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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2013

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh – Stefanie Freischem

(Umschlagabbildung: Andreas Michalke)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-25111-5 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-50021-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50021-1

«Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein tragischer Unfall …» Herr Fischer räuspert sich, wischt sich mit seinem zerknüllten Taschentuch über die Stirn und fängt noch einmal von vorne an: «Es tut mir leid, aber ich habe die traurige Pflicht …», seine Stimme bricht. Dann seufzt er tief und schaut in die Runde. Es ist voll im Lehrerzimmer, viele Kollegen haben keinen Platz mehr gefunden und müssen stehen, die Luft ist schlecht, und die Frühlingssonne schafft es kaum durch die ungeputzten Fensterscheiben.

Ich weiß nicht, was ich von Herrn Fischer und dieser Veranstaltung halten soll. So kenne ich unseren zackigen Schulleiter gar nicht, er scheint regelrecht unter Schock zu stehen. Erst seine plötzliche Durchsage gegen Ende der zweiten Stunde – «Alle Kollegen werden in der ersten großen Pause zu einer kurzen Dienstversammlung ins zentrale Lehrerzimmer im Haus A gebeten» –, jetzt dieses Gestammel.

Ich stelle meine Kaffeetasse so langsam und geräuschlos wie möglich auf dem Tisch ab und unterdrücke ein nervöses Husten. Frau Herz sucht meinen Blick und hebt fragend die Schultern. Frau Nolte neben ihr hat eine Hand auf den Mund gepresst. Keine Frage – es muss etwas Schlimmes passiert sein.

Herr Fischer schwankt ein wenig. Dann holt er tief Luft und sagt mit belegter Stimme: «Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Sie hier zusammengerufen, um Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Unser lieber und geschätzter Kollege Günther Altmann ist verstorben. Seine … äh … Leiche wurde vorgestern Morgen in der Nähe des Reichstags aufgefunden. Die Polizei spricht von einem Unfall. Die Ermittlungen laufen noch. Wir sind in Gedanken bei seiner Familie, seiner Frau Franziska … und ihrem ungeborenen

Einen winzigen Moment ist es ganz still, dann schreien einige Frauen auf, ein Gemurmel erhebt sich, irgendjemand schluchzt laut.

Herr Pommer hält eine Zeitung hoch: «Hier in der B.Z.», ruft er. «‹Tödlicher Treppensturz am Reichstag› – Die Treppe runter zur Spree? Unbekannte Identität?»

Herr Fischer nickt und klopft auf den Tisch. Er scheint sich etwas gefasst zu haben. «Ja, es steht schon in der Zeitung, da kannte man aber die Identität des Verstorbenen noch nicht. Wie gesagt, die Untersuchungen laufen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es Gerüchte und Vermutungen geben wird. Bitte geben Sie Ihren Klassen Günther Altmanns Tod in angemessener Form bekannt. Um seine Neunte werde ich mich zusammen mit Frau Schmidt persönlich kümmern. Alles Weitere besprechen wir in den nächsten Tagen. Ich danke Ihnen.»

«Soll ich schon für einen Kranz sammeln?» Monika Nolte natürlich. Die muss sich aber auch in jeder Situation wichtigtun.

Herr Fischer wehrt ab. «Lass uns das auf morgen verschieben, Monika. Ich glaube, wir sind heute alle noch nicht in der Lage zu entscheiden, wie wir als Kollegium darauf reagieren sollen.»

Damit hat er recht. Es gibt Nachrichten, die man hört, aber nicht versteht. Oder jedenfalls nicht richtig versteht. Nachrichten, die man erst einmal verarbeiten muss.

Günther ist tot – das ist so eine Nachricht. Freitag hatte er noch grinsend zu mir gesagt: «Frl. Krise, deine Vanessa! Ganz schön

Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Aber immer hatte die Schulleitung für ihn die Eisen aus dem Feuer geholt. Einen Günther Altmann, Fachleiter für die Fächer Mathe und Physik, lässt man nicht hängen, besonders deshalb nicht, weil seine Klassen immer gut bei den Prüfungen abschnitten. Die Schüler und Eltern sagten von ihm: «Er ist streng, aber man lernt was bei ihm.» Da sollten sich die hysterischen Mädchen, die sich darüber beklagten, dass er ihnen auf Po und Brüste guckte, mal nicht so haben.

Und der liegt jetzt in einem Kühlfach und wartet auf seine Obduktion? Denn darauf wird es doch hinauslaufen, soweit ich aus dem «Tatort» mit ungeklärten Todesursachen vertraut bin.

Ohne mit jemandem zu sprechen, schlängele ich mich durch die aufgeregt diskutierenden Kollegen und stürze aus dem Lehrerzimmer, laufe direkt runter auf den Schulhof. Wo ist Frau Freitag? Die hat doch irgendwo hier draußen Aufsicht.

Bloß jetzt nicht der wichtigtuerischen Frau Nolte oder der haltlos heulenden Frau Schirmer in die Hände fallen. Und schon gar nicht dem Pommer, der garantiert damit angeben wird, dass er der Erste war, der von dem Unglück wusste.

Nein, ich will mit Frau Freitag sprechen, die soll mich angrinsen und sagen: «Bullshit, Frl. Krise. Günther! Den bringt doch nichts um.»

Und genau das sagt sie auch, nachdem ich sie endlich gefunden habe. Sie sitzt gelangweilt auf der Bank unter der großen Platane neben dem Bolzplatz und beaufsichtigt drei Siebtklässler, die sich lustlos einen Ball zukicken. Die anderen Schüler haben sich auf den großen Schulhof zurückgezogen, wo offensichtlich niemand Aufsicht macht.

Frau Freitag schüttelt den Kopf. «Der Günther. Tzzz. Tot. So schnell kann’s gehen. Meinst du echt, das war ein Unfall? Weshalb sollte der diese Treppe runterfallen?»

«Keine Ahnung.»

Es klingelt zur dritten Stunde. Die Schüler strömen zum Eingang, und wir gehen langsam hinterher. Heute wird man ja wohl mal zu spät kommen dürfen …

«Du musst das gleich deiner Klasse erzählen, Frau Freitag! Hat der Fischer gesagt – bevor sie es in der Zeitung lesen!»

