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Nr. 2869

 

Angakkuq

 

Perry Rhodan auf Titan – er erfährt die geheime Geschichte des Matan Addaru

 

Uwe Anton

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Perry Rhodan ist von einer Expedition in vergangene Zeiten in die Gegenwart zurückgekehrt. Diese wird nicht nur von der Herrschaft der Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Immerhin scheint mit dem ParaFrakt eine Abwehrwaffe gefunden zu sein.

Doch schon droht die nächste Gefahr: Die von dem Zeitriss ausgehenden zerstörerischen Perforationszonen bewegen sich quer durch die Galaxis – eine direkt auf das Solsystem zu. In dieser Situation eröffnet ein Diener der Atopen wichtiges Wissen. Sein Name ist ANGAKKUQ ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Ilt fürchtet um seine Lebenskraft.

Perry Rhodan – Der Unsterbliche erinnert sich an die Epoche des Polyport-Systems.

Angakkuq – Der Pilot und Hüter liegt im Sterben.

Eleonore Pazza – Ihr Wissenschaftsteam bemerkt Unregelmäßigkeiten im Polyport-Hof GALILEO.

Matan Addaru – Ein Atope muss lernen, dass auch Scheitern eine Option ist.

Prolog

GALILEO, 16. Oktober 1518 NGZ

 

Nicht schon wieder!, dachte Eleonore Pazza gequält, als sie den Gesang hörte.

Die Stimme, die die Worte von sich gab, war berückend schön, selbst ohne den Text zu verstehen. Er klang vage nach Interkosmo, aber sie verstand ihn trotzdem nicht. Er war irgendwie ... sphärisch, abgehoben, und dennoch fest in ihrer Welt verhaftet.

Sie brauchte den Text glücklicherweise nicht zu verstehen. Es war wie bei vielen dieser aktuellen Hits, die mitunter von Gatas stammten oder von Topsid, Ferrol oder Dutzenden anderer Welten. Sie schienen zu einer universellen Sprache gefunden zu haben, vermittelten Eindrücke oder Geschichten, die die Zuhörerin nicht im Detail nachvollziehen musste, um sie zu begreifen. Es waren einfache, aber trotzdem wichtige Erzählungen über bedeutsame Themen: Liebe, immer wieder Liebe, gefolgt von Treue, Verlust, Sehnsucht, Erfüllung, Glück.

Dutzendware der Gefühle, reduziert auf den einfachsten gemeinsamen Nenner, und mochte er noch so bedeutsam und wichtig erscheinen.

Aber dieses Lied war anders. Es war ... wichtig.

Die Stimme war die eines Mannes, ein Bass. Sie schien sie nicht nur zu verzaubern, sondern auch zu locken. Sie will, dass ich zu ihm komme.

Doch wo war der Mann, der so wunderschön sang?

Um die nächste Ecke, vermutete Eleonore. Diese Stimmen, diese Töne und Geräusche erklangen immer direkt hinter der nächsten Biegung, im nächsten Gang, in dem das bernsteinfarbene Licht schien, das hier wie dort den Polyport-Hof in einen fast unwirklichen Schimmer tauchte, durch den der Gesang stetig irrealer wurde.

Er war zum Greifen nah, aber niemals fassbar.

Unsicher sah Eleonore Pazza ihre Begleiter an. Mittlerweile kursierten über drei Dutzend Berichte über ungewöhnliche Vorfälle im Polyport-Hof, und Eleonore war schon zwei Mal Zeugin solcher Ereignisse gewesen. Der Gesang fiel eindeutig in diese Kategorie.

Ihr Blick war eine einzige Frage.

»Ich rieche es ebenfalls«, sagte Pepe Felix, die Energieanlagenanalytikerin. »Frisches Wasser. Vor uns fließt ein kristallklarer Bergbach. Wo kommt er her? Mitten in einem Polyport-Hof? Wie kann das sein?«

»Haben dich alle Sternengötter verlassen?«, brummte Fison Bethany, der ertrusische Hyperphysiker. Er schwankte sichtlich, konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Ich rieche kein Wasser. Aber irgendwie habe ich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Als hätte ich gewaltig einen über den Durst getrunken. Das ist ...« Er verstummte. Auch er kannte die Berichte über die falschen Wahrnehmungen, hatte aber nie zuvor eine erlebt und sie von daher in den Bereich der Fabeln abgetan.

