Inhalt

Alexandra Fischer

Joli
Rouge

Joli_Schiffschwarz

Historischer Roman

Astrid Behrendt
Rheinstraße 60, 51371 Leverkusen
www.drachenmond.de, info@drachenmond.de

Korrektorat
Michaela Retetzki

Satz, Layout
Martin Behrendt

Umschlaggestaltung
Marie Graßhoff

Bildmaterial
Shutterstock

ISBN: 978-3-95991-074-3
ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-073-6

Yo ho ho & Danke…

… an meine Leser – ihr erweckt die Geschichte in euren Köpfen erst zum Leben!

… an Karl und Christina – ohne euch wäre ich heute keine »Wortfischerin« und dieser Roman wäre vermutlich nie geschrieben worden!

… an Rainer Wekwerth, der eine Art Hebamme für dieses Buch war!

… an Claudia Pietschmann, die meiner Jacquotte das erste Lektorat verpasste und mir den Mut zur Selbstveröffentlichung gab!

… an Astrid, die beste Verlegerin der Welt, die meiner Piratin einen Heimathafen schenkte, als ich schon nicht mehr daran glauben wollte!

… an Marie Grasshoff, die dieses wunderschöne Cover zauberte und mich damit verzauberte!

… an Sandra Sassie, die den Kontakt zum Drachenmond Verlag geknüpft hat – eigentlich mit einer anderen Geschichte als dieser (aber dann erwähne ich dich eben zweimal)!

… an meinen Onkel Matthias, der die Illustrationen zu diesem Roman gemacht hat und sich geduldig anhörte, wie ich mir meine Protagonisten vorstelle!

… an meine Familie und Freunde, die an mich glauben, mich trösten und bestärken und sich meine manchmal ziemlich verrückten Ideen geduldig anhören!

… an meinen Mann, der mich unterstützt und sich damit abgefunden hat, dass ich »in der Matrix« lebe – du bist mein größter Piratenschatz!!!

… an die Heldin dieses Romans, Jacquotte Delahaye, die wirklich einmal gelebt hat, mich inspirierte und begeisterte – ich hoffe, ich wurde deinem Leben mit meiner Geschichte gerecht!

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Für alle meine Mädels,
in denen ebenfalls
ein Piratenherz schlägt!

Der Traum vom Horizont

»Träumt nicht jeder von uns vom Horizont? Davon, dass es dort anders ist, womöglich gar besser? Ich tat es«, flüsterte Rosa von Bahlow und dachte daran, dass jede ihrer drei Töchter einen Mann liebte. In Anbetracht der Umstände jedoch jede von ihnen den falschen.

Apia, 1902: Die adelige Familie von Bahlow kommt aus Potsdam in die Kolonie Deutsch-Samoa, um dort einen Neuanfang zu wagen. Während der ehrgeizige Karl von Bahlow davon besessen ist, sich als Pflanzer einen Namen in der Kolonie zu machen, erleben seine Frau Rosa und die drei Töchter Grethe, Helene und Martha den Umzug in die neue Heimat auf ihre ganz eigene Weise. Die fremdartige Kultur der Südsee verändert jede der vier Frauen, beschwört schicksalhafte Begegnungen herauf und zeigt ihnen den Zauber der Liebe, während sich die Ereignisse schließlich überstürzen und im Ausbruch des ersten Weltkrieges gipfeln, der alles auseinanderzureißen droht.

Lassen Sie sich in die exotische Welt von Samoa entführen und erleben Sie eine Familiensaga vor dem Hintergrund der deutschen Kolonien in der Südsee und in Ostafrika!

Prolog

»In all den Jahren und nach all den Schicksalsschlägen hat mein dummes Herz nichts dazu gelernt.«

Der Satz hämmerte in ihrem Kopf und katapultierte Helene zurück in die Gegenwart. Sie zitterte. Erst langsam hoben sich die Schatten der Vergangenheit und ließen sie blinzeln. Samoa war unser aller Schicksal. Der unsägliche Schmerz einer nie verwundenen Liebe durchflutete Helene mit ganzer Kraft und ließ sie schwanken. Hilflos hielt sie sich am Fenstersims fest und starrte auf die Schlieren, die das Wasser auf den Sprossenfenstern hinterließ.

Der seit Tagen andauernde Herbstregen des Jahres 1920 prasselte auf das Dach des schmalen Backsteinhauses nieder, während ein böiger Wind an den alten Dachschindeln rüttelte. Der Rhein, der nur wenige Straßen entfernt lag, war durch die Niederschläge bereits angestiegen und die Bewohner von Königswinter beobachteten den Wasserstand mit besorgten Blicken.

Helene kümmerte sich nicht darum, denn das Warten nahm kein Ende und begann, sie zu zermürben.

Warum tust du mir das an?

Seit den Morgenstunden schon verharrte sie im düsteren Wohnzimmer, dessen spartanische Einrichtung noch von den vergangenen Kriegsjahren zeugte. Dabei behielt sie die Straße stets im Blick. Die aufkeimende Nervosität fühlte sich wie ein Stein an, der auf ihrer Brust lag und ihr das Atmen erschwerte.

Zum wiederholten Male betrachtete sich Helene im Spiegel und strich das schlichte, schwarze Kleid glatt, das ihre dünnen Gliedmaßen kaum zu verbergen vermochte. Ihre mattblonden Haare waren ordentlich hochgesteckt und sie trug ein neues Paar Schuhe. Das erste, das es seit Kriegsende zu kaufen gegeben hatte und das ihre dürftige Garderobe ein wenig aufwertete. Sie wollte ordentlich aussehen, wenn sie ihrer Schwester gegenübertrat.

Martha.

Ängstlich blickte Helene ihrem Spiegelbild in die grauen Augen und stellte fest, dass sich um Mund und Lider harte Linien gebildet hatten, die sich abmilderten, wenn sie lächelte. Doch das tat Helene viel zu selten. Selbst in diesem Moment kam sie sich bei dem Versuch, einen glücklichen Ausdruck aufzusetzen, albern vor und straffte die Schultern. Ihre Wangenknochen ragten spitz aus dem schmalen Gesicht. Einzig ihre Lippen waren voll und leuchteten übertrieben rosig in der fahlen Blässe. Auf ihrer Stirn pulsierte eine Ader, das einzige Anzeichen, das verriet, unter welch enormer Anspannung Helene stand.

Rasch trat sie einen Schritt zurück und wandte sich wieder dem Fenster zu. Draußen hatten sich bereits große Pfützen auf dem ausgefahrenen Weg gebildet, der am Haus der Familie vorbeiführte. Noch immer war die Droschke nicht in Sicht. Fröstelnd rieb sich Helene die Oberarme.

In ihrem Rücken schwollen die Stimmen ihrer vier Kinder an. Sie wandte sich ihnen zu und beobachtete das lebhafte Treiben. Der neunjährige Hans mit seinen hellbraunen, korrekt gescheitelten Haaren verteidigte das Schaukelpferd vor den Übergriffen seiner siebenjährigen Schwester Gertrud und denen der fünfjährigen Emilie, die wütend mit dem Fuß aufstampfte. Daraufhin begann der sechs Monate alte Ernst, der bäuchlings auf einer Decke am Fußboden lag, erfreut zu krähen und langte nach dem abgegriffenen Ball, der vor ihm lag. Dabei spreizte er seine dicken Fingerchen und blubberte Unverständliches.

