Katja Brandis

KHYONA

Im Bann des Silberfalken

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Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag
Woodwalkers. Carags Verwandlung
Woodwalkers. Gefährliche Freundschaft

Woodwalkers. Hollys Geheimnis
Woodwalkers. Fremde Wildnis
Woodwalkers. Feindliche Spuren

Katja Brandis, Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik
und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Schon in
der Schule liehen sich viele Mitschüler ihre Manuskripte aus, wenn
sie neuen Lesestoff brauchten. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane
für Jugendliche veröffentlicht, unter anderem Ruf der Tiefe, Floaters
– Im Sog des Meeres
und White Zone. Mit ihrer Bestseller-Reihe
Woodwalkers begeistert sie Jungen und Mädchen gleichermaßen. Für
Khyona recherchierte sie drei Wochen in Island, staunte über Geysire,
stapfte auf einem Gletscher herum und ritt auf Islandpferden durch
die grandiose Landschaft. Sie lebt mit Mann, Sohn und
drei Katzen in der Nähe von München.

www.katja-brandis.de

Für Nadja

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1. Auflage 2018
© Arena-Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur
Gerd F. Rumler (München)
Fotos: Shutterstock: Espen Solvik Kristiansen, MikeDrago,
Atiketta Sangasaeng, AlohaHawaii, Rattanarud Suphan,
kojihirano, Ali Bernie Buga-ay und Stefano Garau
Covergestaltung: Alexander Kopainski
ISBN 978-3-401-80785-0

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PROLOG

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Es war ein sonniger Tag gewesen, aber nun wanderte die Sonne dem Horizont entgegen und es wurde immer kühler. Fast ohne es zu merken, zog der junge Mann den Umhang enger um sich. Dann ging er in die Hocke, um die Hand auf das raue Gestein legen zu können, und spürte in den Boden hinein. Das hätte er auch tun können, ohne die Erde zu berühren, aber er mochte es, wie sich der Stein an seiner Handfläche anfühlte.

An diesem Ort war das Innere der Erde hellwach. Er spürte das heiße Glühen darin, das nur darauf wartete, ungestüme Bewegung zu werden. Es ging dem Vulkan gut, kein Zweifel. Einen Moment lang war er neidisch darauf, wie lebendig dieser Berg war. Lebendiger als er selbst, so kam es ihm manchmal vor. Sein Inneres fühlte sich immer noch erstarrt an – würde sich das jemals wieder ändern?

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Er wusste, das Feuer in der Tiefe war nah daran, an die Oberfläche zu brechen. Schon versuchte seine Vorstellungskraft, ein Bild davon zu erschaffen, gespeist aus dem, was er schon so oft gesehen hatte. Doch er unterdrückte die Bilder sofort, die Gefahr war zu groß, dass sie durch seine Gedanken und Gefühle Wirklichkeit wurden. Noch war die Zeit dieses Vulkans nicht gekommen.

Manchmal war es anstrengend, so viel Macht zu haben, doch sie war schon ein Teil von ihm, solange er denken konnte. Wieso hat Gunnar nicht härter daran gearbeitet, sie zu kontrollieren? Verdammt, ich hätte mit ihm üben sollen! Ja, es war eigentlich die Aufgabe unserer Eltern, aber trotzdem …

Als er spürte, wie ihn seine Gedanken aufwühlten, stellte er sich vor, wie er sie aus sich hinausschickte. Seine Fantasie machte schwarze Schlieren daraus. Der nächste Windstoß trug sie davon, fast konnte er es vor seinem inneren Auge sehen.

Er atmete tief, einmal, zweimal, spürte der ausströmenden Luft und seinem Herzschlag nach. Lauschte auf das, was seine Sinne ihm meldeten. Den kühlen Wind mit einem Hauch von Frost, den Geruch nach Moos und feuchten Steinen und Schwefel.

Ganz langsam fühlte er sich besser.

Im Sommer war es Tag und Nacht hell. Es war eine Zeit, in der im ganzen Reich Isslar und vor allem in der Hauptstadt Khyona alle schwatzten und sich trafen und draußen waren, solange sie konnten. Aber jetzt schlich sich der Herbst an und die Dunkelheit kam immer früher. Vielleicht würden die Götter bald die ersten Nordlichter schicken.