Frau Freitag lacht auf: «In der Zeitung lesen! Natürlich. Meine lesen ja ununterbrochen Zeitung. Aber, na ja, vielleicht bringen sie es auch in der Abendschau! Der Lehrer A. aus Kreuzberg … Unfall! Frl. Krise, ich schwöre, da ist etwas faul. Ich hab’s im Urin.»

Der Altmann tot. Ich glaub es nicht. «Altmann, die alte Pottsau», wie ihn Hikmet immer nennt – nannte, muss ich nun wohl sagen. Und jetzt soll ich meiner Klasse davon erzählen. Soll ich das gleich machen? Oder am Ende der Stunde? Wie macht man so was? Wenn ich meiner Klasse damit am Anfang komme, ist wahrscheinlich der Unterricht gelaufen … hätte auch was für sich, dann kann ich die Stunde, die ich für heute vorbereitet habe, übermorgen halten und Donnerstag mit dem Freund ins Kino gehen.

«Guten Morgen, Frau Freitag!»

«Guten Morgen, Emre.»

«Frau Freitag, ich habe mein Englischbuch vergessen.»

«Ja, Miriam, ist nicht so schlimm, setz dich erst mal hin. Setzt euch alle mal hin. Ich muss euch was Wichtiges mitteilen.»

Ungewöhnlich zügig gehen sie an ihre Plätze und starren mich an.

«Was ist denn nun so wichtig, Frau Freitag?», ruft Hamza aus der letzten Reihe.

«Hitzefrei, vallah», schreit jetzt Fuat, springt auf und reißt die Arme hoch.

«Was hitzefrei, du Spast. Draußen ist übertrieben kalt.»

«Also, vielleicht habt ihr das ja eben gehört, dass Herr Fischer alle Lehrer ins Lehrerzimmer bestellt hat. Dort hat er etwas Wichtiges mitgeteilt. Nämlich, dass …», fange ich an und werde sofort von Hamza unterbrochen: «Nämlich, dass die Schule geschlossen wird.»

«Mann, lass sie doch mal ausreden. Frau Freitag, was denn? Was hat er gesagt?», fragt Rosa mit vorsorglich ängstlichem Blick.

«Ja, also, er hat gesagt, dass Herr Altmann tot ist.»

«Wie, tot?», fragt Rosa.

«Na, mausetot. Aus, Ende, finito», antwortet Ozan und fährt sich mit der flachen Hand quer über den Hals. Rosa wendet sich angeekelt ab, lässt aber nicht locker: «Aber wie ist er denn gestorben? Dienstag in Mathe war er doch noch hier.»

«Ja, wir hatten Hausaufgaben aufgekriegt. Frau Freitag, müssen wir die jetzt noch machen?», fragt Tayfun.

Oh Mann, warum kann ich nicht eine zehnte Klasse unterrichten! Diesen Achtklässlern den Tod eines Kollegen mitzuteilen ist gar nicht so einfach.

«Also, mit den Hausaufgaben, das weiß ich jetzt auch nicht. Und wie er gestorben ist … Herr Fischer hat wohl gesagt, er sei eine Treppe runtergestürzt.»

«Wie, Treppe? Welche Treppe?», fragt Rosa, in deren Hirn es offensichtlich mächtig rattert.

«Bestimmt die behinderte Treppe in Haus B. Ich schwöre, die ist voll Todestreppe. Da bin ich auch schon öfters runtergefallen. Mieses Teil», sagt Fuat wichtig.

«Ja, ich weiß auch nicht, welche Treppe. Ich war nicht bei der Dienstbesprechung. Frl. Krise hat es mir eben auf dem Hof erzählt. Mehr weiß ich nicht.»

«Unfall … tzzz», sagt nun Emre und lehnt sich vielsagend auf seinem Stuhl nach hinten. Er macht eine ausgedehnte Kunstpause, bis ihn alle angucken. «Unfall-Schmunzfall … das war bestimmt Mord!»

«Mord???», kreischt Rosa jetzt schrill und hält sich sofort die Hände vors Gesicht, als wäre sie dadurch vor potenziellen Mördern geschützt.

«Ja, hundertpro. Mord. Eiskalt. Ich bin sicher, der Altmann hatte Feinde.»

«Was soll denn ein Lehrer für Feinde haben?», mischt sich nun Can ein, der bisher noch gar nichts gesagt hat.

Feinde, Mord – denke ich. Was die Schüler sich da wieder zusammenspinnen. Aber eigentlich – man stirbt doch nicht an einem Treppensturz. Was soll das denn für eine Treppe gewesen sein? Der Altmann war ein sportlicher Typ. Der hätte sich doch locker abrollen können. Wer würde denn einen Lehrer umbringen? Und vor allem: warum? Okay, der Altmann war nicht gerade der Beliebteste im Kollegium und wahrscheinlich auch nicht Everybody’s Darling im Privatleben, aber Mord …

Oh Mann, wann klingelt es endlich? Ich will ins Lehrerzimmer. Der Fischer hat den anderen bestimmt noch mehr gesagt. Warum muss ich auch immer Aufsicht haben, wenn mal was passiert? Na, ich bin sicher, Frl. Krise ist bereits auf dem neusten Stand. Vor allem will ich wissen, was für eine Treppe das war. Und war seine Frau nicht schwanger? Die Ärmste. Aber die kriegt jetzt seine Pension, oder? Gibt es die eigentlich sofort – oder muss sie jetzt warten, bis er 65 geworden wäre? Wie alt war der Altmann überhaupt? Fragen über Fragen.

Irgendwann klingelt es, und meine Klasse verlässt den Raum Richtung Sporthalle. Ich gehe in den Kunstvorbereitungsraum. Ich muss unbedingt rauchen. Rauchen und nachdenken. Hoffentlich ist Frl. Krise auch dort. Die Tür ist verschlossen. Mist. Runter ins Lehrerzimmer zu gehen lohnt sich in der kleinen Pause nicht. Ich setze mich auf einen Hocker und öffne das Fenster. Rauchen und nachdenken.

Der Altmann. Tot. Warum soll der denn nicht umgebracht worden sein? Morde passieren doch dauernd. Nur weil man keinen Mörder und keine Mordopfer kennt, heißt das ja noch lange nicht, dass es so was nicht gibt. Vielleicht unterrichte ich ja in der einen oder anderen Klasse zukünftige Mörder. Auf jeden Fall müssen Mörder auch irgendwann mal zur Schule gegangen sein … Vielleicht wurde der Altmann von einem der Schüler umgebracht. Der Günther konnte schon ziemlich unfair sein. Das merken die sich.

