Adrian Daub

Was das Valley denken nennt

Über die Ideologie der Techbranche

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Einleitung

Dieses Buch handelt von der Ideengeschichte an einem Ort, der gerne so tut, als hätten seine Ideen keine Geschichte. Der Techsektor interessiert sich kaum für die Art von Fragen, die hier gestellt werden. Seine Unternehmen entwickeln ein Produkt und versuchen anschließend, es zu vermarkten. Mark Zuckerberg hat es einmal so ausgedrückt: »Ich war nicht sehr gut darin zu vermitteln, dass wir diese Mission verfolgten. Wir kamen einfach jeden Tag zur Arbeit und machten das, was uns der richtige nächste Schritt zu sein schien.«1 Die Mission, die große Frage, kam später. Erst im Rückblick musste sich Zuckerberg fragen: Wie erkläre ich das den Journalist:innen? Dem Repräsentantenhaus? Mir selbst? In diesem Buch beschäftige ich mich mit der Frage, worauf die Techunternehmer:innen und die Medien, die diese Unternehmer:innen vergöttern, ihren Blick richten, wenn sie einmal den Punkt erreichen, an dem sie einen Kontext für das finden müssen, was sie tun. Wonach sie suchen, wenn ihr Narrativ in eine umfassendere Geschichte der Welt eingefügt werden muss, in der wir alle leben und arbeiten.

Während das Silicon Valley die Welt verändert, verbringen Journalist:innen, Akademiker:innen und Aktivist:innen mehr und mehr Zeit damit, die hehren Ideale, an denen sich Unternehmen wie Google und Facebook zu orientieren behaupten, genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie der Journalist und Autor Franklin Foer erklärt, haben die Unternehmen im Silicon Valley »bestimmte Ideale, aber sie haben auch ein Geschäftsmodell. Sie konfigurieren die Ideale der Benutzer:innen neu, um ihre Geschäftsmodelle zu rechtfertigen.«2 In diesem Buch geht es um die Frage, woher die Ideale des Valley kommen. Diese Frage ist alles andere als nebensächlich: Die Antwort wirkt sich darauf aus, wie die vom Techsektor herbeigeführten Veränderungen als plausibel und scheinbar unvermeidlich dargestellt werden. Sie wirkt sich darauf aus, wie der Techsektor seine Projekte und seine Beziehung zur Welt versteht. Es geht in diesem Buch weniger um die Worte, mit denen die Unternehmen im Silicon Valley ihre alltägliche Geschäftstätigkeit beschreiben – es gibt bereits interessante Bücher über die Denkweise, die sich hinter Begriffen wie »Benutzer:in«, »Plattform« oder »Design« versteckt. Vielmehr geht es mir um die Frage, wie der Techsektor über seine Tätigkeit denkt, wenn er über sein Alltagsgeschäft hinausdenkt – wenn er darüber nachdenkt, die Welt zu verändern, eine Branche X vollkommen neu zu definieren oder die Gruppe Y zu befreien. Wenn er über die Proteste auf dem Tahrir-Platz und 27-Dollar-Spenden nachdenkt. Welche Ideen fassen dann Fuß? Und woher kommen sie?

Die Tatsache, dass diese Ideen eine Geschichte haben, ist tatsächlich wichtig. Das Silicon Valley ist gut im »Reframing«, wie es im Jargon des »Design Thinking« heißt, sprich darin, Fragen, Probleme und Lösungen neu einzuordnen. Und oft ist vollkommen unklar, welche Beziehung zwischen der »neu eingeordneten« und der ursprünglichen Version besteht. Man kann leicht den Eindruck gewinnen, die ursprüngliche Einordnung des Problems werde durch das Reframing irrelevant – und möglicherweise werde sogar das ursprüngliche Problem irrelevant. Teilweise gehört das wahrscheinlich zum technologischen Wandel: Es ergibt Sinn, dass man sich schwerlich an die Geschichte von etwas erinnert, das die Funktionsweise des Gedächtnisses selbst affiziert. In den sechziger Jahren erklärte Marshall McLuhan, die Auswirkungen der Technologie zeigten »sich nicht in Meinungen und Vorstellungen«, sondern verlagerten »das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos«.3

