Götz Grossklaus

ORTSZEIT

Bibliografische Information

Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86205-943-0 (E-Book)

© IUDICIUM Verlag GmbH München 2005

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

I. DAS GEDÄCHTNIS DES HAUSES

II. DAS ZIMMER DER GEHÄNGTEN

III. EIN MORGEN AN DER SEE

IV. DIE ZEIT DES ROCHENS

V. TRISTEZZA

VI. DIE MANGA-PRINZESSIN

DAS GEDÄCHTNIS DES HAUSES

I.

Als hätte das Haus mitten in einem riesigen Garten gestanden – weit und breit nichts außer diesem weißen, übergroßen Haus mit Balkonen, Veranden und Erkern, umstanden von dichten Büschen und haushohen Hecken – geschützt hinter diesem undurchdringlichen Schutzwall: verborgen; als hätte sich draußen jenseits der Zäune bedrohliches Niemandsland befunden; als hätte sich aber hinter dem Haus auf einer endlos abschüssigen Wiese ein Wald hinuntergezogen in ein abgründiges, modriges Tal – ein Wald voller Birnbäume, Apfelbäume, Pflaumenbäume und Mirabellenbäume; als hätten in den Himmel ragende Holunderbüsche die Eingangspforte umrahmt; als hätte es einer Tagesreise bedurft, um von einem Ende zum anderen Ende des Gartens zu gelangen – als hätten sich jenseits dieses Gartens nur tote Geröll- und Schuttfelder ausgedehnt bis an den Horizont einer bösen und unheimlichen Landschaft – so ruhte auf dem Grund seines Gedächtnisses ein altes Bild des Hauses.

Das Haus des Großvaters, das Haus seiner Kindheit, erschien ihm jetzt gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen der Zeit: die Bilder entstammten unterschiedlichen Zeiträumen des Vergangenen und fielen doch jetzt in seiner augenblicklichen Erinnerung in einem Raumbild des Hauses palimpsestartig zusammen. Jede Erinnerung aber trug die Spuren aller vorangehenden Erinnerungen, so dass es ihm vorkam, als habe das immer wieder aufscheinende Bild des Hauses an Dichte und Gegenwärtigkeit gerade dadurch gewonnen, weil es so oft in ihm wachgerufen worden war in den Jahren, die ihn immer weiter entfernt hatten von dem Ort seiner Kindheit: zeitlich wie räumlich. Die Erinnerungen entschädigten ihn für den Verlust, indem sie den Bildraum des Hauses ständig erweiterten – immer neue, schon vergessene Winkel, Seitenräume, Kammern und Verschläge im Inneren und irgendwelche abseitige Nischen und Höhlungen an den Rändern und Grenzen des Gartens im Außenfeld des Grundstückes ausleuchteten und wie im Zoom heranholten – schließlich überhaupt der ganzen Szene das Ansehen einer Simulation verliehen, die virtuell zu begehen war.