Mist, jetzt klingelt es schon wieder. Was habe ich denn jetzt? Ach, Musik in der Neunten, mit Frau Schirmer. Vielleicht weiß die ja was Neues. Die kannte den Günther auch viel besser als ich. Doppelsteckung! Das ist echt eine tolle Sache. Zwei Lehrer unterrichten gemeinsam eine Klasse. So etwas gab es an meiner alten Schule gar nicht. Na ja, zusammen unterrichten ist eigentlich auch nicht der richtige Ausdruck – ich bin ja keine Musiklehrerin, darum macht die Schirmer den Unterricht, und ich kümmere mich um die Störer und die Ahnungslosen.

Vor dem Musikraum wartet schon die Neunte. Eine nette, pflegeleichte Truppe ist das.

«Frau Freitag, haben Sie gehört, mit Herr Altmann?», fragt mich Gülbahar mit aufgerissenen Augen.

«Mit Herrn Altmann! Ja, habe ich gehört.»

«Voll schlimm!», sagt Ebru, und alle Mädchen nicken. «Ich mochte ihn zwar nicht so, weil er war immer übertrieben streng. Wir hatten in der Siebten bei ihn Mathe. Ich hatte immer Angst vor ihn. Aber jetzt, wo er tot ist, tut er mir auch leid.»

Ich schließe den Raum auf, und die Schüler gehen auf ihre Plätze. Achte Klasse – neunte Klasse – echt ein Riesenunterschied. Wie ruhig und gesittet die sich im Raum bewegen. Ich stelle meine Tasche neben das Pult und wische die Tafel. Wo bleibt die Schirmer?

«Kann ich noch schnell was essen?», fragt Justin und wartet sogar auf meine Antwort, bevor er sein Frühstück rausholt.

Ich höre freudiges «Yoh!» und «Frau Freitag, Beste!», gehe zum Waschbecken und wasche den Schwamm aus. Ich werde noch die Innenseite der Tafel putzen. Bis ich fertig bin, ist die Schirmer ja hoffentlich aufgetaucht.

Als ich die Tafel aufklappe, geht die Tür auf und Kollegin Schirmer kommt rein, guckt mit abwesendem Blick auf die Schüler und schleicht dann zu mir. Sie sieht fertig aus. Ihre Augen sind dunkelrot. Hat sie etwa geheult? Geht es ihr nicht gut?

«Johanna, was ist denn? Hast du geweint? Ist was passiert?»

Die Schirmer guckt mich verwirrt an: «Na, der Günther … hast du denn noch nicht …?»

«Ja, ach so, klar, doch. Schlimme Sache. Ich weiß gar nicht, was …»

«Es ist so schrecklich. Der Günther … warum … warum gerade er?», ihre Augen werden wieder wässrig, und ich schiebe sie auf den Lehrerstuhl, suche in meiner Tasche nach einem Taschentuch.

«Hier Johanna, nimm!»

«Danke, Frau Freitag. Du, ich weiß gar nicht … ich kann, also der Unterricht … es ist so schlimm. Er war doch erst 49, das ist doch kein Alter … da ist man doch in den be…»

Ich lege ihr die Hand auf die Schulter und klopfe ein wenig auf die Stelle neben ihrem Hals. Es soll sie beruhigen. Vielleicht sollte ich ihr anbieten zu gehen.

«Ich mach das schon, Frau Schirmer. Beruhige dich erst mal.»

Dankbar nickt sie und bringt so etwas wie ein verheultes Lächeln zustande.

«Passt mal auf, Kinder, der Frau Schirmer geht es heute nicht so gut, und wie ihr ja sicher wisst, bin ich keine Musiklehrerin. Ich mache euch jetzt zwei Vorschläge: Ich könnte euch Englischaufgaben geben, oder ihr beschäftigt euch in der Stunde ruhig mit euch selbst und eventuell mit eurem Nachbarn.»

«Können wir Handy benutzen?», fragt Justin, und ich nicke.

«Ja, die Treppe am Reichstag. Da ist auch kein Geländer. Ich kenne diese Treppe. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der Günther da lag. Tot. Vielleicht lag er da die ganze Nacht. Es war doch so kalt, und hat es nicht auch geregnet?» Sie guckt mich fragend an. «Es hat doch nachts geregnet, oder?»

«Ja, ich glaube schon.»

«Der arme Günther. Im Regen. Ganz alleine. Vielleicht hat er ja noch gelebt.» Sie fängt wieder an zu schluchzen.

«Die Frau von dem Günther, die war doch schwanger, oder?»

«Ja. War sie. Also, ist sie …», antwortet Frau Schirmer und putzt sich so lautstark die Nase, dass sie von einigen Schülern verwirrte Blicke erntet. Das merkt sie allerdings nicht.

«Die tut mir so leid», sage ich. «Schwanger, und dann stirbt der Mann …»

«Ja, nun», sagt Frau Schirmer etwas kurz angebunden.

«Kanntest du Günthers Frau?», frage ich.

«Na, was heißt kennen? Ich habe sie ab und zu gesehen. Bei Schulfesten oder wenn wir von Klassenfahrten kamen, dann hat sie ihn immer abgeholt. Aber richtig kennen, nein.»

«Die muss ja sehr viel jünger gewesen sein, wenn er schon 49 ist, also war, und sie jetzt schwan…»

«Genau 21 Jahre jünger war die», unterbricht mich Frau Schirmer. Offensichtlich missbilligt sie den großen Altersunterschied zwischen dem Toten und der Schwangeren. «Jung und fordernd. Günther dies und Günther das … wie oft die angerufen hat, wenn wir unterwegs waren. An der Ostsee und vor allem, als wir mit der Klasse damals in Italien waren. STÄNDIG hat sein Handy geklingelt. Völlig unfähig war die – auch nur irgendwas alleine zu

Ich kann mir ein «Na, gut genug, um schwanger zu werden, ja wohl schon» nicht verkneifen.