Nun begriff er. »Du riechst frisches Wasser?«

»Und ich höre eine Bassstimme, die ein wunderschönes Lied singt!«, sagte Eleonore. »Das ist wieder eine dieser falschen Wahrnehmungen, die seit zwei Tagen so häufig auftreten.« Sie bedachte Bethany mit einem triumphierenden Blick. »Auch wenn manche bestreiten, dass es sie gibt. Jeder von uns sieht, hört, riecht oder schmeckt etwas anderes, und nichts von allem ist wahr.«

»Du hast recht«, sagte der Ertruser. »Es gibt sie wirklich, und meine hat mich völlig überraschend getroffen.«

»Es hat sich nicht angedeutet«, pflichtete Pepe ihm bei. »Es kam auch bei mir wie aus dem Nichts.« Sie schaute auf die Anzeigen des hochempfindlichen Hyperortungssystems, das in ihren Anzug integriert war. »Keine Ausschläge im Zuckerman-Spektrum, nur das übliche Grundrauschen der Hyperaggregate. Es gibt nichts, was ich anmessen könnte.«

»Das gibt es nie«, sagte Eleonore. »Zumindest wird in keinem Bericht etwas darüber erwähnt.« Sie schüttelte den Kopf. Stimmen aus dem Nichts. Das Plätschern von Bächen. Gleichgewichtsstörungen ...

Zumindest schienen diese Fehlwahrnehmungen harmlos zu sein. Doch schon der Umstand, dass es sie gab, ließ bei Tonio Bonzani, dem Kommandanten des PONTON-Tenders GALILEO GALILEI, der seit GALILEOS Verlegung ins Solsystem an den Polyport-Hof angedockt war, die Alarmglocken läuten. Außerdem traten sie immer häufiger auf. Selbst wenn es keine mögliche Bedrohung war, mussten sie herausfinden, worum es sich bei diesem Phänomen handelte. Das lag in der menschlichen Natur. Auch diejenigen Wissenschaftler im Hof, die ähnliche Phänomene erlebt hatten, versuchten sie anzumessen und zu ergründen.

Doch es war ihnen bislang nicht gelungen. Pazza musste es sich eingestehen: Der Polyport-Hof war nach all diesen Jahrzehnten seit seiner Entdeckung 1403 NGZ unter der Oberfläche eine völlig unvertraute Umgebung, die sich größtenteils ihren Instrumenten und sonstigen Wahrnehmungen entzog. Die Galaktiker kannten sich einigermaßen in ihm aus, fanden den Weg hierhin und dorthin, doch was es wirklich mit ihm auf sich hatte, wie seine strukturellen Zusammenhänge waren, das konnte niemand sagen.

Doch dass es in ihm spukte, konnte und wollte sie nicht glauben.

Die Phänomene mussten eine andere Ursache haben. Es fiel in ihren Bereich, diese Ursache zu ermitteln. Ihre Aufgabe war es, den Polyport-Hof zu erforschen. In jeglicher Hinsicht.

Schon vor mehr als vier Jahren hatte die Wissenschaftlerin sich beträchtlich umstellen müssen. Die Forschungstätigkeiten in den Polyport-Höfen hatten sich seit der Desaktivierung des Systems durch Perry Rhodan am 26. August 1514 NGZ grundlegend verändert. Das Polyport-System war für die Terraner verloren, funktionierte nicht mehr, hatte den Betrieb eingestellt.

Der Kontakt in ferne Regionen des Universums war abgerissen. Niemand konnte sagen, wie sich die Menschheit in Anthuresta entwickelt hatte, in der Galaxis, in der sich das Stardustsystem befand. Ob dort Frieden herrschte, die Stardust-Demokratie neuen Gefahren ausgesetzt war oder die Menschheit dort überhaupt noch existierte.

Und wie es der Superintelligenz TALIN ergangen war, die sich von ES abgespalten hatte und nun über die Fernen Stätten wachen sollte.