Auch seine Träume bewegten sich in diesem simulativen Raum; immer war er sich traumhaft bewusst, an welchem Ort im Haus er sich gerade befand oder an welcher Stelle des Gartens. So trugen auch die Träume dazu bei, die topographische Vertrautheit mit der erinnerten Örtlichkeit zu bewahren. In einem ständig sich wiederholenden Traum erlebte er seine Rückkehr an den verlorenen Ort seiner Kindheit, der nach der Grenzziehung durch Deutschland für eine lange Zeit unerreichbar blieb. Der Traum führte ihn auf vertrauten Wegen wieder zum Haus des Großvaters – am Ende die kleine, nicht gepflasterte Sackgasse hinauf, die in einen etwas verwilderten Vorplatz mit einem großen Holunderbusch mündete; und immer wieder stand er dann dort im Traum vor der Pforte, die er öffnete; er trat über die Schwelle, um dann die steinerne Treppe durch den abfallenden Vorgarten hinabzusteigen zum Haus, das hier am Hang lag. Dieser Traum einer Wiederkehr erteilte ihm in der Regelmäßigkeit seines Erscheinens einen unabweisbaren Befehl, dem er irgendwann nachzukommen hatte. Gerade in der Wiederholung bekam die Traumszene für ihn den nötigenden Charakter eines Rituals, das ihm vorschrieb, jene Schwelle zu überschreiten, die sich als Pforte, Treppe und Stufe zu erkennen gab und zwischen außen und innen vermittelte. Der Außenraum des Vorplatzes, der Straße, der Stadt – der Welt – hatte an der Pforte seine Grenze. Zwischen Pforte und Haustür erstreckte sich ein Schwellenraum, der weder der äußeren noch der inneren Welt zuzugehören schien. In diesem Traum kam er jedes Mal von außen: von weit her zurück an diese Pforte, um über die Zeitschwelle die Gegenwart zu verlassen, nach innen; und eintreten zu können in das Haus der Vergangenheit. Aber sobald er wach war und sich an den Traum zu erinnern versuchte, erschien vor seinem inneren Auge dieser Raum zwischen Pforte und Tür als magische Schwelle ganz konkreter Übergänge und Bewegungen – und zwar in umgekehrter Richtung: von innen nach außen – so wie er sich sah, herausgetreten aus dem schützenden Haus mit Vespertasche, Schulranzen und Schultüte, noch auf den Stufen der Steintreppe, aber noch nicht draußen angekommen: auf der Straße jenseits des Hauses, des Gartens und des Gartenzauns. Jedoch was in diesem Augenblick als inneres Bild dieses magischen Ortes – als Erinnerung an eine bestimmte Szene dieses Tages seiner Einschulung im April 1940 in ihm auftauchte, konnte nichts anderes sein als die Erinnerung an eine bestimmte Fotografie, die seine Mutter an jenem Tag von ihm gemacht hatte und die er sich so oft angeschaut hatte. Mit einem gewissen Gespür dafür, dass es sich um eine Initiation handelte, hatte sie ihn an dieser Schwelle zwischen innen und außen – zwischen Haus und Welt platziert – in Pose gestellt und im Foto gebannt an diese Raumstelle, an die er vierzig Jahre später in Befolgung des Traumbefehls zurückkehrte. Die Erinnerung an diese Rückkehr hatte inzwischen ihrerseits eine neue Spur gelegt, mit der er rechnen musste. Die Spuren aller Ankünfte und aller Abschiede, die für ihn in jenen Jahren der Kindheit eine besondere Bedeutung erlangt hatten, hafteten im wahrsten Sinne des Wortes an dieser Schwelle. Der ihm schon fremd gewordene Vater erschien plötzlich an der Pforte, kam die Steintreppe herunter in der ihm unbekannten Uniform eines Marineoffiziers, kam für ihn von weit her, von draußen, aus einer Weltgegend, in der ein Krieg herrschte, von dem er sich noch keine Vorstellungen machen konnte. Dieser Fremde durcheilte diesen für ihn so bedeutsamen Raum zwischen Pforte und Haustür, diese Zone, in der die Entscheidung für Abkehr oder Zuwendung fiel, ohne ihm Zeit zu lassen – wie ein Eindringling, der die Gesetze der Schwelle missachtete. Das Kind hatte sich nie Rechenschaft darüber ablegen können, ob diese Ankünfte des fremden Vaters in irgendeiner Verbindung standen mit einem immer wiederkehrenden kindlichen Angsttraum, der diesen Schwellenraum zwischen Straße, Pforte, Treppe und Haustür zum Schauplatz hatte. Er befand sich innen, im Haus, es war Nacht; von draußen hörte er das bedrohliche Geräusch einer von der unteren Straße sich dem Haus nähernden Horde von Banditen oder Soldaten; sehen konnte er nichts; nur der anschwellende Lärm von Motoren, von Bulldog-Traktoren, von Stimmengewirr, von klirrenden Gerätschaften setzte ihn zunehmend in Angst und Panik; er versuchte, die Haustür von innen zu verbarrikadieren; doch die Eindringlinge hatten inzwischen die Grundstücksgrenze schon überschritten, hatten Pforte und Treppe passiert und sammelten sich unter dem Vorbau, der das letzte Wegstück bis zur Haustür überdachte. Jetzt begannen sie mit Stangen, Brecheisen und Äxten die Haustür zu bearbeiten, um die letzte Grenzbefestigung auf der Scheidelinie zwischen innen und außen zu zertrümmern; er fürchtete, dass seine Barrikade dem Ansturm der Fremden nicht standhalten werde – er hörte mit Schrecken die krachenden Schläge – und das war immer auch der Augenblick des Erwachens.