Aber das ist offenkundig nur ein Teil der Geschichte. Die Amnesie, die jene Konzepte umhüllt, mit denen die Technologieunternehmen öffentliche Politik betreiben (ohne zuzugeben, dass sie es tun), ist ein struktureller Bestandteil dieser Konzepte. Indem die Neuheit des Problems (oder zumindest seiner »Einordnung«) zum Fetisch gemacht wird, werden der Öffentlichkeit die analytischen Werkzeuge entzogen, die sie bisher für die Auseinandersetzung mit ähnlichen Problemen nutzte. Nun sind diese Technologien freilich oft wirklich neuartig – aber die Unternehmen, die sie einführen, verweisen häufig auf diese Neuartigkeit, um zu behaupten, die traditionellen Verständniskategorien würden der neuen Technologie nicht gerecht, obwohl sie in Wahrheit durchaus geeignet sind, um sie zu beurteilen. Auf diese Art werden all jene entrechtet, die seit Langem mit der Analyse dieser Probleme betraut sind, seien sie Expert:innen, Aktivist:innen, Akademiker:innen, Gewerkschaftler:innen, Journalist:innen oder Politiker:innen.

Man sehe sich nur an, wie sehr das Silicon Valley von seinem technologischen Determinismus profitiert. Die Industrie stellt die von ihr herbeigeführten Veränderungen gerne so dar, als gehorchten sie einem Naturgesetz: Wenn ich oder mein Unternehmen das nicht tun, wird es jemand anderes tun. Das wirkt sich darauf aus, wie sich Universitätsabsolvent:innen ihren Arbeitgeber aussuchen und welche Arbeit sie zu machen bereit sind. Oder man sehe sich an, wie Schlagworte wie »Disruption« und »Innovation« dem Techsektor helfen, unsere kollektive Fantasie zu vereinnahmen. Wie sie bestimmte Teile des Status quo umstülpen und andere Teile rätselhafterweise unangetastet lassen. Wie sie uns implizit als Spielverderber darstellen, wenn wir fragen, inwieweit jemand, der Milliardeninvestitionen repräsentiert, zu einer Revolution fähig sein soll.

Und hier verwandeln sich die Grenzen unseres Denkens rasch in die Grenzen unserer Politik. Was, wenn das, was Innovation genannt wird, in Wahrheit nichts anderes ist als eine opportunistische Ausnutzung von Gesetzeslücken? Und bevor wir die Schuld auf die Gesetzeslücken schieben, sollten wir uns vor Augen halten, dass von einer guten Gesetzgebung erwartet wird, dass sie langsam und bedächtig auf neue Gegebenheiten reagiert. Viele dieser Unternehmen nutzen die Zeit zwischen dem Augenblick, in dem eine neue Methode zum Geldverdienen entdeckt wird, und dem Augenblick, in dem sich der Staat eine Vorstellung davon macht, ob sie tatsächlich im Sinne des Gesetzes ist. Viele dieser Unternehmen haben sozusagen ihr Hauptquartier in dieser historischen Grauzone errichtet.

Nehmen wir beispielsweise Uber und Lyft. Diese beiden Personenbeförderungsunternehmen sind (zumindest für die User) flexibler und billiger als die Taxiunternehmen, denen sie langsam den Garaus machen, und gerade deshalb beliebt bei großen Investmentfonds. Der Hauptgrund dafür ist, dass ihre Fahrer:innen selbstständige Unternehmer:innen sind, die keinerlei Verhandlungsmacht haben, keine Lohnzusatzleistungen erhalten und kaum gesetzlichen Schutz genießen. Alles, was diese Unternehmen tun – von den Vergütungsplänen für ihre »Auftragnehmer:innen« bis zu der Art und Weise, wie ihre Algorithmen zur Zuteilung der Fahrten allem Anschein nach gelegentliches Fahren bestrafen –, dient in Wahrheit dazu, ihre Fahrer:innen Stück für Stück in eine Vollzeitbeschäftigung zu drängen, die aber nicht als Vollzeitbeschäftigung bezeichnet werden darf. In dem Augenblick, in dem Klarheit über diese Verhältnisse herrscht, werden diese Unternehmen zahlreichen Regeln unterworfen werden, womit ihre Rentabilität noch weiter sinken wird und sie mit einiger Sicherheit vom Markt verschwinden werden. Aber bis zu diesem Moment werden sie uns unablässig erzählen, dass sie anders und neuartig sind und dass wir sie falsch verstehen, wenn wir die herkömmlichen Wirtschaftskategorien auf sie anwenden.