Doch die Höfe waren nach wie vor vorhanden, und die Führung der LFT nicht gewillt, sie einfach zu ignorieren. Hochkarätige Teams von Wissenschaftlern untersuchten die Aggregate von GALILEO, sammelten Informationen über den Zustand des Systems und sollten seine Technologie ergründen, um sie nutzen zu können.

Eleonore Pazza leitete eines dieser Teams. Seit vier Jahren gehörte es zu ihren Aufgaben, den Transporthof GALILEO zu durchstreifen und außergewöhnlich interessante Artefakte aufzulisten und zu melden.

Zu erkunden hätte es genug gegeben. Im Inneren der Station wimmelte es geradezu von technischen Geräten, doch ihre Funktion war in kaum einem Fall erkennbar. Sie waren fast immer in weich geformten Kästen aus blaugrauem und silbernem Material gekapselt und ließen sich so gut wie nie öffnen, ohne dass das Innenleben dabei zerstört wurde.

Auch Formenergie wurde eingesetzt, eine Technologie, die Terra seit dem Hyperimpedanz-Schock nicht wieder hatte für sich erschließen können. Ihr galt ebenfalls das Interesse der Wissenschaftler.

In all den Jahren hatten sie aber keinerlei verwertbaren Erkenntnisse gewonnen. Auch nicht, wenn sie gelegentlich Kontakt mit dem Halbspur-Changeur Ters Richarge aufnahmen. Richarge war eine wenig mitteilsame Projektion, ein Auskunftssystem des Hofs, das früher den Bedienern des Hofs mit seinen Expertisen zur Seite gestanden hatte.

Der Gesang verhallte, und Fison Bethany stand wieder völlig sicher auf seinen stämmigen Beinen. Eleonore war davon überzeugt, dass auch Pepe kein Plätschern mehr hörte.

»Wir müssen herausfinden, was es mit diesen Erscheinungen auf sich hat.« Eleonore gab sich einen Ruck. »Gehen wir weiter.«

»Was hast du vor?«, fragte Pepe.

»Wir erkundigen uns bei Ters Richarge nach diesen irrwitzigen Wahrnehmungen. Vielleicht weiß er etwas.«

Die Energieanlagenanalytikerin sah sie zweifelnd an. »Meinst du, auf diese Idee wäre noch kein anderer gekommen?«

Pazza grinste und ging los. »Vielleicht kommt es nur darauf an, wie man fragt. Beim nächsten Mal nehmen wir jedenfalls einen Posbi mit hohem Bioplasma-Anteil mit auf Erkundung. Dann können wir testen, ob der auch beeinflusst wird.«

»Meinst du«, sagte Pepe, »GALILEO lässt ihn dann vielleicht von elektrischen Schafen träumen?«

 

*

 

Den Weg zum Transferdeck des Polyport-Hofs kannte Eleonore im Gegensatz zu den Funktionen seiner Geräte in- und auswendig. Sie hatte ihn oft genug zurückgelegt.

Immer wieder erstaunte sie die riesige Halle mit einer lichten Höhe von 102 Meter. Die vier Transferkamine bildeten ein im Zentrum offenes Kreuz aus vier grauschwarzen Röhren von je 50 Metern Durchmesser und 610 Metern Länge, die dicht über dem Boden verliefen und auf einen 200 Meter durchmessenden freien Platz im Mittelpunkt des Transferdecks mündeten. Dort endeten die Transferkamine und hatten sich früher für den eingehenden und abgehenden Verkehr geöffnet. Im Hallenhintergrund verblassten die Röhren, als führten sie von da an durch den Hyperraum weiter.

Was vor dem Abschalten des Systems eventuell sogar der Fall gewesen war.

Am Rand des Platzes stand ein Schaltpult auf einem kreisrunden, zehn Meter durchmessenden und nur fünf Zentimeter hohen Podest, das in oranger Schockfarbe gekennzeichnet war. Die Halbspur-Changeure hatten es nachträglich dort aufgestellt, und es ließ nur eine einzige Schaltung zu: jene, die die Projektion des Halbspur-Changeurs Ters Richarge entstehen ließ. Der allerdings zeichnete sich nicht gerade durch besondere Auskunftsfreudigkeit aus.

Eleonore aktivierte das Pult. Während die übrige Umgebung rapide in Dunst versank, bildete sich die Projektion von Ters Richarge.