Der Ort der Ankünfte und Abschiede, die Schwelle für den Hereinkommenden, Nachhausekommenden und für den Hinausgehenden behielt für ihn lange Zeit dieses Doppelgesicht einer angstbesetzten Grenze und gleichzeitig eines angstmindernden, vertrauten Terrains, das auf das schutzgewährende Haus zuführte. Für eine lange Zeit nahm das Kind so auch die Eingangspforte und die Steintreppe hinunter durch den kleinen Vorgarten als Schwelle wahr, die die Fremde der Außenwelt von der Eigen- und Innenwelt des Hauses schied. Die Schwelle blieb der Ort, an dem sich das Fremde, das Neue, das Erregende zeigte: nicht nur der fremde Vater auf Urlaub, auch die soldatischen Onkel im Offiziers-Ornat, die mit schweren wehrmachtsgrauen Limousinen vorfuhren – oder viel später die müden und beschwerten Flüchtlinge aus Schlesien, die mit ihrer Habe vor der Tür standen und Einlass begehrten. Einmal jedoch – in jenem Winter 1946, der ihm vor allem atmosphärisch als eine immerwährende, dunkel-bewölkte, bleiern-nasse und kalte Tauwetterzeit im Nebel und Nieselregen in Erinnerung ist, wurde der Grenzverkehr von innen nach außen und von außen nach innen schon an der Pforte gewaltsam unterbrochen; ein Schild wurde dort angebracht, das unter dem Bild eines Totenkopfes die Aufschrift trug: Achtung! Typhus! Keiner durfte das Haus verlassen, keiner die Pforte passieren. Im Haus lag die an Typhus erkrankte Tante; die Aus- und Eingänge blieben versperrt, und er sah sich zum ersten Mal angstvoll eingeschlossen in den Innenraum des Hauses, von dem jetzt Gefahr ausging.

Auf vielen Fotografien aber, aus den ersten Kriegsjahren, in denen das Leben in der kleinen Stadt am Harz, im Haus des Großvaters eigentlich noch unberührt von dem Geschehen in weiter Ferne dahinlief, ist die Eingangspforte zu sehen – als ein besonders freundlicher Ort – eingerahmt von Büschen und Sträuchern, von Forsythien und Rhododendron und vor allem von einem, im Frühling weiß leuchtenden Schneeballbäumchen – ein Ort des Empfangs oder des Aufbruchs, an dem die Besucher kurz verweilen, die Kinder aufgestellt werden, und der Großvater mit seinem Hund steht, noch oberhalb der Treppe, die zwischen einem kleinen Steingarten rechts und links hinunterführt zum Haus, das im Hintergrund des Bildes erscheint. Es sind diese Bilder, die ihm beim Betrachten im Album noch etwas von dieser vorläufigen und trügerischen Stimmung des Friedens wiederzugeben scheinen, die sich zumindest in seiner Erinnerung immer wieder mit diesen ersten Jahren in W. und dem Hause des Großvaters nach der Ankunft im Herbst 1939 verband.

Das gilt besonders für die Fotografien, die hinter dem Haus im Schatten des großen Pflaumenbaums gleich unterhalb der efeubewachsenen Veranda entstanden sind: Bilder einer sommerlichen Kaffeetafel; die Großmutter, die Mutter in hellen Sommerkleidern an einem offenbar heißen Nachmittag, die Kinder auf dem Schoß haltend, im Hintergrund Büsche und Bäume des verwilderten Nachbarsgarten und seitlich der Kiesgrund des Veranda-Vorplatzes mit der Buchsbaumeinfassung. Die Bilder lösten in ihm jedes Mal Kaskaden von Assoziationen aus, die die längst vergangene Szene in jähen Verdichtungen wieder wach rief, so dass in seinem Inneren ein fast vollständiges sinnliches Bild des Gewesenen entstand. Er hörte das besondere knirschende Geräusch von Schritten auf dem Gartenkies, so wie er es in der Kindheit so oft gehört hatte; und roch den besonderen, leicht modrig feuchten Duft des Buchsbaums, so wie er ihn in der Kindheit gerochen hatte. Er fühlte die angenehme Kühle im Schatten des Baumes und der Veranda an der nördlichen Rückseite des Hauses an diesem heißen Sommer-Nachmittag – vielleicht des Jahres 1940 – und empfand den unnatürlichen Frieden, den die Szene ausstrahlte.