In diesem Buch beschäftige ich mich wiederholt mit Konzepten und Ideen, die vorgeblich neuartig, in Wahrheit jedoch sehr alte Motive in neuer Verkleidung sind. Der Zweck von Konzepten besteht darin, sinnvolle Unterscheidungen zu ermöglichen, aber die in den folgenden Kapiteln behandelten Konzepte dienen oft dazu, diese Unterscheidungen unmöglich zu machen. Die Rhetorik des Silicon Valley mag vollkommen neuartig klingen, aber in Wahrheit entspringt sie einigen alten amerikanischen Traditionen: von der Erweckungsbewegung zum Infomercial, von der Prädestination zur Selbsthilfe. Auch das Gegenteil kann zutreffen: Ein ums andere Mal werden wir auf zwei Phänomene stoßen, die für unser ungeschultes Auge wie ein und dasselbe aussehen, jedoch verschiedene Dinge sind, wenn wir einer großen Propagandaindustrie Glauben schenken. Das Taxiunternehmen verliert Geld. Uber verliert Geld. Doch scheinbar ist das nicht dasselbe. Die in diesem Buch behandelten Ideen des Techsektors sind nicht falsch, aber sie erlauben es den Reichen und Mächtigen, Unterscheidungen ohne Unterschied vorzunehmen, und kaschieren Unterschiede, die politisch wichtig sind. Diese Ideen sind nicht an sich gefährlich. Sie sind gefährlich, weil sie wahrscheinlich zu schlechtem Denken führen werden.

***

In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen zu zeigen, wie bestimmte Ideen die Lebenswelt des Techsektors prägen und wie sich dieser Sektor gegenüber den Medien darstellt, die Helden und Schurken brauchen und nach spektakulären Geschichten in einer im Grunde sehr unspektakulären Industrie suchen. Eine Studie wie diese muss beinahe zwangsläufig die sehr sichtbaren Gründer:innen, Financiers und Meinungsführer:innen in den Vordergrund rücken. Herauszufinden, wie gewöhnliche Programmierer oder Entwickler oder auch all die Leute im Techsektor denken, die nicht gemeinhin diesem Sektor zugerechnet werden, ist ebenfalls ein sehr interessantes Projekt, aber es ist nicht das Projekt dieses Buchs. Die Medien sind im Guten wie im Schlechten auf die Vordenker:innen des Techsektors angewiesen. Anscheinend brauchen sie bestimmte Figuren, um ihr Narrativ entwickeln zu können. Peter Thiel, Elon Musk, Steve Jobs und andere wissen oder wussten, wie sie das für sich nutzen können; sie haben es von jenem anderen Exportschlager Kaliforniens gelernt, von der Gegenkultur der sechziger Jahre.

Leider bedeutet das, dass dieses Buch Gefahr läuft, eines der zentralen Missverständnisse des Techsektors zu wiederholen: Es ist keineswegs klar, ob Figuren wie Zuckerberg, Musk oder auch Jobs wirklich das Selbstverständnis dieses Sektors verkörpern. Hingegen ist klar, dass sie die Kommunikationsweise des Techsektors mit der Außenwelt verkörpern. Sie eignen sich als Identifikationsfiguren, wenn wir es mit einer Industrie zu tun haben, die verstörend amorph und dezentralisiert sein kann (schließlich funktioniert das Pars pro Toto »Silicon Valley« im Allgemeinen so). Sie sind Geschöpfe der Medien: Sie werden uns angeboten, um unsere Ängste auf sie zu projizieren und unseren Hoffnungen Form zu geben. Vor allem legen sie die Vorstellung nahe, dass eine charismatische oder ruchlose Figur weiß, wohin die Reise geht. Sichtbarkeit in den Medien ist natürlich nicht identisch mit Repräsentativität. Einen Film über Theranos zu drehen, ist nicht cool. Aber wissen Sie, was cool ist? Einen Film über Elizabeth Holmes zu drehen.