«Der Günther wollte keine Kinder mehr. Der hatte ja schon aus erster Ehe drei. Zwei Söhne und eine Tochter. Die Söhne hat er auch nur ein-, zweimal im Jahr gesehen, und zu der Tochter hatte er gar keinen Kontakt mehr. Kinder – nein. Der war durch mit dem Thema.»

«Wie, keinen Kontakt?»

«Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist, jedenfalls sprachen die gar nicht mehr miteinander. Obwohl er den beiden Älteren ein teures Studium finanziert hat. Inklusive längere Auslandsaufenthalte. Und seiner ersten Frau musste er auch Geld zahlen, obwohl ihr neuer Freund der Besitzer einer großen Baufirma ist. Die war allerdings nicht so dumm, den zu heiraten, sondern holte sich ihr Geld schön von Günther.»

Interessant, denke ich. «Kanntest du seine erste Frau?»

«Die Bettina? Klar, die gehörte ja praktisch mit zum Kollegium. Die war Erzieherin bei uns. Eine Nette war das. Immer fröhlich und gut gelaunt. Als der Günther sich dann getrennt hat … das war schlimm für sie. Und für uns auch. Wir wussten ja nicht, zu wem wir halten sollten. Der Günther war ja schließlich noch Teil des Kollegiums. Schlimm war das. Eine schlimme Zeit. Die Betty hat dann die Stelle gewechselt. Ihr ging es erst besser, als sie ihren neuen Mann kennengelernt hat. Das war ein Schock für den Günther. Der Bernd war ein guter Freund von ihm. Aber die beiden haben nie mehr miteinander gesprochen. Irgendjemand hat erzählt, dass der Günther sich sogar mit dem Bernd geprügelt hätte, aber das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. So was passt doch irgendwie nicht zu Günther. Passt, passte … ach … es ist so schrecklich …»

Frau Schirmer schnäuzt wieder in ihr Taschentuch, und wir bleiben stumm nebeneinandersitzen und warten aufs Klingeln. Kurz

«Frl. Krise, ich … haben Sie mal … kann ich Sie mal sprechen? Also, ich und Samira, meine ich?» Vanessa pustet ihren langen Pony aus dem Gesicht und schaut mich mit großen Augen an. Samira, die neben ihr steht, kaut auf ihrem Daumennagel, blickt zu Boden und schweigt.

Die andern Schüler trudeln langsam aus der Klasse. Schulfrei nach der Vierten. «Danke, Herr Altmann!», sagt Dominic und klatscht sich mit Mehmet ab. Pietätlos.

Das war eine komische Stunde eben. Ich habe meine zehnte Klasse möglichst zartfühlend über Günthers Tod informiert. Sehr viel wusste ich ja auch nicht. Natürlich waren alle bestürzt. Kurz vor den Abschlussprüfungen stirbt der Mathelehrer weg – da darf man wohl erschrocken sein. Und überhaupt, Sterben, das ist für Jugendliche doch ein ganz schwieriges Thema. Schließlich rüttelt das an ihrem Gefühl von Unsterblichkeit, das sie normalerweise bis mindestens Mitte 20 behalten.

Aber da war noch etwas. Ich kann nicht genau sagen, was … Die Stimmung war so merkwürdig. Vielleicht kam es daher, dass einige Mädchen lange Blicke austauschten oder dass manche Jungen mit einem Anflug von Triumph oder Genugtuung oder Häme – ich weiß es nicht genau – die Faust ballten. Und dass nur Sarah in Tränen ausbrach. Bei so einer schönen Gelegenheit wird doch sonst immer querbeet geschluchzt und geheult, was das Zeug hält. Vielleicht hat mich auch verwundert, dass Sarah sich nicht beruhigen

Direkt beliebt war Günther in meiner Klasse jedenfalls nicht, dafür spielte er zu sehr den harten Hund, den Macho, den tollen Hecht. Und warum sollen meine Schülerinnen und Schüler Trauer heucheln?

Vanessa holt sich einen Stuhl ans Pult und setzt sich. Samira bleibt neben ihr stehen wie ein Stock.

«So, Mädels, was gibt’s?»

«Frl. Krise, Samira wollte Ihnen was erzählen. Aber die traut sich nicht!»

«Ich trau mich wohl, bloß …», Samira seufzt. «Man darf nicht schlecht reden über Tote, wa?»

«Erzähl ihr! Frl. Krise, Sie erzählen nicht weiter, oder?» Vanessa drückt Samiras Hand und guckt mich beschwörend an.

Ich schüttele den Kopf. Diese Geheimnistuerei! Was wird da wieder kommen … Ich will runter in die Cafeteria und mit den Kollegen quatschen. Vor allem mit Frau Freitag.

Samira lehnt sich an das Pult und starrt an mir vorbei zum Fenster. Sie spricht leise und tonlos: «Er, also der Altmann, hatte mich immer gefragt ‹Machst du dich für mich so hübsch, Samira?›. Und wenn ich ‹Nein› gesagt habe, dann ist er so nah an mich dran gekommen und hat gesagt ‹Schade, Samira›. Und dann er hat immer noch zu mir gesagt ‹Du kannst noch viel lernen von mir!›.»

«Da hat er nicht Mathe gemeint, ich schwör’s!», ruft Vanessa. «Mir hat er immer in den Ausschnitt geguckt! Und auf den Po, wenn ich an der Tafel war. Haben alle gesehen!»

«Kinder, Kinder!»

Was soll ich mit diesen Informationen anfangen? Weshalb erzählen die mir das erst jetzt, wo er tot ist? Ich glaube das alles auch nicht so ganz. Meine Mädchen neigen schwer zur Übertreibung

Gegen meinen Willen muss ich grinsen. Wenn der Günther jetzt hier sein könnte! Alle denken an ihn, alle reden über ihn, er steht total im Mittelpunkt. Das würde ihm mit Sicherheit gefallen.

«Frl. Krise, hören Sie mir eigentlich zu? Das ist noch nicht alles!» Samira guckt mich stirnrunzelnd an.

«Natürlich höre ich dir zu!» Wie lange dauert das jetzt noch? Ich brauche dringend einen Kaffee …

«Also!» Samira macht eine Kunstpause und zuppelt an ihrem blauen Glitzerkopftuch herum.

«Erzähl weiter!», drängt Vanessa.

«Also, das ist ja noch nicht alles. Ich habe alles meine Cousine erzählt. Sie kennen die bestimmt. Die war früher auch in diese Schule. Canan Ünver heißt die. Kennen Sie die?»