Immer scheint die Zeit in den Fotografien angehalten und gestaut, und die Bilder in den Alben kehren immer wieder an jene besonderen Schauplätze im Raumfeld des Hauses zurück, an denen die Menschen ohnehin für eine kurze Frist in einer verlangsamten oder stillgestellten Zeit verweilen. So verharren sie auf der Schwelle, an der Eingangspforte zum Haus oder sie überlassen sich an Sommertagen auf der Terrasse hinter dem Haus einem Zeittakt, der von den alltäglichen Abläufen im Haus und in der Welt draußen doch entschieden abweicht. Diese Schauplätze vor und hinter dem Haus gewinnen für ihn auf den Bildern das Ansehen fast kultischer Örter, an denen die wiederkehrenden Rituale der Begrüßung und Verabschiedung, der Begegnung des Gesprächs und der nachmittäglichen Kaffeetafeln stattfanden. In seiner Erinnerung behauptete sich an diesen rituellen Örtern die gesellige und familiäre Ordnung und Hierarchie – gewissermaßen im Vorfeld ihres eigentlichen Geltungsbereichs im Inneren des Hauses und somit ausgreifend auf Außenbezirke des Gartens, die das Kind als sein Territorium empfand.

Beim Betrachten dieser Bilder im Album entsann er sich jedoch bestimmter verborgener Stellen im Garten, die nur für ihn die Aura eines rituellen Ortes gewonnen hatten: so einer bestimmten Stelle im Halbdunkel unter der Verandatreppe gleich an der Hauswand, wo er ein kleines Kästchen vergraben hatte, das einige funkelnde Kupfererzsteine, einen Ring, eine Zeichnung und ein zerlesenes Büchlein und einiges mehr, an das er sich nicht mehr erinnern konnte, enthielt. In seiner Vorstellung sollte all dies eines Tages in der fernen Zukunft als Zeugnis seines kindlichen Phantasiereiches wieder ausgegraben werden können. Magische Bedeutung hatte für ihn die Nische unter den Büschen, in der die Regentonne stand. Der brackig-faulig-moosige Geruch des schwarzen Regenwassers stieg ihm auch noch in der Erinnerung in die Nase; doch für das Kind ging Schrecken und Faszination von der Vorstellung aus, dass die Tonne eigentlich keinen Boden haben könne und dass ihr schwarzes Wasser aus der Tiefe der Erde aufstieg; so öffnete sich für ihn, wenn er sich über den Rand der Regentonne beugte, ein dunkles Tor ins Unbekannte einer unterirdischen Welt. Die Tonne aber verbarg ihre eigentliche Bedeutung, die Oberwelt des Hauses und des Gartens mit einer geheimnisvollen Unterwelt unmittelbar zu verbinden. Nur für ihn enthüllte sich dieses Geheimnis, nur für ihn stiegen die Wassergeister auf und ab, nur für ihn bestand die Gefahr, hinabgezogen zu werden in die Tiefe, nur für ihn offenbarte der metallisch-starr und unbewegliche schwarze Wasserspiegel seinen unheimlichen Doppelsinn. Keine Fotografie konnte davon Zeugnis ablegen. Keine Fotografie existierte von diesen geheimen Orten, die immer auch Punkte des Übergangs waren: von außen nach innen: enge von Sträuchern halb verdeckte, schattige Plätze, von Unkraut bewachsen, an den Rändern des Gartens: Gegenräume zur rechtwinkligen Ordnung der Beete und Rabatten, zu den Kieswegen und Terrassen, zur freien und offenen Wiese mit den Obstbäumen – und natürlich zu denjenigen Orten, die den Status des öffentlich-familiären Rituals besaßen.

Das ganze Areal des Gartens mit all seinen öffentlichen und geheimen Örtern, mit Wegen und Treppen, Terrassen, Schwellen und Passagen lag bis an die Grenzen der Zäune in überdeutlichen Konturen, die sich erst jenseits des Zauns zu den Nachbargrundstücken hin abschwächten, vor seinem inneren Auge. Auch schien er wie von oben aus der Vogelperspektive auf den Garten und das Haus als Zentrum dieses umhegten Raums hinabzublicken, wobei unter diesem Blick aus der Ferne der Zeit alles wie durchtränkt von der Geschichte erscheinen musste. Gegenstände und Dinge des verlorenen realen Raums gaben sich als Chiffren und Zeichen zu erkennen, die es zu lesen und zu deuten galt wie Wörter, Buchstaben und Sätze in einem Text. Gerüche und Düfte waren andere Wegweiser in die Tiefe der vergangenen Zeit. So erinnerte er sich gleichzeitig mit den Bildern an den Geruch des Feuers, das der Großvater im Herbst auf den Kartoffelbeeten entzündete: ein würziger Geruch nach verbranntem Kartoffelkraut und feuchtem Laub, nach schwelenden Ästen und glimmendem Wurzelwerk, der sich in feinem Rauch über den ganzen Garten verbreitete und in Dunstschwaden durch die an warmen Herbsttagen offenstehenden Fenster in die Zimmer eindrang: ein Abschieds-Geruch, der ganze Bildfolgen des Vergangenen in ihm aufrufen konnte, immer dann, wenn viel später auf irgendeinem Herbstfeld dieser Geruch ihn berührte.