Bevor wir einen Versuch unternehmen können, die Behauptungen des Techsektors über sich selbst zu überprüfen, müssen wir zunächst diesen Ideen ihre Geschichte zurückgeben. Aber es gibt eine weitere Frage, die wir stellen können, wenn wir wissen, woher diese Ideen kommen: Warum war es zweckdienlich, diese Vorstellungen zu übernehmen, und warum war es zweckdienlich, ihre Geschichte zu vergessen? Die Geschichte dieser Ideen hat mit den großen Umwälzungen zu tun, die die Informationstechnologie in den vergangenen siebzig Jahren durchgemacht hat. Das ursprünglich als Sekretärinnentätigkeit betrachtete Programmieren hat sich in einen von Männern beherrschten Beruf verwandelt, in dem man äußerst viel Geld verdienen kann. In den letzten Jahren wurden die früher hochgradig konzentrierten technologischen Kompetenzen in der Bevölkerung breiter gestreut, und das »Programmieren lernen« wird mittlerweile in den USA als zynisches Allheilmittel angeboten, das die verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus abmildern soll.

Auch die Umwelt des Techsektors hat sich verändert: Der Staat, der ursprünglich der eigentliche Eigentümer und Geldgeber dieses Sektors war, hat mittlerweile Mühe, ihn zu regulieren; die Informatik, die an den Universitäten ehemals ein Exotenfach war, ist heute eines der beliebtesten Studienfächer. Die kulturelle Sichtbarkeit des Sektors und seiner Praktiken hat sich sogar seit der Veröffentlichung des Blockbusters The Social Network vor weniger als zehn Jahren deutlich verändert. Vielleicht trifft es Foer nur teilweise: Wenn die Unternehmen im Silicon Valley »die Ideale neu konfigurieren«, so tun sie es nicht nur, um sie ihren Geschäftsmodellen anzupassen. Sie tun es auch, um kognitive Dissonanz in ihrem Denken über Gender, Race, Klasse, Geschichte und Kapitalismus zu vermeiden.

Viele der in diesem Buch untersuchten Ideen entwickelten sich analog. Zum einen entstanden sie alle etwa zur selben Zeit. Sie waren neuartig, als sie in den sechziger Jahren – häufig in der Gegenkultur – ihre endgültige Form annahmen. Sie erhielten ihre Form außerhalb der Universitäten, obwohl sie im Dunstkreis der Universitäten entwickelt worden waren. Wie der Managementtheoretiker Stephen Adams erklärt hat, hatten viele der in diesem Buch vorkommenden Einrichtungen für Forschung und Lehre ihren Ursprung in dem Wunsch, eine stetige Abwanderung kluger Köpfe von der Westküste nach Osten zu stoppen. An diesen Hochschulen entstand ein Netzwerk sehr gebildeter, aber auch ausgesprochen idiosynkratischer Denker:innen, die fest entschlossen waren, das System zu verändern. Sie waren diejenigen, die diese Ideen in den neuen Diskurs rund um eine neue Industrie einführten.

Anfangs waren die Ideen mit Institutionen verbunden, die wenig mit der Wirtschaft zu tun hatten: von Forschungszentren bis zu Hippie-Gemeinschaften, von Kommunen bis zu Universitäten. Die Tatsache, dass die an diesen Ideen interessierten Personen viel Geld verdienten, war beinahe eine unerwünschte Nebenwirkung: Die von ihnen gegründeten Unternehmen sollten spontane, gemeinschaftliche Gegenentwürfe zu den übermäßig behäbigen Einrichtungen des Staates und der etablierten Wissenschaft sein. Aber es dauerte nicht lange, bis Schlagworte wie »Kommunikation« oder »Big Data« weniger aufgrund ihres kulturellen Gütesiegels als wegen der Launen des Konjunkturzyklus die Runde machten. Nicht geändert hat sich Folgendes: Die formale Bildung schien für diese Ideen zweitrangig – aber nachdem dies ursprünglich bedeutet hatte, dass man das Studium abbrach, um sich einem Nischenprojekt zu verschreiben, bedeutete es bald, dass man die Universität vorzeitig verließ, um einen Haufen Geld zu verdienen. Die Ideen, die im Techsektor als Denken betrachtet werden, wurden beim Geldverdienen entwickelt und verfeinert.