Die ungewohnte Dunkelheit störte ihn – in welcher Richtung war sein Lagerplatz? Sio, sein Fuchs, war gerade auf Jagd unterwegs und entschuldigte sich, er würde ihm ein anderes Mal den Weg zeigen, sobald er diese fette Maus erwischt hatte.

Er seufzte und pfiff nach Fiala, doch seine Stute machte sich nur darüber lustig, was für einen schlechten Ortssinn Menschen hatten, und ging betont langsam in seine Richtung. Also atmete er noch einmal ein, konzentrierte sich. Die Flamme kam sofort, als er sie rief, und einer der Felsen in der Nähe wurde in grüngelbes Feuer gehüllt. Lautlos zuckten die Flammen himmelwärts, waren rastlos in Bewegung, fließend, gleitend. Es war nur ein Scheinfeuer, aber es spendete Licht und sogar ein wenig Wärme, wenn man nah genug herankam.

Ganz plötzlich eine fremde Stimme. »He! Siehst du das, Gudur?«

Der junge Mann wandte den Kopf und bemerkte die Silhouetten der beiden Reiter. Sigurds Rache, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sie ritten im schnellen Tölt heran, um nachzusehen, was hier vorging … und sahen ihn im Licht des Scheinfeuers auf der Kuppe stehen. Dann passierte das, was er befürchtet hatte. Einen Herzschlag lang starrten die beiden – ein Mann und eine Frau – ihn an, dann stiegen sie hastig ab, stützten ein Knie auf den Boden und beugten vor ihm den Kopf.

»Herr des Feuers!« Die Stimme des Mannes war ein raues Flüstern, halb furchtsam, halb ehrerbietig.

In dieser Gegend lebte noch ein sehr alter Vulkankult fort, den die Fürstin in der Stadt längst unterdrückt hatte. Doch die Menschen in diesem rauen Bergland verehrten, wen und was sie wollten, und ließen sich nicht davon abbringen.

»Erhebt euch!«, sagte er und unterdrückte ein Seufzen. »Bitte geht. Es gibt etwas … das ich hier tun muss. Allein.«

Zum Glück schluckten sie die Lüge sofort, sie ahnten nicht, dass er einfach nur für sich sein wollte … und auch nicht wirklich allein war, wenn Sio und Fiala sich wieder zu ihm bequemen würden. Nachdem die Reiter ehrerbietig die rituellen Worte gemurmelt hatten, die an ihn, die Göttin und den Berg gerichtet waren, zogen sie sich zurück.

Und seine Gesellschaft waren wieder die Berge, der Himmel, der Wind.

ZWEI DUNKLE AUGEN

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Ich werde beobachtet. Kari wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie war da, ganz plötzlich. Völlig unlogisch – wer sollte sie denn sehen? Sie waren doch die Einzigen auf diesem kleinen Schotterparkplatz eine halbe Stunde außerhalb von Reykjavík. Auf der Landstraße sauste nur hin und wieder ein Auto vorbei.

Kari blickte sich um, sondierte mit den Augen die Pferdeweiden, die Wiesen, die Berge, deren grünbraune Zacken am Horizont aufragten. Niemand da.

Fast niemand.

»Was schaust du denn so? Komm, wir klettern da runter, das sieht toll aus!« Ihre kleine Schwester Alice knuffte sie in die Seite. Ihre hellblauen Augen blitzten unternehmungslustig und ihre schulterlangen Haare, glatt und braun wie das Fell eines Otters, glänzten in der Sonne. Ohne eine Antwort abzuwarten, bewegte Alice sich halb rutschend, halb springend den Geröllhang hinunter zu einer Wildwiese, die mit lila blühendem Heidekraut, gelben Blümchen und Gebüsch bewachsen war.

Kari streckte sich, lockerte ihre verspannten Schultern und atmete tief ein. Islands Hauptstadt mit ihren bunten Wellblechhäusern und den Straßen voller Andenkenläden, Restaurants und Buchhandlungen hatte ihr gefallen, aber jetzt wollte sie endlich die berühmten Naturschönheiten sehen. Die lauerten hier laut Reiseführer buchstäblich an jeder Ecke, falls Naturschönheiten so etwas konnten.