II.

Aus den Jahren seiner Kindheit im Hause des Großvaters zwischen 1939 und 1946 hatten sich in dem Album keine Fotografien der Innenräume erhalten; so waren seine Gedächtnisbilder, die er mit so großer Deutlichkeit von allen Zimmern des Hauses in sich wachrufen konnte, in diesem Sinne rein und ungetrübt als sie ganz ohne Berührung mit den äußeren Bildzeugnissen der fotografischen Archive auf unmittelbare Spuren im eigenen Gedächtnis zurückgingen. Außer acht lassen konnte er eine schwache Bildspur, die sich über jene erste und frühe Einprägung gelegt haben mochte, nachdem er die Räume des Hauses zum ersten Mal in den achtziger Jahren wieder betreten hatte. Aber was ihm davon in Erinnerung blieb, war lediglich das Gefühl der Fremdheit, der Entfremdung und das Erlebnis des Nicht-Übereinstimmenden. Das Innere der Räume war durch die gegenwärtigen Bewohner derartigen Veränderungen unterworfen, dass seine Gedächtnisbilder sich nicht mehr mit der Anschauung deckten.

Der Raum der Kindheit war ein für alle Mal verschwunden, untergegangen, versunken; er ließ sich nicht mehr betreten, und so, wie er ihm jetzt auf der Bühne seiner Erinnerung vor Augen trat, hatte er nie existiert.

Wie in einem Puzzle baute die Erinnerung den Innenraum des Hauses auf: Puzzlestein für Puzzlestein, von den oberen und unteren Rändern aus, das Mittelfeld zunächst einmal aussparend. Seine Erinnerung kehrte sofort und zuerst an die wilden äußersten Grenzzonen des Hauses zurück – dorthin, wo die engen kleinen Gäste- und Mädchenzimmer, die Verschläge und Abstellkammern unter schrägen Decken unter dem Dach lagen – und dorthin, wo über eine Stiege die in immer- währendem Halbdunkel spärlicher Beleuchtungen verharrenden Kellerräume zu erreichen waren. Oben grenzten die Boden- und Speicherräume gewissermaßen an Luft und Wolken; hier prasselte der Regen auf das Dach; von hier hatten die Kinder durch die Dachluken einen weiten Blick von oben auf den Schlossberg und die Stadt – unten grenzte der Hauskeller an das Erdreich, von dem Feuchtigkeit ausging und jener erdige Geruch, der im Tumult der anderen Gerüche nach Holz, Kartoffeln und nasser Wäsche immer wahrnehmbar blieb.

Erst nach erinnerungssüchtiger Abtastung dieser wilden Zonen, die doch immer oberhalb oder unterhalb, auf jeden Fall außerhalb des verwalteten und kontrollierten Raums in der Mitte des Hauses sich öffneten, tauchten die Bilder der großväterlichen Räume, der großmütterlichen Küche, des Esszimmers, des Musikzimmers in ihm wieder auf: Bilder jener Räume, in denen feste Ordnungen und Regeln galten und in denen seine Freiheit – anders als in den oberirdischen und unterirdischen wilden Zonen – eingeschränkt war.