«Ich weiß nicht. Canan Ünver … vielleicht. Ja, doch … Ich glaube, ich erinnere mich. Was ist denn mit der?»

«Die war in der Klasse von den Altmann. Und auf Klassenfahrt hat der sie angefasst.»

«Wie angefasst?»

«Ach, ich weiß auch nicht.» Samira schluchzt auf. «Aber Canan hat gesagt, ihr Cousin Mehmet, also auch mein Cousin, wollte den Altmann umbringen, wenn er noch mal so was hört von ein Mädchen aus der Familie! Alle Mädchen von unsere Familie sind doch hier in diese Schule! Ich hab so Angst, Frl. Krise, dass mein Cousin das gemacht hat. Weil ich das erzählt habe! Dann bin ich schuld, wenn er ins Gefängnis muss.» Eine dicke Träne löst sich aus ihrem Auge und kullert über die Wange.

«Ach, Samira!» Ich nehme sie in den Arm. Sie zittert. «Das hat

«Versprechen Sie, nichts weiterzuerzählen!» Vanessa ist ganz blass. «Schwören Sie!»

«Ja, nein, ich erzähle nichts weiter!»

«Schwören Sie!» Samira löst sich aus meinem Arm und wischt sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. «Frl. Krise, bitte!»

«Meinetwegen, ich schwöre! Aber macht euch nicht verrückt. Und erzählt das bloß nicht überall rum von dem Cousin! Das gibt nur Ärger. Alles klärt sich auf, ihr werdet sehen. Und jetzt ab in die Pause!»

«Frl. Krise, ich brauche unbedingt noch Zigaretten», sage ich, während wir unsere Fahrräder durchs Schultor schieben. Ohne darüber zu sprechen, biegen wir rechts ab. Unsere gewohnte Route. Zum Späti. Der Späti ist ein kleiner 24-Stunden-Kiosk, in dem es alles gibt, was man braucht. Jedenfalls bekommt man dort das Nötigste, wenn die Supermärkte schon geschlossen haben. Zigaretten, Getränke aller Art, Knäckebrot, Dosenravioli und Butter. Von außen kann man in den Laden nicht reingucken, weil die Scheiben mit Plakaten und Postern vollgeklebt sind.

Die Tür ist allerdings immer und bei jedem Wetter geöffnet.

Der Laden ist klein. Sehr klein. Eigentlich ist es kein richtiger Raum, sondern nur ein großer Gang. Steht man vorm Tresen, dann bollern hinter einem die riesigen Kühlschränke, daneben hängen Regale an der Wand, in denen alle möglichen und unmöglichen Zeitschriften liegen, und unter den Zeitschriften steht die Eisbox, aus der vor allem Wassereis verkauft wird. Vorzugsweise mit Colageschmack. Hinten im Laden befindet sich ein weiterer schmaler Raum mit einigen Computern. Ich glaube, das soll ein

Man kann sagen, was man will, Onkel Ali macht den besten Kaffee, und er versteht sofort, was ich möchte, wenn ich einen «schwarzen Kaffee» bestelle.

Kurz vor Onkel Alis Laden dreht sich Frl. Krise plötzlich zu mir um: «Du, Frau Freitag, wir brauchen eine B.Z.!»

«Wieso brauchen wir eine B.Z.?»

«Der Pommer hatte heute eine mit. Bei der Dienstbesprechung.»

«Der Pommer liest B.Z.? Hätte ich jetzt nicht gedacht.»

«Na, jedenfalls steht da wohl schon was über den Altmann drin.»

«Dieser Wichtigtuer. War klar, dass der das schon wieder als

Stattdessen bekomme ich ein «Wieso ICH? Die kannst du doch auch kaufen».

«Ich kann die ja gerne bezahlen. Aber du kaufst sie.» Ich krame in meinen Hosentaschen, wo sich immer etwas Kleingeld befindet: «Was kostet so eine B.Z.?», frage ich und halte Frl. Krise drei 50-Cent-Stücke unter die Nase. Sie verdreht die Augen, grapscht sich die Münzen und betritt mit einem fröhlichen «Merhaba, Onkel Ali!» den Laden.

Onkel Ali lächelt: «Tachchen, Frl. Krise und Frau Freitag. Wie jeht’s? Schon Schulschluss? Zwei schwarze Kaffee?»

«Ja, Kaffee. Unbedingt!», antworte ich und lasse mich auf den Stuhl im Flur fallen. «Und Zigaretten brauche ich und …», ich gucke Frl. Krise an, die regungslos vorm Tresen steht.

Sie wirft mir einen giftigen Blick zu und sagt dann leise: «Und eine B.Z.»

«Ick wusste janich, dit du ooch B.Z. liest», sagt Onkel Ali, nimmt das Geld entgegen und legt die Zeitung neben den Feuerzeugaufsteller.

«Tja, man lernt eben nie aus», sage ich und kriege dafür einen Tritt von Frl. Krise.

«Aua, warum trittst du mich? Zeig mal her, was in der Zeitung steht!»

«Nur, dass der tot ist. Nichts Genaues.»

«Gibt es da kein Foto?»

«Nein, da steht nur ‹unbekannte Identität›.»

«Du, Frl. Krise, die Schirmer, mit der hatte ich doch gerade Musik in der Herzklasse, die ist total durch den Wind. Geheult hat die, als sei ihr eigener Mann gestorben.»

«Die waren doch gut befreundet … oder meinst du …?»

«Also den Tränen nach zu urteilen, würde ich sagen, der Altmann hat die flachgelegt.»

«Ach … nee, Frau Freitag, das glaub ich nicht. Der hat so eine

«Je oller, desto doller, sagt man doch. Oder heißt das umso oller, desto doller, Frau Deutschlehrerin?»

«Je oller, je doller. Du könntest recht haben, der war doch hinter jedem Rock her.»

«Na, das lässt sich ja rausfinden. Jedenfalls hat die sein Tod mehr mitgenommen als mich oder dich, und Frau Herz bringt ja sowieso nichts aus der Fassung. Ich kann einfach nicht glauben, dass das nur ein läppischer Unfall war.»