Der kleine Humanoide mit dunkler Haut machte einen unwirklichen Eindruck, als sei er ein halbmaterielles Wesen, das in zwei Kontinua gleichzeitig existierte. Das lag nicht an seiner Beschaffenheit; ob künstliche Abbildung oder real, Halbspur-Changeure erweckten stets diesen Anschein. Unabhängig von ihrem aktuellen Umfeld sahen sie aus, als würden sie von einer nicht sichtbaren Sonne angestrahlt, deren Position sich im Tagesverlauf änderte.

Eleonore erkannte, dass Ters Richarge wie immer eine blütenweiße Schutzkleidung mit golden schimmernden Applikationen an den Armen und entlang der Außenseiten der Beine trug.

»Wir brauchen eine Auskunft von dir«, sagte die Wissenschaftlerin.

»Welche?« Der Halbspur-Changeur betrachtete sie gleichmütig, als interessierte ihn nicht, was die Galaktiker zu sagen hatten.

»Wie erklärst du dir die falschen Wahrnehmungen, zu denen es in GALILEO immer wieder kommt?«

»Diese Frage wurde mir schon mehrfach gestellt«, antwortete das Holo. Richarge benutzte in seiner eigenen Form des Entgegenkommens mittlerweile Interkosmo und nicht mehr die Sprache der Mächtigen, in der es früher kommuniziert hatte. »Ich habe jetzt genauso wenig eine Antwort darauf wie zuvor.«

»Seltsame Phänomene«, beharrte Eleonore. »Ich höre ein unbekanntes Lied. Eine Frau riecht frisches Wasser. Ein Mann verliert den Gleichgewichtssinn. Andere hören in großer Ferne unverständliche Stimmen und laute Rufe. Die falschen Wahrnehmungen sind nicht auf Menschen beschränkt. Roboter nehmen falsche Werte auf, Instrumente zeigen bei Ortungen oder anderen Untersuchungen völlig irrwitzige Messungen. Was könnte in einem Polyport-Hof solche Wahrnehmungen hervorrufen?«

»Mir liegen keinerlei Informationen über solche Erscheinungen vor.«

»Sie sind nie zuvor aufgetreten?«

»Das sagte ich.«

»Könnte es sein ...« Eleonore hielt inne. Ihr gingen zahlreiche Überlegungen durch den Kopf, aber alle waren rein spekulativ. Damit konnte sie Ters Richarge nicht kommen.

»Weitere Fragen?«

»Nein«, antwortete Eleonore zögernd.

Wortlos löste sich das Holo auf, und mit ihm verschwand der Dunst, der das Transportdeck und die restliche Umgebung vor Eleonores Blicken verhüllt hatte.

Pepe Felix warf Eleonore einen bezeichnenden Blick zu. Na, habe ich es dir nicht gesagt?

»Erstatten wir Bonzani Bericht«, sagte Eleonore nach einem langen Seufzer.

 

*

 

Der Rückweg zum PONTON-Tender GALILEO GALILEI dauerte eine Weile. Fest angebrachte Röhrengänge verbanden den Polyport-Hof mit dem Tender.

Die Röhre, die sie nutzten, erinnerte Eleonore Pazza ein wenig an die Transferkamine, die auf dem Transferdeck endeten. Sie war zwar viel schmaler und kürzer, schien aber ebenfalls in eine völlig andere Welt zu führen.

Ein gepoltes Antigravfeld beförderte Pazza und ihr Team mit beträchtlicher Geschwindigkeit zum Tender.

Eleonore lächelte schwach bei dem Gedanken, wie komisch es war, dass der Tender fast genauso hieß wie der Polyport-Hof, der darauf geparkt war. Was war zuerst da gewesen – der Name des Hofs oder der des Tenders? Sie hatte es schon öfter herausfinden wollen, musste einfach nur in den Datenbanken nachsehen, hatte es aber immer wieder vergessen.

Der Kommandant tat Dienst in der Zentrale. Er runzelte die Stirn, als Eleonore zu ihm trat. »Schon wieder?«, fragte er.

Eleonore nickte.