An die Bodenräume erinnerte er sich als Orte der verbotenen und geheimen Spiele – als Orte phantastischer Erregung und magischer Erkundung; ein abseitiges Territorium, das von Erwachsenen selten betreten wurde. Die zwei Kammern, die über einen schmalen Vorraum unter der Dachschräge zu erreichen waren, bewohnten das Dienstmädchen und später der Vetter. Beide aber gehörten gewissermaßen schon zum magischen Personal. Der Kleiderschrank des Mädchens – eigentlich ein profaner Holzverschlag im offenen Vorraum – hatte für ihn die Bedeutung eines Schreins gewonnen, der etwas Unbekanntes und Gefährliches barg. Und als er es schließlich wagte, die Schranktüren zu öffnen, versank er nur wollüstig im Dunst und Geruch von Weiblichkeit, die Kleider und Wäsche des Mädchens ausströmten. Die Kammer, in der das Mädchen hauste, aber unterlag für den Neunjährigen einem Tabu, das er nur teilweise durchbrach, wenn er sich an die Türe schlich, um durch das Schlüsselloch dem Mädchen beim An- und Auskleiden zuzusehen – wobei ihm dieser Blick immer nur unbefriedigende Teilansichten auf den Körper gewährte.

Wann der Vetter die zweite gegenüberliegende Bodenkammer bezog, ließ sich allein aus seiner Erinnerung nicht bestimmen; sie leitete ihn immer und zuerst an die alten auratischen Orte der Kindheit, ohne ihm sagen zu können, in welchem Zeitfeld er sich gerade bewegte. Er konnte sich jedoch entsinnen, dass der Vetter mit seiner Mutter und seiner Schwester – ausgebombt wie es hieß – nach einem Luftangriff auf ihre Heimatstadt ins Haus des Großvaters kamen; aber nur vage konnte er sich diese Ankunft als Ereignis in der Zeit vorstellen – irgendwann im Laufe des Jahres 1943, ein Zeitpunkt, der ihm nur in einem später erworbenen Datenraster zugänglich war. Die Ankunft jedoch ereignete sich in einer anderen Zeit – in einer magischen Zeit, die derartige Abschnitte und Zählungen nicht kannte. So erschien der Vetter plötzlich im Haus und verschwand wieder, und nur noch seine Stimme war zu einer bestimmten Stunde auf einer von ihm mitgeteilten Frequenz im Volksempfänger des Großvaters zu hören, wenn er über einen Flaksender die Lageberichte zur Einflugbewegung der Bomberverbände verlas. So lauschte er der Stimme des Vetters und wusste, dass es so sein musste, ihn aus einem Apparat heraus zu hören – von weit her, aus der Gegend von Magdeburg – vermittelt durch elektromagnetische Wellen, denen sich der Vetter ohnehin verschrieben hatte – so wie die Bodenkammer des Vetters, die er mit Ehrfurcht betrat, für ihn von Anfang an ein Ort sphärischer Übermittlungen war. Botschaften erreichten sein Ohr in den Kopfhörern wie aus unendlicher Ferne; jedes Geräusch, jedes Knistern oder Knacken, jedes Summen schon stiftete einen geheimnisvollen Kontakt zu irgendeinem Punkt in der Weite des Raums jenseits der Grenzen des Hauses. Jede Stimme und jeder Klang hatten Teil an der Sogwirkung, die von der imaginären Tiefe dieser Sphären ausging. Die technischen Apparate des Vetters öffneten ihm so für Augenblicke des Horchens und Lauschens an den Hörmuscheln oder Lautsprechern die Raumgrenzen des Hauses und ließen seine abgeschlossene Innenwelt durchlässig werden auf eine unbekannte Außenwelt hin. In der Bodenkammer regierte der Vetter als Herr einer Zwischenwelt. Er verfügte als Konstrukteur allein über Mittel und Wege eines neuartigen Transits, und die Schaltpläne, nach denen der Vetter seine Empfänger baute, erschienen ihm als Besucher in der Kammer exakt als die Wegekarten, nach denen die Übergänge in die Fremde zu bewerkstelligen wären. Zunächst aber entsprachen die Linien- und Streckenführungen auf den Plänen den Verknüpfungen und Verbindungen der vielen, verschiedenfarbigen Kondensatoren und Widerstände im Inneren des Apparats, der dann planmäßig alle Kontakte zum Außenraum stiftete. Allein schon die Gerüche, die von violett glimmenden Radioröhren, von leicht erwärmten Transformatoren, vom Bakelit des Rahmens, von der dünnen Stoffbespannung des Lautsprechers ausgingen, waren ihm fremd genug, aufregend zu riechen wie die Wäsche des Dienstmädchens gegenüber auf der anderen Seite des Bodenvorplatzes. Die Souveränität, mit der der Vetter hier oben in seinem technischen Reich schaltete und waltete, stand im komischen Kontrast zu der kläglichen Rolle, die er – zum großen Vergnügen der hinter den Türen lauschenden jüngeren Vettern