«Aber wer sollte den denn umbringen wollen … also, außer ein paar Schülern …»

«Mein Hikmet war heute richtig gut gelaunt. Frl. Krise, denk mal an die Klassenkonferenz. Hikmet wollte doch unbedingt in seiner alten Klasse bleiben. Der hatte den Günther bekniet, ihm noch eine letzte Chance zu geben.»

«Ja, ich erinnere mich. Krass, wie hart der Günther da blieb. Hikmet ist ja eigentlich gar kein schlechter Schüler. Bei mir war der immer ruhig, aber mit dem Altmann kam der gar nicht klar. Die beiden konnten überhaupt nicht miteinander.»

«Aber deshalb gleich einen Mord begehen? Ich weiß nicht! Glaubst du das, Frl. Krise?»

«Also, bei unseren Schülern würde ich mich über gar nichts wundern. Wenn die mal in ihrer Ehre gekränkt sind … Vielleicht war es auch jemand, den der Günther gar nicht gekannt hat.»

«Oder eine Exfrau oder ein eifersüchtiger neuer Freund von der Exfrau oder eine frustrierte Tochter oder eine gefickte und dann fallengelassene Frau Schirmer oder ein Drogendealer oder DU

«Du bist degoutant, Frau Freitag.»

«Nein, aber jetzt mal im Ernst, Frl. Krise, im richtigen Leben passieren doch auch Morde. Nicht nur in Krimis oder Filmen. Und wie gut kanntest du denn den Altmann? Der hatte bestimmt Dreck am Stecken. Vielleicht war das ganze Lehrersein nur Tarnung. Vielleicht hat der einen Prostitutionsring betrieben oder

«Onkel Ali! Was hast du der Frau Freitag in den Kaffee getan?»

Ali steckt seinen Kopf um die Ecke. «Wieso?»

«Die phantasiert sich was zusammen. Bei uns ist doch ein Kollege tödlich verunglückt. Stand auch in der Zeitung. Jetzt meint die, der wäre ermordet worden, weil er Mädchenhändler war!»

«Moment mal!» Ali wuchtet irgendeinen Karton hinter die Theke und steckt sich eine Kippe an. «Wie hieß denn der?»

«Altmann. Günther Altmann», sagt Frl. Krise.

Ali zieht an seiner Zigarette: «Altmann? Altmann? Ick gloobe, den Namen hab ick doch neulisch schon ma jehört … muss ick mal nachfrajen … noch mehr Kaffee?»

Oh Gott, schon fast vier Uhr. Und Gegenwind. Und mein Hinterrad ist halb platt. Diese Friesenstraße – muss die so steil sein? Frau Freitag weiß schon, warum sie so selten mit dem Fahrrad fährt. Aber lieber den Berg hoch keuchen als tot in einer Kühlschublade der Gerichtsmedizin liegen. Der arme Günther. Und die arme Franziska. So jung und schon Witwe und alleinerziehend. Wie hat der Günther diese Frauen immer leicht verächtlich genannt? Allein-verziehend. Na ja. Wann wohl das Baby von der kommt? Ich muss morgen Frau Schirmer fragen.

Soll ich noch schnell Brot holen? Irgendwas hatte Männe mir doch nachgerufen heute Morgen. Keine Lust auf Essen, mir ist der Appetit vergangen.

Ah, da steht ja mein Männe schon vor der Haustür! Tappt von einem Bein aufs andere. Und neben ihm ein ockerfarbener Kinderwagen.

Ach, du Scheiße! Ich habe die Verabredung mit meiner ehemaligen Schülerin Eileen vergessen! Ausgerechnet heute! Eileen hat irgendeinen Termin, und wir hatten gestern ausgemacht, dass ich in der Zeit kurz auf ihr Baby aufpassen sollte.

«Weiß ich auch nicht. Komm, wir tauschen!», sage ich und übernehme den Kinderwagen. Männe schließt mein Fahrrad ab.

Baby Viktoria-Estelle liegt gemütlich auf einem Schafsfell, ist zugedeckt mit einer rosafarbenen Wolldecke und schlummert tief und fest. Acht Wochen ist sie alt. Ihre bläulichen Augenlider zucken ein bisschen, und ihre kleine Unterlippe zittert beim Ausatmen.

«Guck doch mal, Männe. Ist die nicht süüüüß? Zu niedlich! Die dicken Bäckchen! Diese weiche Haut! Und so kleine Händchen! Sie ähnelt Eileen, oder?»

«Ich hab sie mir doch schon zehn Minuten lang angeguckt», knurrt Männe. «Ja, das süßeste Kind von ganz Berlin! Eine verhinderte Prinzessin. Eure Winzigkeit! Warum bist du so spät?»

«Hilfst du mir mal den Wagen hochtragen? Ich erzähle es dir oben!»

«Nimm sie doch raus! Diese Karre kann man ohne Bedenken im Flur stehen lassen. Die klaut bestimmt niemand.» Männe guckt angeekelt wie ein Formel-1-Fahrer, dem man einen Trabbi untergeschoben hat.

«Eileen hat doch so wenig Geld! Männe, du könntest mal gelegentlich bei eBay nach was Schönerem suchen.»

Das Wort eBay versetzt Männe augenblicklich in bessere Laune. Seine steinzeitlichen Gene lechzen ständig danach, etwas zu erlegen, und sei es auch nur eine Kofferraummatte oder Katzenstreu.

Kaum haben wir den Kinderwagen in den zweiten Stock geschleppt, wacht Viktoria-Estelle auf. Zum Glück kann ich gerade noch das Fläschchen anwärmen, bevor ein großes Gebrüll einsetzt.

«Sieht aus wie ein Gummibärchen, die Prinzessin», sagt Männe

Während «Eure Winzigkeit» in meinem Arm an der Flasche nuckelt, erzähle ich Männe die Geschichte von Günthers Ableben. Männe ist mäßig interessiert, schließlich kannte er Günther nicht persönlich, er liest kopfschüttelnd den Artikel in der B.Z. und findet, Frau Freitag und ich hätten viel zu viel Phantasie. Die Polizei habe sicher recht, von einem Unfall auszugehen. Dann verzieht er sich händereibend in sein Arbeitszimmer, um weltweit nach dem perfekten und preisgünstigsten Kinderwagen zu fahnden.