Und es ist gut möglich, dass sich erneut wandelt, was der Techsektor unter Denken versteht. Fred Turner, der an der Universität Stanford Kommunikationswissenschaft unterrichtet, hat die intellektuellen Ursprünge des Silicon Valley in seinem Buch From Counterculture to Cyberculture untersucht. Die Generation, mit der sich Turner beschäftigt, wurde in den sechziger Jahren erwachsen, und diejenigen unter ihnen, die im Valley reich wurden, spielen heute in Woodside Tennis. Diejenigen von ihnen, die unterrichteten, sind mittlerweile überwiegend im Ruhestand. Das Ethos wandelt sich. »Noch vor zehn Jahren«, hat Turner mir gegenüber einmal erklärt, »waren die Programmierer langhaarige Typen, über deren Bierbauch sich ein Gryffindor-T-Shirt spannte. Diesen Typ sieht man heute kaum noch.«

Die von Turner beschriebene Generation von Denkern und Neuerern las noch ganze Philosophiebücher. Diese Leute hatten Doktortitel und interessierten sich für Computer, weil ihnen der Computer die Möglichkeit gab, große Fragen zu stellen, die man bis dahin nicht hatte stellen, geschweige denn beantworten können. Eric Roberts gehört dieser Generation an. Er machte seinen Doktor im Jahr 1980 und unterrichtete in Wellesley, bevor er nach Stanford kam. Er hat zwei Kurse entworfen, die auf dem Weg zu einem Informatikabschluss in Stanford unerlässlich sind. CS 106A und 106B vermitteln die Grundlagen des Programmierens und stellen einen Initiationsritus für die Studentenschaft dar, und zwar einen, den beinahe alle, seien sie nun Informatiker:innen oder nicht, im Lauf ihres Studiums durchlaufen. Roberts' dritter Kurs war CS 181, »Computer, Ethik und Politik«. Seinerzeit war CS 181 ein kleiner Kurs, in dem Informatiker:innen über die ethische Relevanz ihrer Erfindungen aufgeklärt wurden. Heute ist er eine Vorlesung, bis zu 100 Student:innen werden pro Trimester zugelassen. Noch eine Veranstaltung, die Hunderte Student:innen schnell abhaken, bevor sie Stanford in Richtung Silicon Valley verlassen können. Eric Roberts kehrte Stanford im Jahr 2015 den Rücken und unterrichtet heute weitaus kleinere Klassen am Reed College in Portland.

Nach Ansicht von Roberts veränderte sich die Informatik in Stanford ungefähr im Jahr 2008 fundamental. Die Veränderung betraf insbesondere die Student:innen, die in immer größerer Zahl in die Kurse stürmten. Aber sie betraf eben auch, was sie aus diesen Kursen lernen wollten und warum. Die Fakultät wurde zum Wartezimmer Silicon Valleys. »Es war beinahe in den achtziger Jahren so weit, es war beinahe in den neunziger Jahren so weit.« Während des Technologiebooms um die Jahrtausendwende stieg die Zahl der Informatikstudent:innen so rasant, dass die Fakultät Mühe hatte, ihnen genug Kurse anzubieten. »Vermutlich rettete uns dann, dass die Dotcom-Blase platzte«, sagt Roberts. Die Zahl der Informatikabsolvent:innen schrumpfte rasch, als die Medien über Massenentlassungen in der New Economy berichteten. Natürlich verdienten die meisten dieser Fachleute ein Jahr nach dem Crash wieder gutes Geld, aber der Mythos von den unsicheren Arbeitsplätzen hielt sich. Und Roberts hatte wieder vornehmlich mit Student:innen zu tun, die aus Liebe zum Fach Informatik studierten. Zumindest bis zur Finanzkrise, in der die Mitglieder des »Schnell-reich-werden-Kontingents«, wie Roberts sie nennt, aus dem Investmentbanking verdrängt wurden und auf das Schiff zurückkehrten, von dem sie im Jahr 2001 vorzeitig abgesprungen waren. Als ab 2008 große Mengen an Risikokapital auf dem Immobilienmarkt und im Finanzsektor verbrannt wurden, wandten sich die Financiers auf der Suche nach neuen, renditereichen Investitionsmöglichkeiten der Westküste zu. Der Techsektor, wie wir ihn heute kennen, entstand, als ein unhinterfragtes Wertesystem auf große Mengen Geld traf, die keine anderen Andockmöglichkeiten fanden.