Helene ließ ein beruhigendes Summen hören. Sie genoss es, wenn ihre Kinder sorglos spielten. Zu lange hatten sie Not und die Sorgen der Erwachsenen ertragen müssen, als dass Helene es nun über sich gebracht hätte, sie zu maßregeln. Auch wenn sie wusste, dass ihr Mann sich gerade hingelegt hatte, um seine tägliche Mittagsruhe zu halten, auf die er bestand, seit er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war.

Der Lärm machte Helene nichts aus. Es war eher so, dass er sie beruhigte, während Stille sie ängstigte und ihr das Gefühl gab, alleine zu sein. In ihrem Elternhaus war es stets totenstill gewesen. Kein Lachen, keine lauten Konversationen oder Schritte hatte ihr Vater zugelassen. Helene holte tief Luft und kämpfte gegen alte Erinnerungen an. Es hatte eine Zeit gegeben, in der es ihr gelungen war, viele Details ihrer Kindheit zu verdrängen, ebenso wie manch andere Erlebnisse. Doch mit dem angekündigten Besuch ihrer Schwester Martha kam alles schmerzhaft zurück an die Oberfläche.

Helene legte die Hand an die Fensterscheibe und dachte an ihre Mutter, die sie ihr ganzes Leben hauptsächlich in dieser Stellung gesehen hatte: Gedankenverloren am Fenster stehend, als wollte sie die Welt dort draußen um Hilfe anflehen.

Samoa hat meiner Familie kein Glück gebracht.

Einzig die jüngste Schwester hatte gemeinsam mit Helene die Auswanderung in die Südsee-Kolonie überlebt. Helene sah sie vor ihrem inneren Auge. Als Kind hatte Martha wilde, hellblonde Locken gehabt, die keine Haarspange zu zähmen vermochte. Ebenso unbändig wie ihre Haare war auch die Schwester selbst. Nicht zum ersten Mal erlebte Helene dieses Temperament in ihrer Tochter Emilie und konnte nur darüber staunen, dass sie eine derartige kleine Rebellin in die Welt gesetzt hatte.

Ihre Meinung über sich selbst war nicht besonders hoch. Helene hatte leidvoll erfahren müssen, dass sie eine Frau war, die man ständig übersah. Sie galt als schweigsam und verschlossen. Die wenigen Bekannten, die ihr vergönnt waren, lebten nicht in ihrer Nähe, und es fiel ihr schwer, neue Freundschaften zu schließen. Sie ging nicht gerne auf Fremde zu. Zu sehr fürchtete sie sich davor, verletzt zu werden, zu oft hatte sie in ihrem Leben Zurückweisung erlebt.

Einzig ihren Kindern fühlte sie sich nahe. Von ihnen drohten ihr keine Ablehnung, keine Unaufrichtigkeit und keine Missachtung.

Helene schluckte die Tränen herunter. Sie war verärgert, dass der Besuch ihrer Schwester sie derart aus der Fassung brachte und all diese Emotionen in ihr hervorrief. Sie schätzte ihr Leben in Deutschland, auch wenn es die letzten Jahre alles andere als angenehm gewesen war. Noch bis vor kurzem hatte sie geglaubt, gestärkt aus dem zermürbenden Krieg hervorgegangen zu sein, doch die trügerische Selbstsicherheit hatte sich mit nur einem Telegramm in ein Sammelsurium aus Empfindungen verwandelt. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder in ihre Jugend zurückversetzt, die sie in der Kolonie Deutsch-Samoa verbracht hatte, und die sie aus mannigfaltigen Gründen lieber vergessen wollte.

Aber es lässt mich nicht los. Welch schmaler Grat doch zwischen Liebe und Leid liegt.

Gedankenverloren knetete sie die vertrocknete Palmnuss in ihrer Tasche, die all die dunklen Geheimnisse ihrer Familie barg. Diese Nuss war ein besonderes Erbstück ihrer Mutter und Helene hatte sich vorgenommen, die Nuss Martha zu geben, wenn sie sich sahen. Vielleicht würde es Martha helfen, zu verstehen, was Helene seit langem als Last mit sich herumtrug. Vielleicht.

Als Helene das Klatschen von Hufen auf dem morastigen Weg hörte, schrak sie zusammen und ihr Herz tat einen Sprung. Sie erkannte eine herannahende Droschke und ermahnte ihre Kinder zur Ruhe. Dann zupfte sie hektisch an ihrem Kleid und eilte in den Flur. Kurz bevor sie die Haustür öffnete, legte sie die Hand auf ihre Brust, um sich zu beruhigen.

Haben wir uns tatsächlich elf Jahre nicht mehr gesehen?

Ihre Finger zitterten. Sie griff nach der Klinke, holte tief Luft und setzte jenen maskenhaften Ausdruck auf, mit dem sie sich in der Öffentlichkeit zu schützen suchte.

Die schwüle Luft traf sie wie ein Schlag und benetzte ihre Haut augenblicklich mit Feuchtigkeit.

Beinahe wie in Apia.

Der Kutscher nickte ihr zu, hob eine Reisetruhe hinunter und bot der Frau in der Droschke die Hand. Helene erbebte innerlich, als sie die hellblonden Haare ihrer Schwester sah, die weder ein Hut noch ein Kopftuch schützten. Noch aufreizender als früher bauschten sich die Locken um ihr Gesicht, denn inzwischen reichten sie Martha nur noch bis zum Kinn. Das war ein gewagter Schnitt. Typisch für ihre Schwester, die sich noch nie in eine Norm hatte zwängen lassen.

Mit eingezogenem Kopf wartete Martha im Regen, bis auch ihre zwei Söhne die Droschke verlassen hatten, dann eilten sie gemeinsam in Richtung Haus. Mit je einem Jungen an der Hand sprang Martha wenig damenhaft die drei Stufen zum Eingang hinauf und blieb mit geröteten Wangen vor Helene stehen. Diese hielt den Atem an. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ein wenig hatte sie gehofft, dass die vergangenen Jahre nicht spurlos an ihrer Schwester vorübergegangen waren.

Ein Blick in die tiefblauen Augen Marthas genügten ihr jedoch, um zu erkennen, dass diese nicht zerbrochen war. Weder am Krieg, noch an ihrem Schicksalsschlag. Helene spürte den Kloß in ihrem Hals und bemühte sich, zu lächeln.

»Willkommen!« Ihre Stimme klang brüchig.

Martha nickte. Entgegen ihrer Ausstrahlung gab sie sich ungewohnt zurückhaltend, was Helene nur begrüßte. Zu groß war ihre Angst gewesen, in den Armen der Schwester endgültig die Beherrschung zu verlieren.

»Kommt bitte herein!« Helene machte den Weg frei und ließ ihre Schwester und die Neffen eintreten. Der Kutscher folgte mit dem Gepäck.