Alice war inzwischen auf der Wiese angekommen, die es zwar nie in den Reiseführer schaffen würde, aber immerhin »Natur« und außerdem »schön« war.

»He, halt mal, habt ihr nicht auch gelesen, dass besonders das Moos hier sehr empfindlich ist und man nichts zertrampeln sollte?«, wandte ihr Patchworkbruder John Elzheimer ein. Er dachte nicht daran, seine Sonnenbrille abzusetzen. Seine Augen blieben hinter schwarzen Gläsern verborgen.

Natürlich hat er recht, so wie immer. Lehrersohn halt. Kari zögerte. Gerade warf sich Alice neben einem verwitterten Felsbrocken auf die Wiese. »Aber hier ist gar kein Moos, das sind nur Gras und Heidekraut«, meldete sie. »Oh, ist das dick und weich! Das müsst ihr ausprobieren! Wenn man drauftritt, federt es zurück, das geht nicht gleich kaputt.«

Die Versuchung war zu stark. Komm, sag es, sag es, petz das an deinen Vater!, dachte Kari, während sie den Hang hinunterkletterte. Doch John zog wahrscheinlich nur die Augenbrauen hoch, das hörte man nicht. Gut so.

Seufzend vor Behagen machte Kari es sich im sonnenwarmen Heidekraut bequem. Oh ja, das fühlte sich unglaublich an – wie ein ultradicker Teppich, der würzig nach Kräutern roch.

»Das hier ist nicht wirklich Island«, murmelte Kari.

»Was denn sonst?« Alice kitzelte sie mit einem Grashalm an der Nase.

»In Island gibt es hundert Wörter für Wind, außerdem regnet es die meiste Zeit.« Kari schloss einen Moment lang die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

»Du ärgerst dich nur, weil Mam dir gesagt hat, du sollst deinen geliebten Norwegerpulli im Auto lassen«, behauptete Alice.

»Wenn ich Pech habe, wird der von einheimischen Elfen aufgeribbelt, wenn ich mal nicht hinsehe. Weil man hier nur Islandpullis tragen darf.«

»Kommt ihr? Wir machen übrigens da vorne Picknick!«, rief John zu ihnen herüber, er klang genervt.

»Ja, gleich!«, rief Kari zurück und flüsterte Alice zu: »Boah, wie der dasteht – das ist seine Geheimagentenpose. Die Coolness läuft ihm gleich aus den Ohren.«

Alice kicherte leise. »Wetten, zum nächsten Fasching geht er wieder als James Bond? Wie schon letztes Jahr und wahrscheinlich im Jahr davor.«

»Garantiert.«

»Nur die Pickel passen nicht ganz. Bond hat keine Pickel!«

»Doch«, sagte Kari und musste grinsen »Aufgeklebte. Es sind winzige getarnte Sprengwaffen, die er abnehmen und auf seinen Gegner schleudern kann.«

Ihre zwölfjährige Schwester drückte das Gesicht in ihren Ärmel, um ihren Lachanfall zu verbergen.

»Wir sind ganz schön gemein, oder?«, meinte sie, als sie wieder Luft bekam.

»Ja«, sagte Kari und verzog das Gesicht zu einer reuigen Grimasse. Für echte Reue reichte es nicht. »Ziemlich. Und jetzt komm, vielleicht ist noch Vanille-Skyr übrig, du weißt schon, dieses Quarkzeug, das wir gestern im Supermarkt gekauft haben.«

Sie warf einen kurzen Blick hinüber zum Auto und stellte fest, dass ihre Mutter und Thorsten sich mit der Picknicktüte in der Hand küssten und über irgendetwas lachten. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand eine lange Nadel ins Herz bohren, ganz langsam. Würde es jemals wieder so werden wie vorher, als sie noch ein Drei-Mädels-Haushalt gewesen waren, wie Mam es manchmal ausgedrückt hatte? Wenn sie und Mam, die beiden Frühaufsteher in der Familie, in Joggingklamotten beim Frühstück gesessen hatten, den ersten Kaffee oder Kakao in der Hand und die Füße hochgelegt. Wenn sie sich gegenseitig interessante Sachen aus der Zeitung vorgelesen hatten oder witzige Sätze aus dem Buch, in dem sie gerade schmökerten?