Ich hänge mir das Baby über die Schulter und gehe auf der Teppichkante auf und ab. Warten aufs Bäuerchen! Aber das dauert … Ich könnte Viktoria-Estelle erzählen, dass sie nicht das einzige Kind ist, das alleinerziehend groß wird. Das Baby von Günther …

«Aber du hast ja auch noch das liebe Frl. Krise und den alten Opa Männe, und bestimmt findet deine Mama auch bald einen neuen Papa für dich!»

«Hast du mich etwa gerade Opa genannt?», ruft Männe aus seinem Zimmer.

«Niemals! Wie kommst du darauf? Hast du schon einen Kinderwagen gefunden?»

«Es gibt Tausende. Ich muss mich erst mal in die Materie einarbeiten. Marktforschung. Ist ja unfassbar, was die Dinger kosten!»

«Vickilein, hoffentlich findet Opa Männe noch was für dich, bevor du Abitur machst!»

Es klingelt. Eileen stürzt herein. Sie lässt sich auf die Couch fallen und herzt und küsst ihre Tochter.

«Frl. Krise, ich bin fix und fertig! Aber ich bekomme die Wohnung ziemlich sicher! Gut, wa?» Eileen hat sich mitten in der Schwangerschaft von Viktoria-Estelles Vater getrennt und ist jetzt auf Wohnungssuche. Im Moment ist sie bei ihrer Schwester untergekommen, aber die Situation setzt ihr zu. Sie sieht schlecht aus und wirkt überfordert. Man müsste sie noch mehr unterstützen, denke ich, sie ist so jung und ganz alleine.

«Ach, das ist lieb, echt.»

«Eileen, mal was ganz anderes. Hattest du nicht den Altmann als Mathelehrer?»

«Ja … dieser grässliche Kerl. Aber gelernt hat man was bei dem! Warum?»

«Er ist tot. Eine Treppe runtergestürzt. Die Polizei weiß noch nicht genau, ob es ein Unfall war oder ein Verbrechen.»

«Echt? Bestimmt Mord! Das war doch so ein Ekel!», sagt Eileen ungerührt und schnüffelt an Viktoria herum.

«Hast du sie schon gewickelt?»

Während Eileen das Baby sauber macht, erinnert sie sich: «Der Altmann, der hatte es doch immer so auf hübsche Mädchen abgesehen. Die Canan Ünver … mit der soll der ja damals was gehabt haben! Aber ihr Lehrer habt ja nie was mitbekommen.»

«Wann damals?»

«Auf Klassenfahrt. Ich weiß nicht mehr, wohin. Die heiratet übrigens bald, die Canan.»

«Hast du noch Kontakt zu ihr?»

«Na klar. Über Facebook. Ich bin zur Hochzeit eingeladen, aber ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. So, fertig. Viktoria-Estelle ist groß geworden, wa? Die ersten Sachen sind schon viel zu klein für sie.»

Wenn das mit den Klamotten ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte, so ist er bei mir angekommen. Aber eine Hand wäscht die andere …

«Poste das mit dem Altmann mal bei Facebook, Eileen. Vielleicht kriegen wir was Interessantes über ihn raus!», schlage ich vor.

«Wenn du willst, gerne. Hör mal, Frl. Krise, ich muss morgen zur Frauenärztin. Um drei. Könntest du die Kleine dann noch mal nehmen? Bitte! Ausnahmsweise!»

Ich schmeiße meine Schultasche neben meinen Schreibtisch und lasse mich auf die Couch fallen.

Der Freund kommt mit zwei Tassen rein und setzt sich neben mich.

«Hier, trink erst mal einen Kaffee. Wie war’s denn heute in der Schule?»

«Och, eigentlich easy. Aber ein Kollege wurde ermordet. Deshalb hatten wir früher Schluss, und ich war mit Frl. Krise noch bei Onkel Ali», antworte ich und zünde mir eine Zigarette an. Ich fühle mich wie erschlagen, dabei hatten wir schon nach der vierten Stunde Schluss, und richtigen Unterricht gab es heute ja auch nicht.

«Was? Wie, ermordet?»

«Also, die sagen zwar, dass es ein Unfall war. Aber ich bin sicher, da steckt mehr dahinter. Treppensturz. Tzzz, glaube ich niemals.»

«Und wer …»

«Günther Altmann. Mathe, Physik.»

«Dieser Weiberheld?»

«Ja, der. Und ein Angeber war das! Als ich neu an der Schule war, da hat er mir immer gute Ratschläge geben wollen. Aber immer so durch die Blume, dass er es ja wohl viel besser draufhätte als ich. Immer so Sprüche wie: ‹Echt, das traut der Soundso sich bei dir? Also bei mir ist der ganz ruhig.› Damit wollte der doch nur betonen, wie gut er die Schüler im Griff hat. Unangenehmer Typ.»

«Na, besonders traurig scheinst du jedenfalls nicht zu sein.»

Ich denke nach. Nein, traurig nicht. Geschockt? Klar. Tot. Das hat immer so etwas Endgültiges, und damit tue ich mich schwer. Deshalb habe ich auch keine Tätowierungen. Wäre einfach zu endgültig. Dabei hätte ich gerne einen Dolch auf dem Oberarm, mit einer Banderole, auf der RACHE steht.

«Ich habe Hunger, gibt es was zu essen?», frage ich den Freund.

«Ja, Lasagne. Ist schon im Ofen, dauert aber noch. Wie ist der

«Angeblich ist er nachts eine Treppe am Reichstag runtergestürzt. Wahrscheinlich Genickbruch.»

«Am Reichstag?», fragt der Freund und denkt nach.

«Hmm! Gibt es auch Salat?» Ich habe solchen Hunger.

«Was hat er denn da gemacht? Am Reichstag, da ist doch gar nichts?»

«Keine Ahnung. Vielleicht wollte er spazieren gehen.»

«Nachts? Da?»

«Tja, weiß ich auch nicht, die Polizei wird das schon rausfinden.»

«Meinst du denn, die ermitteln überhaupt? Wird denn bei so was überhaupt ermittelt? Du hast doch gesagt, die denken, es sei ein Unfall gewesen.»

«Keine Ahnung, ob die sich das genauer ansehen.» Langsam habe ich keine Lust mehr, über Günther Altmann und seinen mysteriösen Tod zu sprechen. Ich habe nur noch Hunger und freue mich auf meine abendliche Dosis Fernsehen. Ich habe heute schon genug gesprochen, und der Freund scheint das zu merken, denn er verschwindet in die Küche. Hoffentlich gibt es auch Salat.