Martha bezahlte den Mann und verabschiedete sich freundlich, dann wartete sie, bis Helene die Tür geschlossen hatte. Reglos standen sich die Schwestern gegenüber und Helene hatte das Gefühl, als würde der Flur um sie herum immer enger. Die beiden Jungen hielten die Köpfe gesenkt und beobachteten die ihnen fremde Tante unter ihren dichten Haarschöpfen hervor.

»Das sind Robert und Paul«, stellte Martha ihre Söhne vor.

Helene ergriff nacheinander die feuchten Hände der Kinder und zwinkerte nervös, als sie die dunkle Hautfarbe des Älteren bemerkte.

Du kannst unmöglich Berts Sohn sein!

»Ich habe einen Kuchen gebacken«, sagte sie schnell, um sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. »Leider ist er nicht richtig aufgegangen. Es fehlt noch an den Zutaten.«

Martha lächelte und Helene fühlte sich der Situation nicht mehr gewachsen.

»Ich gehe ihn holen«, schloss sie, froh, der Schwester, wenn auch nur für kurze Zeit, zu entkommen.

»Das Wohnzimmer ist den Flur hinunter«, rief sie Martha im Davoneilen zu. »Geht einfach hinein, die Kinder erwarten euch schon.«

Die Antwort wartete Helene nicht ab, sondern hastete über den Gang in die großzügige Küche. Erschöpft stützte sie sich dort am Fenstersims ab. Sie hörte, wie sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete und wieder schloss und sich kurz darauf die Stimmen ihrer Kinder vor Aufregung überschlugen.

Wie unschuldig sie sind!

Helene wünschte sich für einen kurzen Moment dieselbe Sorglosigkeit. Dann nahm sie sich wieder zusammen und überprüfte ihre Haare auf den richtigen Sitz hin.

Ihr Blick streifte den Kuchen und sie schämte sich, weil er so unvollkommen aussah. In den Läden herrschte noch immer Angebotsmangel und selbst die schöne, goldbraune Farbe konnte nicht über die hässliche Mulde hinwegtäuschen, die sich in der Mitte des Kuchens gebildet hatte. Helene hob ihn hoch und drehte ihn unschlüssig in den Händen, während ihr ein gewagter Gedanke durch den Kopf schoss.

Wenn dein Sohn nicht von Bert ist, von wem ist er dann?

Sie wehrte ein Aufwallen von Gefühlen ab und lief in gewohnt aufrechter Haltung über den Flur. Vor dem Wohnzimmer blieb sie wie angewurzelt stehen. Diese Stimmen. Stimmen aus der Vergangenheit. Einer Vergangenheit, in der sie schon einmal mit einem selbstgebackenen Kuchen in einen Salon geschwebt war. Damals war sie voller Hoffnung gewesen. Eine Hoffnung, die ihre Schwester mit nur einem einzigen Lächeln zerstört hatte. Helenes alte Angst kehrte zurück. Leise öffnete sie die Tür und betrachtete das Bild, das sich ihr bot.

Völlig ungeniert kniete Martha am Boden und alberte mit dem kleinen Ernst herum, während Hans seinen beiden Cousins erklärte, wie sie sein Schaukelpferd zu behandeln hatten. Helene war erleichtert. Es war alles in Ordnung. Sie schüttelte den Kopf und glaubte allmählich, vor lauter Erinnerungen den Verstand zu verlieren. Sachte stellte sie den Kuchen auf eine kleine Anrichte und öffnete den Buffetschrank, um Geschirr und Gabeln herauszuholen. Dabei bemerkte sie Marthas Blick.

»Du siehst gut aus.« Ihre Schwester lächelte und Helene zog sich der Magen zusammen, weil sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie besaß einige Attribute, doch Schönheit gehörte gewiss nicht dazu.

Martha hingegen sah in ihrem marineblauen Kostüm elegant und bezaubernd aus, genau wie damals, als sie Apia verlassen hatte. Helene schluckte den Geschmack der Eifersucht hinunter, den sie schon seit Kindheitstagen nur allzu gut kannte.

Sie registrierte, dass sich Martha erhob, um ihr zur Hand zu gehen.

»Danke«, erwiderte sie mechanisch. »Ich habe noch etwas Milch für die Kinder. Möchtest du auch?«

Die Schwester nickte und Helene lief zurück in die Küche. Dort nahm sie die Karaffe vom Tisch, die sie bis kurz vor Marthas Ankunft im Keller aufbewahrt hatte, um den Inhalt kühl zu halten.

Zurück im Wohnzimmer goss sie Martha und den Kindern ein. Sie selbst sei nicht durstig, erklärte sie. Ihr Gatte trank seine Milch nach der Mittagsruhe gerne warm mit etwas Zucker. Helene wollte nicht, dass er wegen des Besuchs darauf verzichten musste.

Während sie den Kuchen in exakt gleiche Stücke teilte, beobachtete sie ihre Neffen aus den Augenwinkeln.

»Robert wird in vier Monaten elf, Paul ist acht.« Marthas Stimme ermahnte sie, dass ihre Neugier zu offensichtlich war. Als sie ihrer Schwester ein Stück Kuchen reichte, spürte sie erneut deren Blick. Sie wagte nicht, ihn zu erwidern.

Zum Glück drängten die Kinder nun lautstark heran und gaben Helene die Möglichkeit, sich abzulenken. Erst als sie alle um einen kleinen Tisch gruppiert und Ernst in seinen Laufstall gesetzt hatte, kehrte sie zu Martha zurück und nickte ihr auffordernd zu.

»Iss nur! Ich musste im letzten Kriegswinter beinahe unser gesamtes Mobiliar verheizen. Seitdem essen nur die Kinder im Sitzen.«

Martha legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Es macht mir nichts aus, im Stehen zu essen. Der Krieg muss hart für dich gewesen sein, aber jetzt ist es überstanden. Ich bin so froh, dass wir uns endlich wiedersehen!«

Helene hatte plötzlich den Eindruck, ihre Haut müsse in Flammen stehen und sie wandte den Kopf ab, um die Röte zu verbergen, die ihr Gesicht überzog. Sie schämte sich dafür, nicht die gleiche Freude über das Wiedersehen zu empfinden wie ihre Schwester.

Nach einem Moment des Schweigens stellte sie erleichtert fest, dass Martha keine weiteren Versuche machte, sie zu berühren und stattdessen die Kinder beobachtete. Helene folgte ihrem Blick und fühlte sich gleich sicherer. Bis zu dem Moment, als sie ihren Neffen Robert genauer ansah, dessen Hautfarbe im Vergleich zu ihren eigenen Kindern noch dunkler anmutete als zuvor.

Was hast du nur getan, Martha?

»Er sieht so anders aus als sein Vater«, bemerkte sie und war überrascht über ihre Kühnheit.

Martha zuckte zusammen. »Ist das so offensichtlich?«

Helene wagte nicht, ihrer Schwester zu antworten. Sie wollte nicht noch tiefer in die Vergangenheit eintauchen.