***

David M. Kelley, der einen Lehrstuhl in Stanford hat und die Designfirma IDEO leitet, ist einer der Apostel des Design Thinking. Er hat wesentlichen Anteil an der Selbstdarstellung und -vermarktung des Silicon Valley seit den achtziger Jahren. Kelley leitet das Hasso Plattner Institute of Design in Stanford, das auch als »d.school« bekannt ist, und darf bei keinem TED-Talk und keiner Entwicklerkonferenz fehlen. In einem TED-Talk im Jahr 2002 beschrieb Kelley anhand zahlreicher Beispiele, wie das Design Thinking den Techsektor veränderte – und gab unabsichtlich ein Beispiel dafür, was in diesem Sektor als Denken gilt.4 Die Technologieunternehmen, erklärte Kelley seinen Zuhörer:innen, konzentrierten sich seit Langem »auf Produkte und Objekte«, aber in den letzten Jahren sei man »ein wenig in Maslows Bedürfnishierarchie aufgestiegen« und konzentriere sich im Design mehr »auf den Menschen«.

Eine interessante Darstellung, keine Frage. Aber warum Maslows Bedürfnishierarchie? Mit der Idee, die Kelley beschreibt, haben sich viele Philosoph:innen herumgeschlagen, darunter die gesamte Schule der Phänomenologie. Aber ausgerechnet Maslow tat es nicht. Der Kontext zeigt, dass Kelley offenbar einfach sagen will, dass die Designer:innen früher eine bestimmte Vorstellung von Objekten hatten und jetzt begonnen haben, sich eine andere, komplexere Vorstellung davon zu machen, weil sie beim Design von Produkten jetzt »Verhalten und Persönlichkeit« berücksichtigen. Sie haben erkannt, dass die Beziehung der Menschen zu Objekten komplizierter ist, als sie in der Vergangenheit annahmen. So weit, so gut. Aber warum beruft sich Kelley auf den Psychologen Abraham Maslow, um dieses Argument vorzubringen?

An diesem Punkt beginnen wir zu begreifen, was der Techsektor für gutes Denken hält. Kelley sagt nicht: »Der Philosoph Martin Heidegger erklärte, die Subjektivität könne nur als In-der-Welt-sein verstanden werden.« Er beruft sich nicht auf eine philosophische These, die mit seiner Argumentation zu tun hat, aber auf das Publikum eines TED-Talks ein wenig befremdlich wirken könnte. Stattdessen führt er einen Terminus der populärwissenschaftlichen Psychologie ins Feld, der so etwas wie ein stehender Begriff geworden ist, seit Maslow sie im Jahr 1943 begründete. Und die Art und Weise, wie er Maslow ins Spiel bringt, scheint ebenfalls bedeutsam zu sein: Kelley hält nicht inne, um Maslow zu zitieren oder seine Theorie im Detail zu erklären – eine flüchtige, beinahe ornamentale Anspielung muss genügen. Viele der in diesem Buch untersuchten Vorstellungen funktionieren so: Sie sind Allgemeingut, werden von vielen geteilt und können leicht in die Argumentation eingeflochten werden, obwohl sich niemand die Zeit genommen hat, herauszufinden, woher sie eigentlich kommen oder ob sie in der jeweiligen Situation richtig angewandt werden. Viele dieser Vorstellungen werden von Personen vertreten, die die Philosophie, der die Konzepte entstammen, eigentlich nicht teilen – oder nicht wissen, dass sie es tun.