Jetzt lief das so, dass Mam beim Frühstück mit Thorsten Elzheimer über Politik oder irgendeinen gesellschaftlichen Trend diskutierte, über seine lahmen Witze lachte und fragte, ob er noch eine Scheibe von diesem in Blabladorf handgemachten Bergkäse wollte. Wenn man Glück hatte, musste man nur zweimal fragen, ob sie einem die Butter reichen könnte. Mit noch mehr Glück wurde man satt, bevor Thorsten verkündete, dass sie jetzt langsam in die Gänge kommen sollten, und Sekunden später abzuräumen begann.

Kari ließ ihren Blick weiter schweifen – sie fühlte sich noch immer beobachtet, das Gefühl war stärker geworden. Aber da ist nichts … oder doch? Sie blickte sich um und fühlte die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbeln, doch ihre Augen entdeckten nichts Verdächtiges. Alles Einbildung – und ich brauche jetzt dringend ein paar Chips. Oder wenigstens welche von diesen echt isländischen getrockneten Fischflocken, auf die Alice so abfährt, weil sie ein bisschen wie Chips schmecken.

Das Picknick fand am Rand des Schotterparkplatzes statt. Kari hatte keine Lust mehr, sich zu unterhalten, und blieb einsilbig, während sie die salzigen Fischflocken knabberte und sich von Alice mit ein paar Löffeln Skyr füttern ließ. Diesmal war es immerhin eindeutig, wer sie dabei beobachtete. John fixierte sie mit seinen Sonnenbrillenaugen, und sein abfälliges Grinsen ließ keinen Zweifel daran, wie albern er es fand, wie sie und Alice herumflachsten. Ja, dachte Kari gereizt und wischte sich einen Klecks Skyr von der Jeans. Ich bin uncool und es ist mir egal, stell dir vor!

Früher, in der Grundschule oder so, hatte sie sich einen großen Bruder gewünscht. Einen, der für sie da war, wenn es ein schlechter Tag gewesen war und ihre Mutter keine Zeit zum Trösten hatte, weil sie ganz dringend diese neue, dämliche Kundenzeitschrift fertigstellen musste, für die es mehr Geld gab als für Artikel bei den Stadtmagazinen. Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Jetzt wohnte ihr brandneuer Patchworkbruder im ehemaligen Gästezimmer neben ihrem, zockte am Computer und beschallte alle mit Hardrock oder Heavy Metal, bis er hoffentlich irgendwann studierte und auszog. Was leider noch dauern konnte, er war nicht mal ein großer Bruder, sondern erst fünfzehn. Wieso konnte er eigentlich nicht bei seiner amerikanischen Mutter in South Carolina leben?

Hilflose Wut wühlte in Karis Magen, wie so oft in den letzten drei Monaten.

»Wer mag noch eine Cherrytomate?«, fragte ihre Mam und gönnte sich neben der Tomate auch einen Keks. Ihre sehnige Läuferinnenfigur vertrug es.

Kari winkte ab. »Ich geh noch mal kurz runter auf die Wiese.« Sie wollte wenigstens einen Moment lang allein sein, das würde schwierig genug werden in den nächsten beiden Wochen.

Ihre Füße versanken im lila blühenden Heidekraut und die Sonne wärmte ihre Haut. Herrlich war es hier. Ganz langsam fühlte Kari, wie sie zur Ruhe kam. Vielleicht ist es doch gut, dass wir hierhergefahren sind, wie Thorsten das vorgeschlagen hat, und nicht nach Schweden, wie ich es wollte. Aber dort hätte ich sehen können, wo Opa und Oma herstammen … wär interessant gewesen …

Als Kari sich noch ein letztes Mal umsah, erhaschte sie einen Blick auf etwas Weißes, das auf dem Stein hockte. Ein Vogel mit kurzem, gebogenem Schnabel und weiß-silbrigem Gefieder, ungefähr doppelt so groß wie eine Taube.