Doch in diesem Moment setzte sich der kleine Robert auf das Schaukelpferd seines Cousins Hans, was diesen dazu veranlasste, den Jungen zu schubsen. Der empörte Blick Roberts und sein unverkennbarer Stolz ließen vor Helenes geistigem Auge Bilder über jenen Mann entstehen, der es nicht nur gewagt hatte, dem Gouverneur von Deutsch-Samoa, sondern auch ihrem eigenen Vater die Stirn zu bieten. Die Ähnlichkeit war nicht mehr zu übersehen und erübrigte weitere neugierige Fragen. Tanielu! Entsetzt schlug sich Helene die Hand vor den Mund.

»Ich hatte ja keine Ahnung…«, stammelte sie.

Du hast gesellschaftliche Grenzen überschritten, Martha! Mein Gott …!

»Wie hättest du es auch wissen sollen? Ich habe niemandem davon erzählt.«

Aufgewühlt wandte Helene den Blick von ihrem Neffen ab. Die Erkenntnis stellte die Ereignisse der Vergangenheit in einem anderen Licht dar und ließ Helene schwanken.

»Ich hätte Apia niemals freiwillig verlassen«, fuhr Martha fort und senkte die Stimme, um zu verhindern, dass die Kinder sie hörten. »Ich tat es einzig für das Wohl meines Sohnes.«

»Ich verstehe.«

»Hätte ich gewusst, welche Gefühle du…« Martha brach ab, als Helene sie warnend ansah.

»Das ist Vergangenheit! Lassen wir sie ruhen. Wie alle unsere Liebsten. Die Kolonie Deutsch-Samoa gibt es nicht mehr und wir sollten dieses Kapitel unseres Lebens endlich abschließen.«

Unwillkürlich war sie lauter geworden und die Kinder sahen jetzt zu den Schwestern herüber. Martha schenkte ihnen ein beruhigendes Lächeln.

»Hast du dich hier gut eingelebt?«, fragte sie und Helene sah ihr an, dass sie nur ungern über belanglosere Dinge sprach.

»Ja, es ist sehr schön hier. Den Kindern gefällt der Garten. Sie haben viel Platz zum Spielen.«

»Das glaube ich gerne. Wie geht es deinem Mann? Ist er unversehrt aus der Gefangenschaft zurückgekehrt?«

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er redet nicht viel. Wie Männer eben so sind.«

Martha nickte, dann räusperte sie sich. »Ich hatte Angst«, sagte sie. »Ich hatte schreckliche Angst vor Vaters Reaktion.«

Helene war verärgert, weil die Schwester das unangenehme Thema erneut anschnitt. »Du kennst keine Angst«, erwiderte sie.

»Aber gewiss! Ich hatte damals Angst und ich hatte heute ebenso Angst, in dein Haus zu kommen.« Martha zögerte. »Du musst mich hassen.«

»Wie könnte ich dich nach all dem, was du mir gerade erzählt hast, hassen?«, erwiderte Helene tonlos, wohl wissend, dass ihr diese Regung nicht fremd war.

Ich war alleine, von allen verlassen und Vaters Willkür ausgesetzt!

»Ich war dir niemals eine gute Schwester.« Marthas Stimme bebte. »Ich war egoistisch und habe den Mann geheiratet, in den du verliebt gewesen bist. Ich war feige und egoistisch!«

Helene rang um Fassung. Es war einfacher gewesen, zu schweigen. Der unerwarteten Wendung des Gesprächs fühlte sich Helene nicht gewachsen.

Doch Martha ließ nicht locker. »Ich wusste damals weder ein noch aus. Ich war verzweifelt, wollte das Kind bekommen, aber Vater… Du weißt, wie er war! Es tut mir so leid, was ich getan habe!«

Helene starrte ins Leere. Ich will mich nicht erinnern!

Die Schwester fuhr fort: »Ich habe Schuld auf mich geladen. Deshalb bin ich gekommen. Ich möchte dich um Vergebung bitten.«

»Das ist nicht nötig. Du hast vollkommen recht. Vater hätte dich und das Kind getötet.« Helene begann, die Krümel von den Tellern auf die Kuchenplatte zu kehren und stapelte das Geschirr übereinander.

Martha unterbrach sie dabei, indem sie nach ihren Händen griff. »Bitte ignorier mich nicht, Helene! Du solltest eines wissen: Ich habe ihn dir nie weggenommen, denn das war gar nicht möglich. All die Zeit über hat er nur dich geliebt.«

»Was?« Helene sah erschrocken zu den Kindern hinüber, weil sie fürchtete, sie könnten etwas von dem Gespräch mitbekommen. »Was redest du da?«

»Es ist die Wahrheit! Unsere Ehe entstand aus Verzweiflung und unsere Herzen hingen all die Jahre über an einem anderen Menschen. Wäre ich dir eine bessere Schwester gewesen, hätte ich es sehen müssen. Das ist die Schuld, mit der ich für immer werde leben müssen. Aber zweifle nicht an ihm! Er war dein.«

»Nein!« Energisch zog Helene die Schwester mit sich, um sie vor den Kindern abzuschirmen. »Wage es nicht, derartige Worte in meinem Haus zu äußern.«

»Dann lies es selbst! Ich habe hier einen Brief. Er ist an dich gerichtet.«

Helene wagte kaum zu atmen. Verunsichert beobachtete sie Martha, die einen zerknitterten Umschlag aus der Tasche ihres Kostüms zog und ihn ihr hinhielt. Helene zögerte. Sie hatte seine Handschrift nur einmal zuvor gesehen, und als sie nun ihren Namen auf der Vorderseite las, war es, als würde eine alte Narbe aufgerissen.

Bert hat mir geschrieben! Endlich!

Wie versteinert starrte sie den Brief an und war doch unfähig, ihn zu ergreifen.

Zum ersten Mal bewies Martha ungewohntes Einfühlungsvermögen. Sie nahm Helene sanft bei den Schultern, drehte sie um und führte sie aus dem Raum.

»Ich gehe eurer Tante ein wenig in der Küche zur Hand!«, rief Martha den Kindern im Hinausgehen zu und schloss die Tür.

Helene schien es, als sähe sie den Flur ihres Hauses zum ersten Mal. Bemerkte die grüne, abblätternde Farbe an den Wänden, die ausgetretenen Dielen und den Riss in der ersten Stufe, die ins Obergeschoss führte. Sie roch das Bohnerwachs und das verglühende Feuer im Herd ebenso wie Marthas zartes Parfüm, das sie an die Blumen im Garten von Apia erinnerte. Die Tränen drängten heran, doch noch war Helene stark genug, um sie zurück zu halten.

In der Küche angekommen, legte Martha den Brief vorsichtig auf das Fenstersims. Dann drehte sie sich um, um ihre Schwester alleine zu lassen.

»Warte!« Helene hielt sie zurück. »Bleibst du bei mir? Bitte!«

Marthas Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Natürlich«, sagte sie leise.