Es gibt noch etwas anderes, das Maslows Bedürfnishierarchie zu einer zweckdienlichen Abkürzung in einem TED-Talk macht: Dieses Konzept hat klare regionale Bezugspunkte. Maslow verbrachte seinen Lebensabend in Kalifornien. Er spielte eine wichtige Rolle im Esalen-Institut, dem New-Age-Refugium am Pacific Coast Highway, und arbeitete unweit des Camino Real für eine Privatstiftung in Menlo Park. Eines der Dinge, die mich bei der Arbeit an diesem Buch überrascht haben, ist der ausgeprägt lokale Charakter dieses Denkens. Wir werden uns mit Denker:innen beschäftigen, die, hätten sie sich nicht in der Bay Area niedergelassen – im Fall Maslows war es die Tatsache, dass er buchstäblich zufällig am Esalen-Institut vorbeifuhr und neugierig wurde –, mit Sicherheit nicht annähernd so großen Einfluss auf die dominanten Ideologeme des Techsektors erlangt hätten. Möglicherweise hat es auch mit Lokalstolz zu tun, dass Kelley auf Maslow verwies. Vielleicht gab es da einen Sinn für Genealogie, das Bemühen, einen Faden zu spinnen, der den TED-Talk mit der Tradition der New-Age-Psychotherapie und der linken Kommunen verknüpfte.

Dennoch ist der Lokalismus bemerkenswert, da eine der großen Leistungen dieser Industrie darin bestand, die Welt auf zuvor unvorstellbare Art zu öffnen und zu nivellieren. Und doch ist die Geschichte des Sektors provinziell. Der Techsektor rekrutiert seine Mitarbeiter:innen in bestimmten Milieus, Ländern, Schulen, Gesellschaftsschichten usw. Insbesondere in den kleineren und schnell wachsenden Unternehmen gehören die Mitarbeiter:innen oft einer eng begrenzten Altersgruppe an, und viele der älteren Figuren, mit denen diese Unternehmen zusammenarbeiten (darunter Risikokapitalgeber:innen und Rechtsanwält:innen), sind höchstens ein paar Jahre älter. Das Silicon Valley liebt die Worte »jedermann«, »universell« und »die Menschen«, aber gemeint sind damit normalerweise »die Leute, mit denen ich auf der Uni war«, »meine seinerzeitigen Mitbewohner:innen in East Palo Alto« und »meine vier unmittelbaren Untergebenen«. Der Jargon der Universalität, die ihnen ihr Geschäftsmodell aufzwingt, kollidiert mit der Tatsache, dass sie in Wahrheit nur sehr wenige Leute kennen.

Bezeichnend ist auch, dass sich Kelley, obwohl er in Stanford unterrichtet, nicht auf einen Universitätsprofessor berief. Natürlich war Maslow ein Gelehrter, aber er arbeitete in einer privaten Forschungseinrichtung im Valley. Das, was im Techsektor als Denken bezeichnet wird, findet im Wesentlichen außerhalb, aber in Hörweite der Universitäten statt. Peter Thiel mag junge Leute dafür bezahlen, dass sie nicht auf die Universität gehen, er mag die Universität als Finanzblase betrachten – aber er selbst verbrachte fast ein Jahrzehnt in Stanford und ist ein gern gesehener Besucher im Faculty Club. Elon Musk präsentiert sich gerne als Autodidakt und hat ein Doktoratsstudium in Stanford abgebrochen – aber er verbrachte ebenfalls viel Zeit an Universitäten in Kanada und den Vereinigten Staaten. Die in diesem Buch untersuchten Ideen sind universitätsnah, universitätsartig. Und die Art und Weise, wie sie am besten erworben werden, ist das Thema des ersten Kapitels: indem man ein Studium abbricht.