»Schau mal – ich glaube, das ist ein Falke!«, flüsterte sie ihrer Schwester zu, die – so wie John – gerade begonnen hatte, in Karis Richtung den Hang hinunterzukraxeln. »Schnell, kannst du die Kamera holen? Oder mein Handy, das müsste auf dem Rücksitz liegen.«

»Wow, der ist echt schön«, flüsterte Alice hingerissen und wollte schon los, doch John verkündete vom Parkplatz aus: »Hab ihn schon abgelichtet.« In lässiger Pose zielte er mit seinem Tablet. War ihm klar, dass das aussah, als hielte er sich ein Frühstücksbrettchen vors Gesicht? »Das ist ein weißer Gerfalke, glaube ich. Falco rusticolus.«

Niemand kommentierte das. Alice zögerte und warf Kari einen unsicheren Blick zu.

Kari biss sich auf die Lippe und sagte »Ich geh schon« zu ihrer kleinen Schwester. Es war vielleicht albern, aber sie wollte eigene Fotos, auf der Kamera, die ihnen gehörte. Obwohl sie ja jetzt alle eine Familie waren, haha, aber das war eher zum Heulen und manchmal auch zum Kotzen. Wie können irgendwelche Fremden, die ich nicht mal mag, ganz plötzlich Teil meiner Familie sein? Kari spürte es in ihren Augen prickeln. Verdammt. Bloß nicht jetzt.

»Lasst uns mal in die Gänge kommen!«, tönte es vom Auto herüber. Das war ja klar.

»Ich schick dir die Fotos«, versprach John und Kari nickte stumm. Ungeduldig trampelte er den Hang wieder hinauf, wodurch Kari weiter unten eine Ladung schwarzes Vulkangeröll in die Schuhe bekam. Na danke!

Sie zwängten sich in den kleinen weißen Mietwagen, der mit fünf Personen und ihrem Gepäck bis zum Rand vollgestopft war.

»Vielleicht hätte ich lieber einen Wagen mit Vierradantrieb mieten sollen, aber ich wusste ja nicht, dass du so scharf auf irgendwelche Nebenstraßen bist, Susanna«, hörte sie Thorsten zu ihrer Mutter sagen, während sie auf das schmale Asphaltband abbogen, das sie hoffentlich zum Nationalpark Thingvellir bringen würde.

»Es lebe die Schotterstraße«, antwortete ihre Mam vergnügt, zog sich die Schuhe aus, legte die Füße auf dem Armaturenbrett hoch und angelte sich noch einen Keks aus der Packung.

Eine beißende Bemerkung lag Kari auf der Zunge (»Ach übrigens, Thorsten, wir haben inzwischen mitbekommen, dass du den Mietwagen spendiert hast. Du hast es ungefähr schon hunderttausend Mal erwähnt!«). Doch das zu sagen, verkniff sie sich, der Tag war schon übel genug und sie war nicht scharf auf einen Streit.

»Bald ist es Zeit für deine nachträgliche Geburtstagsüberraschung!« Ihre Mam strich ihr schulterlanges blondes Haar zurück und warf Kari im Rückspiegel einen verschmitzten Blick zu. Susanna hatte ein schmales, eckiges Gesicht und auf alten Fotos aus ihrer Zeit als Punk mit blau gefärbten Haaren, Lederjacke und Flickenjeans wirkte sie wie ein Junge. Doch Thorstens verliebten Blicken nach hätte sie ein Filmstar sein können. Das machte ihn Kari ein bisschen sympathischer.

»Ja, stimmt, die Überraschung. Irgendein Hinweis? Ein ganz kleiner?« Kari lächelte zurück und fingerte in ihrer Hosentasche an dem metallenen Feuerzeug in Drachenform herum, das ihr Mam kurz vor der Abreise zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte.

»Nö!«, riefen Mam und Alice im Chor.

»Aber ihr macht mich netterweise trotzdem schon heiß darauf.« Kari tat so, als würde sie schmollen.

»Na klar. Und glaub mir, du wirst diese Überraschung mögen!« Alice strahlte sie an. Von ihr hatte Kari das neue Buch ihrer Lieblingsautorin Holly Black bekommen. Thorsten hatte vor Abflug einen Blick darauf geworfen, wie man ihn einem vergammelten Stück Käse gönnen würde. »Ah, du liest Fantasy«, hatte er nur gesagt. In dem Teil des Bücherregals, das sie für ihn in der Wohnung frei geräumt hatten, standen eine Menge Sachbücher und ein paar Romanklassiker, die sie aus der Schule kannte.