Unschlüssig trat Helene an das Fenstersims heran. Ein kleiner Sonnenstrahl, der erste seit Tagen, brach durch die Wolken und warf sein goldenes Licht auf den vergilbten Umschlag. Helenes Lippen bebten. Behutsam strich sie über das Papier und fuhr mit dem Zeigefinger ihren Namen nach. Nach einer Weile ergriff sie den Brief, drückte ihn an ihr Herz und öffnete ihn. Bevor sie zu lesen begann, warf sie Martha einen Blick über die Schulter zu. Die Schwester nickte aufmunternd.

Helene überwand sich und vertiefte sich in das Schreiben. Es dauerte nicht lange, bis das geschriebene Wort seinen Weg in ihr Innerstes fand, ihr Herz und ihre Seele erreichte und ihre Selbstbeherrschung zu Fall brachte. Wieder und wieder flogen ihre Augen über die Zeilen.

Helene bemerkte ihre Tränen zunächst nicht, die immer stetiger auf das Papier tropften und die Tinte verschmierten. Erst als Martha von hinten an sie herantrat, ließ Helene den Brief langsam zu Boden gleiten. Ihre Schultern begannen unkontrolliert zu zucken und ein klagender Laut, der tief aus ihrer Kehle kam, erfüllte den Raum. Helene ließ zu, dass Martha sie in die Arme nahm und spürte deren eigene Tränen an ihrer Wange. Die Berührung war ihr nicht länger unangenehm. Endlich waren sie nichts weiter als Schwestern, die ihren Verlust miteinander teilten. Helene nahm Marthas Hand und legte die Palmnuss hinein.

Das ist die Geschichte unserer Familie, Martha. Wir träumten alle vom Horizont.

< Geschichtlicher Hintergrund >

Anfang des 17. Jahrhunderts lebten auf der Karibik-Insel La Española (heute: Haiti und Dominikanische Republik) vor allem Franzosen. Unter ihnen waren entflohene Sklaven, gescheiterte Plantagenbesitzer und politisch Verfolgte, die sich ihren Lebensunterhalt dadurch verdienten, dass sie die wilden Stiere und Schweine der Region einfingen.

Die Art, das erbeutete Fleisch zu räuchern, um es haltbar zu machen, brachte diesen Männern den Namen ›Bukaniere‹ ein.

Einige von ihnen wurden auch zu ›Flibustier‹, zu Kaperfahrern, die in kleinen Booten die Galeonen der Spanier angriffen.

Sie alle organisierten sich unter dem Zusammenschluss der sogenannten ›Bruderschaft der Küste‹, um sich gegenseitig Sicherheit zu geben.

Ihr Markenzeichen war die Joli Rouge, die rote Flagge, die stets dann gehisst wurde, wenn ein Überfall blutig enden sollte.

Es wird vermutet, dass dieser Begriff der Ursprung für die spätere Jolly Roger ist, die legendäre Totenkopfflagge der Piraten der Karibik.

< Eins >

Nordwestküste von La Española, Frühjahr 1656

Der Wind fegte die Wolken wie stolze Pferde über den Himmel, während Jacquotte landeinwärts ging. Die Männer waren losgezogen, um zu jagen, und sie wollte einen neuen boucan für ihren Vater herstellen; ein Holzgestell, auf dem das Fleisch getrocknet und geräuchert wurde. Die frischen Äste schlug sie von den Blutholzbäumen, die in großer Ansammlung unweit der Siedlung standen.

Der Pfad dorthin führte durch mannshohes Gestrüpp, und sie nutzte ihn stets, um mit ihrer Machete zu üben. Die Waffe wog schwer in ihrer Hand, aber sie ließ sie locker und ohne Zeichen der Anstrengung durch die Luft kreisen. Abrupt stach sie zu, drehte sich um die eigene Achse und bekämpfte imaginäre Angreifer. Sie war stolz auf ihre Geschicklichkeit und setzte jeden ihrer Schritte bedacht, damit sie nicht ins Straucheln geriet. Mit einem letzten kraftvollen Schlag zerteilte sie das Buschwerk, um freien Blick auf die Lichtung der rotbraunen Bäume zu haben, die sie gesucht hatte.

Ein Knacken im Unterholz ließ Jacquotte erstarren. Wachsam sah sie sich um. Ihre Nasenflügel bebten. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, obwohl ihr das Herz in den Ohren pochte. Ihre Zehen gruben sich in die weiche Erde und sie war gespannt wie ein Bogen, bereit, sich zu verteidigen. Langsam drehte sie den Kopf in die Richtung, in der sie das Geräusch vermutete, und schob entschlossen ihr Kinn vor. Mit erhobener Machete machte sie einen Schritt nach vorne. Die Sehnen ihrer Arme spannten sich und sie spürte das Blut an ihrem Hals pulsieren.

In diesem Moment sprang ein schreiender Junge aus dem Dickicht, vollführte eine Reihe Purzelbäume und streckte Jacquotte schließlich die Zunge heraus. Der aufgewirbelte Staub tanzte durch die warme Luft und legte sich auf seine Haut, deren Farbe gleich der Bäume um sie herum war.

»Pierre! Zum Donnerkiel, du hast mich erschreckt!«, rief sie und drückte mit dem angestauten Atem auch ihre Anspannung aus den Lungen. Dann lachte sie, stützte ihre Hände auf die Knie und beugte den Rücken. Die hohe Luftfeuchtigkeit klebte ihr das Hemd an den Oberkörper, die Hose aus kratzigem Wollstoff juckte. Beim Aufrichten fuhr sie sich mit der Hand über Mund und Stirn und bemerkte einen metallischen Geschmack. Vor Aufregung hatte sie sich gebissen und leckte sich ärgerlich über die blutige Unterlippe.

Pierre schlenderte auf sie zu und grinste.

»Was tust du hier? Du willst doch nicht etwa langweilige Frauenarbeit verrichten?«

Jacquotte stemmte die Hände in die Hüften und sah gereizt zu ihm empor. »Hüte deine Zunge, wenn sie dir lieb ist! Weshalb bist du nicht mit den anderen auf der Jagd?«

Pierres Grinsen wurde breiter. Er hob seine Muskete auf, die gut viereinhalb Fuß maß, und schulterte sie mit jugendlicher Lässigkeit. Erst jetzt gesellte sich auch sein gefleckter Hund zu ihnen und beschnupperte Jacquotte freundlich.

»Durch den Wind sind die Moskitos nicht so blutrünstig wie sonst und ich dachte mir, wir könnten einen Ausflug zu unserer Höhle machen«, erwiderte er.

Sie tat desinteressiert, obwohl es ihr schmeichelte, dass Pierre von ihrer Höhle sprach. Das klang nach einer besonderen Verbundenheit, obwohl ihr bewusst war, dass er dort einfach gerne saß und die vorbeiziehenden Schiffe beobachtete. Als sie nicht sofort antwortete, knuffte Pierre sie in die Seite und ging in Abwehrhaltung, denn er wusste nur zu gut um ihre Reaktionen.