Bonzani gab sich äußerlich gelassen, doch Pazza erkannte, dass es in ihm brodelte. Seit zwei Tagen beunruhigten ihn diese Meldungen. Selbst wenn von diesen falschen Wahrnehmungen keine Gefahr auszugehen schien, störten sie ihn gewaltig.

Sie gehörten nicht an Bord seines Schiffes – oder des Transporthofs, der unter seiner Verantwortung stand.

Er dachte kurz nach. »Besorg mir eine Verbindung mit Bartolome Westerhout!«, wandte er sich schließlich an den Leiter der Abteilung Funk und Ortung. »Und lass dich nicht abwimmeln. Ich weiß, der Administrator hat viel zu tun und sowieso keine Zeit, aber es ist wichtig. Beruf dich auf mich. Flottenpriorität!«

»Das kann eine Weile dauern«, gab Simon Sanussi zu bedenken, ein vielleicht einhundertjähriger Ganymed-Geborener.

»Ich warte«, sagte Bonzani gereizter, als er es wahrscheinlich beabsichtigt hatte.

Eleonore wollte sich abwenden und die Zentrale verlassen, doch der Kommandant gab ihr ein Zeichen. »Bleib! Wenn Bartolome sich stur stellt, brauche ich vielleicht eine Zeugin, die meine Worte eindrucksvoll bestätigt. Halt dich also nicht zurück, falls ich dich ins Gespräch einbeziehen muss.«

Achselzuckend nahm Eleonore in dem freien Sessel neben ihm Platz. »Kennst du den Administrator?« Der 50-jährige Kommandant war auf Titan geboren, in der Hauptstadt Port Latrur.

»Könnte man sagen. Wir sind uns mal über den Weg gelaufen. Titan ist ein Dorf.« Versonnen rief Bonzani ein Holo auf.

Es zeigte den PONTON-Tender und den an ihn gekoppelten Polyport-Hof GALILEO. Das Gespann flog in einem niedrigen Orbit um den Saturnmond Titan, innerhalb des Paratronschirms, der den Mond umgab.

Der Transporthof wirkte im Vergleich zu dem Tender geradezu erhaben, gestand sich Eleonore zum wiederholten Mal ein. Seine Hülle bestand aus bernsteinfarben schimmernder Formenergie, ähnlich wie die Mehrzahl seiner Gänge. Und genauso strahlte sie ein weiches, warmes Licht aus, das sich weit in den Raum ausdehnte. Der Hof hatte die Form von zwei mit den offenen Seiten aufeinandergesetzten, annähernd quadratischen Tellern mit abgerundeten Ecken und unregelmäßigen Kanten. Die Seitenlänge lag bei 2580 Metern, die größte Dicke dagegen bei nicht mehr als 202 Metern. Die obere Tellerhälfte wies eine 1420 Meter durchmessende, kreisrunde Sichthaube aus einem hochfesten Material auf.

Daneben der Tender, viel wuchtiger und massiger wirkend als der Transporthof, eine Scheibe von fünf Kilometern Durchmesser und einem Kilometer Dicke. Um den gesamten Rand des Zylindermantels zog sich eine Hangargalerie von 300 Metern Höhe und 800 Metern Tiefe. Mit den Bug- und Heckgondeln betrug die Länge der Einheit etwa 5700 Meter, mit den auf der Hülle errichteten Pylonen kam er auf die Gesamthöhe von 2170 Metern. Es handelte sich bei der GALILEO GALILEI um einen relativ alten Tender, der wegen seiner speziellen Aufgabe nicht mehr wesentlich modernisiert worden war.

Darunter, in der dreidimensionalen Darstellung ein Stück entfernt, aber noch in allen wichtigen Details zu erkennen, mit einem Durchmesser von 5150 Kilometern der Titan, der größte Mond des Saturn und nach dem Verschwinden Lunas der zweitgrößter Mond des Solsystems überhaupt. Ursprünglich war er eine Methanwelt gewesen, doch man hatte ihn mehrmals einem Planetenforming unterzogen, zuletzt im Zug der Remilitarisierung der LFT ab 1223 NGZ, bei der der Titan zu einer wichtigen Rüst- und Werftwelt wurde. Die ursprüngliche Atmosphäre, die fast ausschließlich aus Stickstoff bestanden hatte, war durch eine für Menschen atembare Sauerstoffatmosphäre ersetzt worden, die durch künstliche Gravitation festgehalten wurde. Einhundert Atomsonnen gaben dem Mond nicht nur Licht, sondern hoben die Lufttemperatur über den Gefrierpunkt.