Kari hatte lieber nicht erwähnt, dass sie seit zwei Jahren sogar versuchte, einen Fantasyroman zu schreiben.

Wie schon so oft tastete sie nach dem silbernen Anhänger, den sie um den Hals trug – ein Drache mit ausgebreiteten Schwingen –, und spähte über Alices Schulter aus dem Autofenster nach draußen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo man hier eine Überraschung irgendeiner Art verstecken könnte. Keine Pferdeweiden mehr, leider. Die karge, von wuchtigen grünbraunen Bergen beherrschte Landschaft wirkte völlig menschenleer, nur hin und wieder sah sie weiße Tupfen: Grüppchen von Schafen. Es gab keinen einzigen Baum weit und breit, dafür verlief neben der Straße eine fette Pipeline.

»Leiten die da heißen Dampf durch?«, fragte Alice neugierig und betrachtete die strahlend weiße Wolke, die am Fuße eines nahen Berges aus dem Boden wallte.

Susanna nickte. »Ja, genau. So heizen sie praktisch das ganze Land.«

Thorsten begann einen langatmigen Vortrag über Geothermie und Karis Gedanken schweiften ab. Vielleicht bestand die Geburtstagsüberraschung darin, dass sie eins dieser Schafe scheren und sich aus der Wolle einen neuen Pulli stricken durfte.

Noch immer tat es ihr leid, dass sie den weißen Falken nicht hatte fotografieren können. Sie sah seine dunkelbraunen Augen noch genau vor sich – klug, aber rätselhaft. Hat er mich wirklich angesehen oder nur in meine Richtung geschaut? Vielleicht habe ich mir nur eingebildet, dass er mich beobachtet.

***

Wie so oft fühlte John sich hilflos. Sie findet mich schrecklich und ich kann verdammt noch mal nichts dagegen tun. Wieso habe ich nicht einfach den Mund gehalten, als mir eingefallen ist, wie diese Falkenart heißt? Das hat garantiert total besserwisserisch geklungen. Mann, ich muss mir das abgewöhnen.

Das Problem war, dass er Kari mochte. Sie wirkte so hübsch und so natürlich mit ihrer wilden blonden Mähne, ihrem Norwegerpulli und ihren frühlingsgrünen Augen. Und sie wusste nicht mal, dass sie gut aussah, war nicht wie manche aufgestylten Tussis in seiner Klasse an der neuen Schule, die an keinem Spiegel vorbeigehen konnten, ohne zu posen oder ihr Make-up zu erneuern. Außerdem schön, dass im Haus nun so viel los war, keine Spur von der drückenden Stille allein mit seinem Vater.

Ein paar Versuche würde er noch machen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

»Bist du eigentlich mit deinem Roman schon weitergekommen?«, fragte er.

Kari warf ihm einen düsteren Blick zu. »Nein. Ich bin immer noch im fünften Kapitel.«

Verdammt! Jetzt dachte sie sicher, er hätte das absichtlich gesagt, um es ihr reinzureiben!

»Was für ein Roman ist das denn?«, fragte sein Vater. Er unterrichtete zwar Geschichte und Sozialkunde, fühlte sich aber auch für andere Bereiche des intellektuellen Lebens zuständig.

»Ähm … es geht um eine fantastische Welt, in der Drachen den Menschen helfen«, erklärte Kari zögernd.

»Interessant. Aber du musst selbst wissen, ob du deine Zeit und deine Fähigkeiten für solche Schundliteratur hergibst«, kam prompt die Antwort vom Beifahrersitz.

John stöhnte innerlich. Peinlich ist gar kein Ausdruck für diesen Vater! Es war ein Fehler gewesen, Karis Roman zu erwähnen – jetzt würde sie denken, dass er sie damit zum Abschuss freigegeben hatte.

»Das ist doch keine Schundliteratur!«, protestierte Alice. »Es sind richtig gute Bücher.«

»Finde ich auch«, sagte Kari mit einem Anflug von Trotz. »Ach John, was macht eigentlich der Animationsfilm, von dem du mal erzählt hast?«

Touché! »Wir haben etwa im Mittelteil aufgegeben, meinen Freunden war es zu anstrengend und irgendwie war aus dem Projekt die Luft raus«, gab John zurück.