Sofort hielt sie ihm die Machete unter die Nase und sagte: »D’accord, ich gehe mit dir! Aber zuerst müssen wir Manuel holen. Und ich erwarte, dass du meinem Vater erklärst, warum ich ohne Holz für das boucan zurückkomme.«

»Dein Vater wird nichts sagen. Er ist sanftmütig wie eine Schildkröte. Erst vor Kurzem sah ich, dass er das verlassene Ei eines Buschhuhns fand, es mitnahm und den Haushühnern zum Bebrüten ins Nest legte. Dabei weiß doch jeder, dass das Küken wieder in den Busch läuft, sobald es das Geschrei seiner Sippe hört.«

»Er sorgt sich eben!« Jacquotte verteidigte ihren Vater, obwohl sie wusste, dass Pierre recht hatte.

Nebeneinander schlenderten sie zur Siedlung zurück. Dort angekommen, hörte man nur das Rascheln der Blätter im auflandigen Wind. Jacquottes Blick streifte die ajoupas, jene palmengedeckten Holzhütten, die großzügig verteilt in einer natürlichen Senke lagen. Limonenbäume spendeten Schatten und schützten die Gemeinschaft vor feindlichen Spähern. Vereinzelt sah man Hunde, die in der Kühle selbst gegrabener Mulden dösten. Ansonsten rührte sich nichts. Um diese Tageszeit hielten sich nur die alten oder verletzten Männer in der Siedlung auf.

Jacquottes Vater saß entspannt vor einer der Hütten und ging seiner Arbeit nach. Neben ihm lag einem Schatten gleich sein alter hellbrauner Hund, der ihn schon so lange begleitete, wie Jacquotte denken konnte. Er war grau im Gesicht, die Augen waren trüb, aber seine Nase funktionierte bestens und er bellte heiser auf. Sie hob die Hand zum Gruß.

Émile hielt inne und kniff die Augen zusammen. Er sah nicht gut auf die Distanz, aber die Gestalt seiner Tochter konnte er jederzeit ausmachen. Er war erfreut, sie zu sehen, und beobachtete ihr Näherkommen. Der Bronzeton der Haut, die hohen Wangenknochen, das schmale Becken und die kräftigen Waden waren eindeutig das Erbe ihrer Mutter Anani. Mit einer vertrauten Geste strich sie sich das lockige Haar hinter die Ohren und atmete tief durch.

An diesem Tag brachte der Wind salzige Meeresluft ins Landesinnere, die sich mit den herben Aromen der Limonen vermischte. Er wusste, dass dieser Geruch auf Regen hindeutete. Seiner Tochter war das ebenso bewusst. Sie war in der Natur aufgewachsen und verstand die Zeichen zu deuten. Ihre Beine waren durch die Dornen zerkratzt, die jeden Tag ihren Weg kreuzten. Verblassende Schrammen bildeten mit den neuen ein bizarres Muster auf ihrer Haut. Eine auffallend breite, gezackte Narbe schlängelte sich quer über ihren linken Arm und verschwand unter dem Ärmel ihres Hemdes. Sie war ein Mahnmal für Jacquottes Übermut, entstanden bei einem ihrer Scheinkämpfe, als sie stolperte und sich mit der Machete den Arm aufschnitt. Émile schüttelte lächelnd den Kopf. Seine Tochter war ein Wildfang, aber das liebte er so an ihr.

In diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken und ließ Jacquottes dunkelrotes Haar aufleuchten. Die Männer sagten, es hätte das Blut aufgesogen, das die Mutter bei ihrer Geburt verloren hatte. Das Blut, mit dem Anani das Leben aus dem Körper geflossen war. Er wusste, dass niemand Schuld an ihrem Tod trug, aber die Sorgenfalten auf Jacquottes Stirn zeugten davon, dass hinter ihren großen Augen ein innerer Kampf tobte, den er nur erahnen konnte.

Als sie mit energischen Schritten auf ihn zuging, verbarg er sein Lächeln hinter dem buschigen Bart. Im Gegensatz zu ihrem ansehnlichen Äußeren gab sich seine heranwachsende Tochter ansonsten jungenhaft. Nicht das erste Mal brachte sie ihm so zu Bewusstsein, dass das mütterliche Element in ihrem Leben fehlte. Und so sehr er es sich auch wünschte, es war ihm unmöglich, ihr diese Seite ihres Seins nahezubringen. Sie war in der rauen Gesellschaft von Männern groß geworden, es war daher nicht verwunderlich, dass sie sich selbst wie einer benahm.

Jacquottes Begrüßung fiel aus, wie Émile es von ihr gewohnt war: Freundliche Worte und ein Nicken in seine Richtung waren alles, was er von ihr bekam. Gesten der Zuneigung, wie eine Umarmung oder ein Kuss, waren nichts, wofür sie etwas übrig hatte.

»Pierre geht zu den Pflanzern, um Fleisch gegen Tabak zu tauschen. Er bat mich um Hilfe, und wenn du einverstanden bist, werde ich ihn begleiten.«

Émile nickte zustimmend. Er konnte seiner Tochter nichts abschlagen, denn er wollte stets, dass es ihr gut ging. Außerdem war sie in Begleitung von Pierre unterwegs und das beruhigte ihn. Pierre war wie ein Sohn für ihn, und das lag nicht nur daran, dass seine Mutter ebenfalls viel zu früh verstorben war und Pierre die Härten des Lebens in einem Alter erfahren musste, in dem ein Junge noch nicht bereit dafür war.

»Danke, Papa!« Jacquotte schenkte Émile ein bezauberndes Lachen und er vergaß für einen Moment die Schmerzen in seinen geschwollenen Gliedmaßen.

Mit einem Seufzer beobachtete er, wie seine Tochter sich bückte und ins Innere der Hütte kroch, um Manuel aus seinem Joch zu befreien. Er hörte das Gekicher des Jungen, als er tollpatschig ins Licht krabbelte. Der Anblick seines Erstgeborenen brach Émile jedes Mal das Herz.

Manuels Kopf war zu schwammig für seinen Körper, und seine eng beieinanderliegenden Augen gaben ihm einen dümmlichen Ausdruck. Die meisten hielten ihn für verrückt und schenkten ihm kaum Beachtung. In der Gesellschaftsstruktur dieser Insel wurde ihm keine Überlebenschance eingeräumt. Wäre es nach Jérôme gegangen, dann hätte Manuel sein erstes Lebensjahr nicht erreicht. Eine Tatsache, die Émile seinem Freund nicht verzeihen konnte. Gleichzeitig bekannte er sich selbst schuldig, mit dem Sohn nichts anfangen zu können.

Nur Jacquotte wachte stets über Manuel und konnte es nicht ertragen, wenn man ihn zu seiner eigenen Sicherheit festband. Bewegte er sich frei, behielt sie ihn wie eine Glucke im Auge und ließ zu, dass er mit unsicheren Schritten den Schmetterlingen und Vögeln nachjagte.

Gerne hätte Émile seine Tochter noch länger um sich gehabt, doch nach einem kurzen Abschied entfernte sich das ungleiche Dreigespann wieder. Je mehr ihr Bild vor seinen Augen verschwamm, desto größer wurde seine Unruhe. Ihm war klar, dass sich seine Tochter langsam verselbstständigte. Sie begann, ihre eigenen Wege zu gehen, und die Angst rumorte in Émiles Magen wie eine roh verzehrte patate, jene wilde Kartoffel, die überall auf der Insel wuchs.

