als würde ihm meine Aussage nicht gefallen. Doch das war mir herzlich egal.

»Nun gut, dann fahren wir fort. Bis jetzt stimmen Ihre Aussagen mit denen unserer bisherigen Ermittlungen überein. Allerdings verwundert uns alle, dass in Venedig selbst keine Raubkatzen gesichtet wurden. Die Verletzungen ihres Freundes sind allerdings sehr wohl darauf zurückzuführen. Können Sie spezifizieren, um welche Rasse es sich genau gehandelt hat?«

»Es war ein Löwe.« Ich zögerte nicht mit meiner Antwort.

Mein Gegenüber musterte mich über den Rand seiner dicken Hornbrille hinweg und ich konnte die Skepsis darin eindeutig ablesen.

»Ein Löwe? Sind Sie sich sicher?«

»Ganz sicher.«

»Wieso sollte sich ein Löwe in Venedig aufhalten?«

Ich ließ mich gegen die Stuhllehne sinken. »Ist es nicht Ihre Aufgabe, genau das herauszufinden?«

Mir war bewusst, dass ich mich mit meinem Kommentar auf dünnem Eis bewegte, aber inzwischen war meine Geduld bis ins Maßlose strapaziert. Die Erinnerungen der letzten vierund­zwanzig Stunden zehrten an meinen Kräften und die Anstrengungen des Kampfes saßen mir immer noch in den Knochen. Ich wollte hier raus und endlich etwas bewirken.

»Da gebe ich Ihnen recht«, meinte der Mann widerwillig. »Eine letzte Frage hätte ich noch an Sie, dann können Sie vorerst gehen.«

Ich schloss die Augen und nickte schwerfällig, während ich mich dafür bereit machte, ein letztes Mal all meine Konzentration zu fokussieren.

»Wusste Nicolos Familie von Ihnen? Von Ihrer Beziehung?«

Meine Augenlider flogen auf und ich richtete mich auf meinem Stuhl auf.

Was ist das denn für eine Frage?

Was soll das?

»Nein, wie gesagt, wir wollten unsere Beziehung vorerst noch geheim halten.«

»Ich vermute, dass das nicht länger möglich ist.«

»Wie meinen Sie das?« Mein Herz raste und ich wollte die Worte am liebsten aus seinem Mund ziehen, da der Beamte meiner Meinung nach nicht schnell genug mit der Antwort rausrückte.

»Wir haben die Familie natürlich sofort benachrichtigt, als die Identität des Opfers eindeutig feststand. Sie waren nicht davon abzubringen, nach Venedig zu kommen und sich selbst von dieser Tatsache zu überzeugen. Sie werden den Leichnam noch heute identifizieren und ein weiteres Mal, diesmal natürlich nicht telefonisch, über den Tathergang unterrichtet werden.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« Mein komplett übermüdetes Hirn kam gar nicht mehr hinterher.

Nics Familie ist auf dem Weg nach Venedig?

»Sie wissen dank unseres Anrufs darüber Bescheid, dass ihr Sohn eine Beziehung führte. Schließlich sind Sie unsere wichtigste Zeugin. Uns war im Vorhinein nicht klar, dass die Beziehung nicht öffentlich ist. Diesen Umstand bitten wir zu entschuldigen.«

»Das bedeutet …«, begann ich die Puzzleteile zusammenzusetzen.

»Das bedeutet, dass Sie nun von Ihrer Existenz wissen. Und die Familie des Opfers würde Sie gern kennenlernen.«

Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. Konnte dieser Tag eigentlich noch schlimmer werden? Warum musste jetzt auch noch Nics gesamte Familie in meine Misere mit reingezogen werden?

»Wann kommen sie an?«, fragte ich lediglich.

»Sie sind bereits vor ungefähr einer Stunde hier eingetroffen, kurz bevor unser Verhör gestartet ist. Sie können sie jetzt gleich treffen, falls Sie das wollen.«

»Ich bin mir nicht sicher …«

Warum?

Warum ausgerechnet jetzt?

Sehe ich eigentlich aus wie die Müllhalde des Universums?

Eine Person, bei der jeder seinen Mist abladen kann?

Nics Familie jetzt wiederzusehen war das Letzte, was ich im Moment wollte. Am liebsten hätte ich das Polizeipräsidium verlassen und mich direkt auf die Suche nach einer Lösung gemacht, die Nics Tod rückgängig machen konnte.

Wenn ich seiner Mutter, seinem Vater und vielleicht sogar seiner kleinen Schwester gegenüberstand, würde mich nichts mehr halten können. Ihre bekannten Gesichter würden mich für eine Fremde halten und mich auch so behandeln, dabei kannte ich sie schon mein gesamtes Leben lang.

Wieso ist bei mir auch immer alles so verdammt kompliziert?

Ihre Unwissenheit würde mich innerlich zerreißen und noch kaputter machen, als ich ohnehin schon war. Doch ich wusste genauso gut, dass ich es ihnen schuldig war. Ich war mit dafür verantwortlich, dass sie keinen Sohn und keinen Bruder mehr hatten. Es war meine Schuld. Und wenn ich ihre Trauer durch meine Anwesenheit irgendwie mildern konnte, dann würde ich das tun. Denn als Schutzgeist gehörte es für mich dazu, mich nicht nur um meinen Schützling zu sorgen, sondern auch um seine Liebsten.

Erst dieser Gedanke bewog mich dazu, meinen Kopf zu heben und zu sagen: »Ich will sie treffen. Ich möchte seine Familie kennenlernen.«