Allmählich reichte es ihm. Kari hatte schon oft genug deutlich gemacht, wie sehr es sie nervte, dass ihre Familien vor drei Monaten zusammengezogen waren. Vielleicht war es besser, wenn er aufgab und sich einfach von ihr fernhielt.

Vor dem Autofenster zog die weite, karge isländische Landschaft vorbei, doch er hatte gerade keinen Blick dafür übrig. Erst musste er ein paar Zeilen, die ihm im Kopf herumirrten, für sein neues Drehbuch notieren – es sollte auf keinen Fall das Schicksal des Animationsfilms erleiden. Rasch tippte er alles in sein Handy.

Nick Jameson spürt die Bedrohung, noch bevor er sie gesehen hat. In einer einzigen fließenden Bewegung fährt er herum, zieht seine Neun-Millimeter und richtet sie auf die unbekannte junge Frau, die plötzlich hinter ihm aufgetaucht ist.

Es fiel John schwer, sich auf seinen Agententhriller zu konzentrieren. Dieser Falke vorhin. Wie der ihn angesehen hatte – streng, ja, eindeutig abweisend. Misch dich nicht ein, hatte dieser Blick gesagt. Halt dich fern.

John verdrehte die Augen. Davon würde er garantiert niemandem erzählen, das war schlimmer als jede Klugscheißerei. Er konnte sich die Reaktion schon vorstellen. Schnell, liefern Sie ihn in die Klinik ein, er bildet sich ein, dass ihm Vögel Botschaften übermitteln!

Nein danke. Nicht heute, der Tag war schon übel genug.

INS UNBEKANNTE

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Nein, nein, bitte jetzt kein Gruppensingen! Kari stöhnte innerlich. Wenn sie zu dritt unterwegs waren und im Radio M & F von den Ärzten lief, grölten sie sonst alle drei lauthals mit: »›Männer und Frauen sind das nackte Grauen, wenn sie sich stundenlang tief in die Augen schauen …‹«

Doch als es diesmal auf der mitgebrachten Playlist ihrer Mutter dran war, gab Kari keinen Ton von sich und auch Alice schaute gespielt gleichgültig aus dem Fenster. »Männer und Frauen …«, stimmte ihre Mam an, doch sie verstummte, als sie merkte, dass ihre Stimme die einzige war, die durchs Auto schallte. Ihr ach-sotoller Thorsten achtete sowieso nicht darauf, er klickte sich auf dem Tablet durch irgendwelche Reiseinfos. »Auf der Vorhersageseite heißt es, dass wir heute Nacht vielleicht Polarlichter bekommen«, kündigte er an und selbst John wirkte einen Moment lang aufgeregt.

»Sehr cool!«, jubelte Alice. »Das ist ganz oben auf meiner Mustsee-Liste. Geysire und Polarlichter.«

»Geysire? Es gibt nur einen in Island, der wirklich heißes Wasser aus dem Boden spuckt«, meinte Kari, um John zuvorzukommen. »Die anderen rühren sich leider nicht mehr.«

»Einer reicht ja«, meinte Alice großzügig.

Nach einer Weile führte die Straße von der Pipeline weg und wand sich in die Berge hinein. Kurz darauf fuhren sie in einen runden Talkessel, bei dem Mam kurzerhand verkündete: »Also Leute, ich halte jetzt an, das ist dermaßen fotogen.«

Ja, das war es. Eindeutig!

Kari zwängte sich aus dem Auto und blickte sich staunend um. Warmes Mittagslicht strömte über die Flanken der Berge, die das Tal umgaben wie die Außenwände einer Arena, und ließen sie in einer fast unwirklichen Farbe aufleuchten. Strahlendes Hellgrün mit einem Hauch von herbstlichem Rostrot. Wow. Bei einem solchen Anblick Schweden nachzutrauern, war eindeutig Zeitverschwendung.

Zum Glück konnte man an der Straße parken, drei Autos standen schon dort, außerdem gab es einen hölzernen Picknicktisch und eine Hinweistafel, anscheinend begann hier ein Wanderweg. Gut, dass sie das Picknick schon hinter sich hatten, denn der Tisch war besetzt. Zwei Leute, kaum älter als sie, höchstens achtzehn, saßen schon dort: ein hellblondes Mädchen in einem dicken isländischen Wollpullover und ihr gegenüber ein junger Mann, sein langes Haar pures Herbstgold bei diesem Licht. Er trug ein einfaches helles Hemd – aus Leder? –, dunkle Hosen und robuste Schuhe. Die beiden schienen sich dafür zu interessieren, wer hier gerade angekommen war.