Das Großziehen von Jacquotte war das Erfüllendste gewesen, das Émile je erlebt hatte. Er genoss jeden einzelnen Tag mit seiner kleinen Sonne und es war, als böte ihm der Vater im Himmel eine Chance, um an Jacquotte gutzumachen, was bei Alizée verfehlt wurde. Zu deutlich verfolgte ihn noch das Bild seiner Mutter, die wegen des Aberglaubens einiger Leute ein unwürdiges Ende fand, vor dem er sie nicht hatte beschützen können.

Es verging kein Tag, an dem er nicht ihr Gesicht vor sich sah und sich fragte, warum sie so enden musste. Doch all das konnte er Jacquotte nicht anvertrauen. Er wollte der Held sein, den seine Tochter in ihm sah. Die Geschichten über die Rettung von Michel d’Artigny und die Befreiung von Anani waren das, was Jacquotte von klein auf über ihn gehört hatte. Die Dinge, die er als Émile Vigot in der Normandie erlebt hatte, gehörten nicht in ihre Welt. Émile versteckte sie tief in seinem Inneren. Und weil er nichts mehr an seiner Vergangenheit ändern konnte, sah er seine wichtigste Aufgabe als Vater darin, Jacquotte vor jeder Gefahr zu schützen.

Wenn ihre Zukunft eine glückliche war, konnte auch Émile wieder Ruhe finden. Seine Tochter besaß schon jetzt ein Selbstbewusstsein und einen Tatendrang, den er nur bewundern konnte, und er glaubte daran, dass sie ihr Leben gemeinsam mit Pierre meistern würde, wenn es so weit war.

Er wollte fortfahren, das grobe Salz zu mahlen, aber seine steifen Gelenke widersetzten sich. Die Zuversicht, dass sein Wille stärker als sein Gebrechen war und ihn noch eine Weile durchhalten ließ, schwand mit jedem Tag. Umso größer wurde dagegen die Furcht, seine Kinder ohne Vater zurückzulassen.

Jérôme scherzte oft, Émiles Schultern würden bald so weit herunterhängen, dass er mit den Fingern die Zehen berühren konnte, ohne sich zu bücken. Émile verzog das Gesicht vor Schmerz. Er wünschte sich, Jérôme würde sesshaft werden, auch wenn er daran zweifelte, dass sein Freund sich der Kinder im Falle seines Todes annahm. Dafür kannte Émile ihn zu gut.

Jérôme die Verantwortung einer Vaterrolle zu übertragen, war, als sperrte man die bei Nacht leuchtenden Glühkäfer in ein Gefäß: Ihr Licht erlosch augenblicklich. Jérôme war für das Meer gemacht, er war keine Landratte. Deshalb brachte Émile es nicht über sich, seinen Freund um diesen Gefallen zu bitten. Zu sehr stand er bereits in seiner Schuld. Unfähig, zu jagen oder auf sonstige Weise von Nutzen zu sein, war Émile in jeder Hinsicht auf seinen Gefolgsbruder angewiesen. Und Jérôme kam dieser Aufgabe pflichtbewusst nach.

In regelmäßigen Abständen brachte er Kleidung, Waffen, Zucker und Mehl vorbei. Er verweilte eine Zeit lang in der Siedlung, bis ihn die Sehnsucht zurück aufs Meer trieb. Émile hustete schwer und tät­schelte seinem Hund das Fell. Zu lange war er den eigenen Gedanken nachgehangen, dabei musste er die Vorbereitungen für den Abend zu Ende bringen. Energisch sammelte er sich und ließ den Stein erneut über die Salzkristalle rollen.

Unterdessen spazierten Jacquotte und Pierre schweigend neben­einander her. Der steinige Pfad schlängelte sich südwärts an imposanten Baumriesen vorbei und führte sie tief ins grüne Herz der Insel, die sie als La Española kannten. Je weiter sie vordrangen, desto mehr flaute der böige Wind zu einer leichten Brise ab, die von den Stimmen der Tiere überlagert wurde. Das Zirpen der Grillen um sie herum war ihnen so wohlbekannt wie das Schreien der blau-gelben Papageien in den Baumkronen.

Pierre peitschte spielerisch einen abgebrochenen Zweig durch die Luft, während Jacquotte Abstand zu ihm schuf. An diesem Tag bedrängte seine Anwesenheit sie, denn Pierre hatte angefangen, sich zu verändern. Seine Schultern wurden breiter, seine Stimme tiefer und seine Muskeln begannen sich stärker auszuprägen. Die meiste Zeit lief er mit nacktem Oberkörper herum, als wollte er allen von seiner Entwicklung kundtun. Neben der Wandlung an sich erschreckte Jacquotte aber vor allem die Tatsache, dass es ihr auffiel und sie ihn vermehrt beobachtete.

»Warum hast du deinen Vater belogen?« Pierre drehte den Kopf zur Seite und Jacquotte sah schnell in eine andere Richtung.

»Ich will nicht, dass er sich sorgt.«

»Aber er sorgt sich ständig um dich! Du hast wohl nie in sein Gesicht geblickt, wenn du frühmorgens die Hütte verlässt. Wenn er könnte, würde er dich wie Manuel anbinden.«

»Sei still!«

»Ich sag ja nur…«, murrte Pierre. »Vielleicht ginge es ihm besser, wenn er um deine Fähigkeiten wüsste.«

»Ganz bestimmt nicht! Als Jérôme ihm vorgeschlagen hat, mich zur eigenen Sicherheit an den Waffen zu unterrichten, da wurde er so bleich, als hätte er zu viele Landkrabben gegessen.«

Um Pierres Mundwinkel zuckte es. »Besucht euch Jérôme deswegen immer seltener? Was fürchtet er wohl mehr, den Hund deines Vaters oder seinen schnellen Säbel?«

»Noch ein Wort und du wirst den Tag verfluchen, an dem du mir die Machete in die Hand gegeben hast«, drohte Jacquotte. »Mein Vater ist ein guter Mann!«

»Gut darin, die Augen zu verschließen und zu glauben, dass die Spanier nie mehr über die Küste hereinbrechen werden. Warum verschweigst du ihm unsere Höhle?«

»Die Höhle ist unser Geheimnis!«, erwiderte Jacquotte brüsk und zeigte Manuel einen schwarz-weiß gestreiften Schmetterling am Wegesrand. Mit einem glücklichen Blubbern klatschte er in die Hände und verscheuchte das Insekt. Mit zackigem Flug erhob es sich und ließ einen enttäuschten Manuel zurück.

»Es gibt Hunderte Höhlen auf der Insel! Warum sprichst du niemals über unsere?« Pierre ließ nicht locker.