Ich schalte den Fernseher an und zappe mich durch die Programme.

Das Telefon klingelt.

«Ist für dich!», ruft der Freund aus der Küche. «Frl. Krise. Sie sagt, es sei wichtig. Irgendwas mit Facebook.» Ich stehe auf und hole mir das Telefon.

«Frl. Krise, was gibt’s?»

Im Lehrerzimmer ist es ganz still. Nur Frau Herz sitzt in ihrer Ecke und arbeitet verbissen vor sich hin. Günthers Platz ist frei geräumt. Eine kleine weiße Kerze brennt an der Stelle, an der immer seine grüne Thermoskanne stand. Daneben ein silbergerahmtes Foto – Günther, breit lachend vor der Wandkarte des Periodensystems im naturwissenschaftlichen Hörraum. Eine halb aufgeblühte Lilie liegt davor.

«Mein Gott, das ist ja hier wie in einer Kapelle», rutscht mir raus. «Wer hat das gemacht? Das hätte der Günther aber lächerlich gefunden!»

«Das war die Schirmer, Frl. Krise!» Frau Herz legt ihren Stift beiseite und guckt mich grimmig an. «Diese Deko ist alles, was die heute zustande gebracht hat. Ach nee, sein Fach hat sie auch noch ausgeräumt. Dann ist sie heulend zusammengebrochen und nach Hause gegangen, vielmehr gefahren worden. Der Fischer hat ihr ein Taxi bestellt. Die ist so was von over, sag ich dir!»

«Fach ausgeräumt. Warum das denn? Die Leiche ist noch nicht kalt und schon …!»

«Keine Ahnung, den Kram will sie der trauernden Witwe bringen. Na, die wird sich freuen – über Einladungen zur Fachkonferenz, Schülerlisten und so was.»

Günthers Tod hängt wie eine dunkle Wolke über der Schule. Die Polizei war da, erzählt Frau Herz, und hat um «sachdienliche Hinweise» aus dem Kollegium gebeten. Neben der Kaffeemaschine hat irgendjemand eine alte Keksdose aufgestellt. «Für den Kranz» steht auf dem Zettel neben der Dose, und auch ein Hinweis auf die Kondolenzkarte, die Frau Nolte – wer sonst – verwaltet, fehlt nicht. Am Schwarzen Brett hängt der Artikel aus der B.Z.

Wer will sich an der Gestaltung der Trauerfeier für Günther beteiligen? gez. Fischer

Niemand hat sich bisher gemeldet. Mir ist das zu depressiv hier. Ich flüchte in Richtung naturwissenschaftlicher Trakt.

Unterwegs auf dem Hof atme ich auf. Es ist schließlich trotzdem Frühling, ein leichter Wind geht durch die Bäume, die Sonne scheint, weiße Wölkchen schweben am hellblauen Himmel, und ein paar Spatzen zanken sich um die Reste eines Schulbrots. Plötzlich ist Kollege Wernitzki neben mir.

«Mann, Hannes, hast du mich erschreckt! Warum schleichst du dich so an?»

Hannes grinst. «Sorry, Frl. Krise! Wohin des Wegs?»

«In die Biologie!»

«Da muss ich auch hin. Also, in die Chemie. Versuche aufbauen.»

Hannes Wernitzki ist nicht gerade mein Lieblingskollege. Er ist der drögeste Typ, den man sich vorstellen kann, ein Langeweiler vor dem Herrn. Außer Computer, Autos und seine Wohnwagenurlaube hat der keine Themen. Eine Eigenschaft hasse ich besonders an ihm: Er pfeift ständig leise vor sich hin. Auch jetzt fängt er wieder damit an und schlenkert im Takt dazu unternehmungslustig seine abgestoßene schweinslederne Tasche. Aber zumindest ist er immer freundlich. Er ist bekannt dafür, dass er Konflikten weiträumig aus dem Weg geht und die Arbeit nicht gerade erfunden hat. Wegen seiner milden Notengebung mögen ihn die Schüler, aber die meisten Kollegen nehmen ihn nicht ganz ernst.

Der Biologievorbereitungsraum liegt gleich neben den Chemie- und Physiksammlungen. Dass der faule Hund in seinen Freistunden Versuche aufbauen will, wundert mich. Aber bitte!

Wernitzki verschwindet pfeifend in seinem Sammlungsraum.

Was ist das denn? Mitten auf dem offensichtlich leergeräumten Tisch in der Biologiesammlung steht ein kleines gerahmtes Foto

Ausräumen konnte die Schirmer hier aber nichts. Die Schränke der Kollegen sind abgeschlossen. Der Altmann belegte als Fachleiter natürlich mehr Schrankraum als wir simplen Lehrer. Typisch. Der hatte sogar im letzten Jahr ungefragt einen der Schränke von mir in Beschlag genommen. Na gut, besser gesagt ein Schränkchen. «Nur dieses Halbjahr», hatte er geflötet. Weil ihm der Platz nicht ausreichte und ich ja kaum noch Bio unterrichtete. Ich bin ein gutmütiger Mensch und habe ihm den Schrank auch großzügig überlassen. Allerdings behielt ich den Zweitschlüssel dazu. Sicher ist sicher …

Ich könnte ja jetzt mal nachsehen …

Nur der Günther, der stört mich! Muss der mich so anschauen? Ich gebe dem Bilderrahmen einen Schubs. Mit einem kleinen Knall fällt das Foto um.

Und schon habe ich das Schränkchen geöffnet, hocke davor und staune. Der ordentliche Günther! Ist das ein Chaos hier! Nachlässig aufeinandergeschichtete Arbeitsblätter, Folien, Hefter und Fachzeitschriften füllen das obere Fach bis zum letzten Millimeter, unten stehen dafür nur vier Leitzordner und eine offene Box mit allerhand Krimskrams: Stifte, Scheren, Klebstoff, ein Locher, ein Jonglierball, Bindfaden, eine Schachtel Hustenbonbons, ein paar Batterien, eine Lupe, ein alter Lehrerkalender, ein paar zusammengefaltete Zettel – das war’s. Nichts Spektakuläres. Noch eine runde Dose. Kreide – natürlich!