Von seiner ursprünglichen Oberfläche war nicht viel erhalten geblieben. Wo früher Methanstürme über einen kalten Felsbrocken getobt hatten, erhoben sich nun fast durchgehend Gebäude, die meisten davon quaderförmig und gedrungen, als hätten ihre Erbauer noch den Schutz vor den Orkanen und den niedrigen Temperaturen im Sinn gehabt. Architektonisch Außergewöhnliches fand man nicht; wie das einstige Arkon III war Titan in eine Welt umgestaltet worden, auf der durchgehend Waffen und Raumschiffe produziert wurden. Kein Wunder, dass man zu seinem Schutz einen Paratronschirm um den Mond gelegt hatte.

Tonio Bonzani rieb sich mit der rechten Hand nachdenklich über das Kinn. »Was geht in GALILEO vor? Irgendwas muss diese Phänomene ausgelöst haben.« Er hob den Kopf und sah Eleonore an. »Und ich befürchte, es wird nicht bei plätschernden Bergbächen und schönen Liedern bleiben.«

Eleonore zuckte hilflos mit den Achseln.

»Das kann kein Zufall sein«, fuhr Bonzani fort.

»Was meinst du?«

Er zögerte kurz. »Vor zwei Tagen ... hat sich etwas geändert. Am 14. Oktober. Da hat man irgendetwas zum ...«

»Bartolome Westerhout!«, rief Sanussi, und vor dem Kommandanten bildete sich ein Holo des Administrators von Titan.

Ein in leuchtendem, knalligem Rot gefärbter Backenbart umrahmte sein schmales Gesicht mit den ebenfalls roten Augen, und er schien nicht wesentlich älter als Bonzani zu sein. Vielleicht haben die beiden sich während ihrer Ausbildung kennengelernt, überlegte Eleonore.

Besonders zu mögen schienen sie einander allerdings nicht. »Tonio«, sagte der Administrator knapp, und Bonzani nickte lediglich und musterte sein Gegenüber schweigend.

»Was willst du?«, fragte Westerhout schließlich. Er bemühte sich nicht, seinen Unmut über Bonzanis Anruf zu verbergen.

»Wissen, was vor zwei Tagen passiert ist.«

»Vor zwei Tagen?« Der Administrator runzelte die Stirn. »Was soll vor zwei Tagen passiert sein?«

»Verkauf mich nicht für dumm!«, sagte Bonzani scharf. »Was hat sich vor zwei Tagen verändert? Was hat sich auf Titan getan? Genauer gesagt: Was wurde auf den Mond gebracht?«

»Darüber kann ich dir leider keine Auskunft geben.« Westerhout lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch, hinter dem er saß.

»Ich muss es wissen. Dass etwas auf den Mond gebracht wurde, ist mir bekannt. Die Flottenverzeichnisse führen zahlreiche Landungen von Raumschiffen auf. Alle sind dokumentiert und nachvollziehbar, bis auf eine. Was hat dieses Schiff nach Titan gebracht? Was immer es war ... Es nimmt Einfluss auf den Transporthof! Und das kann nicht gut sein.«

Der Administrator schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, ich kann es dir nicht sagen.«

»Es geht um die Sicherheit des Transporthofs. Muss ich mich auf die Flottenpriorität berufen?«

»Du kannst dich berufen, worauf du willst. Glaub mir, meine Befugnisse sind höher.«

»Es geht etwas vor in GALILEO. Was kannst du verraten?«

Westerhout zögerte kurz. »Nicht viel. Die RAS TSCHUBAI ist im Anflug. Darüber werden bald die Medien berichten. Aber über ihre eigentliche Mission darf ich nichts verlauten lassen. Mehr wirst du von mir nicht erfahren.« Er nickte knapp und beendete die Verbindung.

1.

Port Latrur

16. Oktober 1518 NGZ

 

Die RAS TSCHUBAI blieb hinter der Space-Jet zurück und wurde in den Holos schnell kleiner, die Oberfläche des Titan zugleich größer.

Titan ...