Jacquotte zuckte die Schultern. Natürlich wusste jeder von der Existenz dieser Höhlen. Besonders deshalb, weil sie ein gruseliges Erbe in sich bargen: Immer noch verrotteten in vielen von ihnen menschliche Gebeine im dunklen Inneren und verseuchten die Luft. Die Männer erzählten sich, dass die Insel einst von Indianer bevölkert gewesen war. Als die Spanier eintrafen, beanspruchten sie das Land jedoch für sich alleine. Deshalb töteten sie die Urbevölkerung. Besonders gerne hetzten sie die Indios mit ihren Hunden und warfen sie ihnen zum Fraß vor. Aus Furcht verbargen sich die Überlebenden in den einfachen Höhlen, wo sie meist vor Hunger zu Tode kamen, denn ihre Angst vor den Spaniern war größer als ihr körperliches Leiden.

Von Pierres aufforderndem Blick in die Enge gedrängt, entgegnete Jacquotte: »Stell dich nicht dumm, Pierre! Die Sicherheit der Höhle hat uns am Tag des spanischen Überfalls das Leben gerettet. Niemand soll wissen, wo sie liegt. Auch nicht mein Vater. Im Gegensatz zu ihm verschließe ich meine Augen nicht vor der Realität.«

Pierre schwieg und Jacquotte wusste, dass ihre Gedanken um dasselbe Erlebnis kreisten. An einem Nachmittag vor einigen Jahren hatten marodierende Spanier die Siedlung überfallen und viele Männer getötet. An diesem Tag zerbrach Jacquottes heile Welt, in der sie arglos durch die Wälder streifte. Mit eigenen Augen musste sie mit ansehen, wie aus ihrem friedlichen Alltag ein blutiges Massaker wurde, und wie jeder Einzelne um sein Überleben kämpfte.

Sie sah Nachbarn sterben und beobachtete, was die Spanier mit den Frauen ihrer Feinde taten. Beinahe wäre sie selbst zum Opfer geworden. Ein Spanier war über sie hergefallen und würgte sie beinahe bis zur Bewusstlosigkeit, während er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Ihr Entkommen verdankte sie einzig Pierre, der ihren Peiniger getötet hatte. Anschließend brachte er sie und Manuel zu einer Höhle, die er während eines Streifzugs entdeckt hatte. Auf Jacquottes heftiges Drängen hin lehrte er sie dort in den nachfolgenden Wochen den Umgang mit Machete, Säbel und Muskete. Niemals, das hatte Jacquotte sich damals geschworen, sollte ein Mann je wieder derart Hand an sie legen.

»Solange ich an eurer Seite bin, könnt ihr unbesorgt sein!«, Pierre klopfte sich prahlerisch auf die Brust.

Jacquotte verdrängte die Erinnerungen und warf ihm ein Schneckenhaus an den Kopf, das sie gefunden hatte. »Deine Überheblichkeit wird dich noch in den Himmel wachsen lassen, wo dir die Raben deine schrecklichen Schlangenaugen rauspicken!«

Pierre zog eine Grimasse, stieß zischelnde Laute aus und lief hinter Manuel her, der kreischend das Weite suchte. Jacquotte musste lächeln und beobachtete das fröhliche Spiel. Sie war dem Freund dankbar, dass er sie tagtäglich von diesem schrecklichen Erlebnis ablenkte.

Gut gelaunt erreichten sie einige Zeit später die baumlose Ebene mit den Tabakfeldern der Pflanzer. Ihr Gelächter verstummte. Jacquotte fürchtete diese Männer. Die meisten zeigten unverhohlenen Hass auf die Bukaniere im Norden, die ihre tägliche Arbeit angeblich viel leichter verrichteten, indem sie auf Tiere schossen, anstatt sich körperlich zu verausgaben.

Die Pflanzer dagegen mussten Bäume fällen, Buschwerk roden und eine Reihe von Fruchtreihen anlegen, bevor der Boden genug Nährstoffe enthielt, damit Tabak auf ihm gedieh. Glücklicherweise lagen ihre Holzhütten, auf deren Dächern die Pflanzer schmackhafte Wurzeln trockneten, an diesem Tag verlassen zwischen den Fluren.

Pierre formte mit der rechten Hand einen Becher, den er zum Mund führte. Jacquotte nickte wissend. Vermutlich hatte der wycou, eine Art Bier, das die Pflanzer aus Maniok brauten, wieder ganze Arbeit geleistet. Lautlos bewegten sie sich vorwärts. Obwohl die Pflanzer auf den Handel mit Fleisch angewiesen waren, machten sie sich einen Spaß daraus, vorbeiziehenden Bukanieren aufzulauern und ihnen Angst einzujagen.

Jacquotte beobachtete die Felder ganz genau. Die brusthohen Pflanzen wogten im Wind und wenn man genau hinsah, konnte man fingerdicke Raupen auf ihren Blättern erkennen. Sie fuhr im Vorübergehen sachte über die feinen Härchen der Larven und folgte Pierre, der den Weg vorgab und Manuel abschirmte. Erst als sie wieder unter Bäumen waren und einen Bachlauf gekreuzt hatten, ließ ihre Anspannung nach.

Auf einer Anhöhe angelangt, verschnauften sie kurz. Sie hatten gutes Tempo vorgelegt. Jacquottes Blick schweifte über die Landschaft. Schlanke Palmen wechselten sich mit gewaltigen Acajou- und Mapou-Bäumen ab und schufen ein harmonisches Miteinander. Am Horizont konnte man ein Stück der Küstenlinie erkennen. Der Sand zog sich wie eine goldene Grenze durch das Reich der Pflanzen und trennte sie vom Ozean, der mit seinen rätselhaften Geschöpfen ein eigenes Imperium bildete.

Pierres Hund knurrte, als auf einer Schneise vor ihnen einige Pferde den Hügel querten. Die Tiere hoben schnaubend die Köpfe und ließen ihre Ohren spielen. Es waren gedrungene Kreaturen mit stämmigen Beinen und langen Hälsen. Verwilderte Verwandte ehemaliger spanischer Reitpferde, die inzwischen in großer Anzahl über die Insel wanderten. Die Jäger fingen sie bisweilen, um die Felle und das Fleisch ihrer Jagdbeute an die Küste zu transportieren.

Jacquotte hasste jedoch die brutale Art, mit der man die Pferde zähmte. Sie wurden mit Schlingen gefangen, die man auf ihren Trampelpfaden auslegte, und dann so lange geschlagen, bis ihr Wille gebrochen war und sie sich fügten. In ihrer natürlichen Umgebung aber besaßen sie einen ursprünglichen Stolz, der Jacquotte immer wieder aufs Neue staunen ließ. Auch dieses Mal konnte sie sich nur schwer von ihrem Anblick losreißen.

Kurze Zeit später erreichten die kleine Gruppe die abfallenden Felsen und Jacquotte hob Manuel auf Pierres Rücken. Sein Hund blieb als Wachposten zurück und legte den Kopf betrübt auf die Vorderpfoten.

Der Weg entlang der Felswand war tückisch und erforderte bei jedem Schritt Konzentration. Lose Steine konnten ins Rollen geraten und schwere Stürze zur Folge haben. Aber sie erreichten sicher ihr Ziel. Versteckt unter einem Vorsprung grub sich eine kleine Höhle mit natürlich geformten Sitzbänken in den Fels, die durch dichtes Gestrüpp vor einfallender Sonne geschützt wurde.