Doch Kari beachtete sie nicht weiter, denn in diesem Moment sah sie aus dem Augenwinkel etwas Weißes vorbeihuschen. Der Falke? Ja, er schoss mit schnellen Flügelschlägen ins Tal, sie hatte das Aufblitzen seiner silberweißen Schwingen gesehen! War es derselbe wie vorhin?

Vor lauter Hast, ihn zu fotografieren, ließ Kari ihr Handy fallen. »Shit!« Es hatte einen Stein getroffen, eine Kante war eingedellt, außerdem ließ es sich nicht mehr anschalten. Alice und ihre Mam scharten sich um sie und warfen mitfühlende Blicke darauf. »Tja, nix mehr mit Telefonieren«, meinte Alice.

Kari grinste schief. »Ich wollte es eh öfter mal beiseitelegen.«

»Kann man bestimmt daheim reparieren«, versuchte ihre Mutter sie zu trösten. Und vielleicht schaffte sie das sogar, sie war handwerklich ein As, hatte mal Löten gelernt und konnte so gut mit Schraubenzieher und Akkuschrauber umgehen wie Thorsten mit dem Kochlöffel.

Der Falke hockte inzwischen auf einem einzelnen Felsen am Rand des Tals, der aussah, als hätte hier ein Troll sein Spielzeug verloren.

»Gib mir mal die Kamera, schnell«, flüsterte Kari ihrer Mutter zu.

»Damit du die auch noch kaputt machen kannst?« Alice klang skeptisch.

»Ja, genau, und jetzt geh aus dem Weg!« Kari schnappte sich die gute Kamera, zoomte den Falken heran und drückte ab. Yeah. Geht doch.

Ihre Mutter klaute sich gut gelaunt die Kamera zurück, schlenderte herum und lichtete die Hinweistafel ab, damit sie später noch wussten, wo sie gewesen waren. »Dyradalur, beim Berg Hengill«, hörte Kari John murmeln und wartete auf irgendeine schlaue Bemerkung dazu. Doch erstaunlicherweise kam keine.

Alice lief den Pfad entlang, der in eine Schlucht zwischen den Bergen hineinführte. »Wir könnten ein Stück wandern, oder?«

Die anderen setzten sich in Bewegung, doch Kari sagte: »Ist es okay, wenn ich hierbleibe?«

Alice winkte nur kurz, ohne sich umzublicken. So viel zum Thema Geschwisterliebe.

»Ja klar, kein Problem.« Ihre Mam lächelte ihr wieder zu, hatte sie eben gezwinkert oder hatte sie nur die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen? Sie hob die Kamera und schoss ein schnelles Porträt von Kari. »Wir schauen nur mal, wie es dort weitergeht, dann kommen wir zurück. Paar Minuten, okay? Wir bleiben nicht lange, schließlich ist es bald Zeit für deine Überraschung.«

»Macht euch keinen Stress. Bis gleich.« Wieder fragte sich Kari, was ihre Familie für sie ausgeheckt hatte.

Weil ein kühler Wind aufgekommen war, zog sich Kari im Auto doch noch schnell ihren Pullover und die dunkelgrüne Windjacke über, das nutzlose Handy schob sie in ihr Gepäck. Dann warf sie ihrer Mutter den Autoschlüssel wieder zu. Kurz darauf war ihre gesamte anstrengende Patchworkfamilie in der Schlucht verschwunden, und Kari hatte das Gefühl, endlich wieder frei durchatmen zu können.

Mit langsamen, behutsamen Schritten durchquerte sie das Tal, versuchte, näher an den silberweißen Falken heranzukommen und dabei nicht über irgendeinen Lavabrocken zu stolpern.

Sie erschrak, als jemand sie ansprach.

»Gut, dass du da bist, wir haben schon eine ganze Weile auf dich gewartet.« Es war eine weibliche Stimme, melodisch und fröhlich. Schon bevor sich Kari umdrehte, wusste sie, dass sie dem hellblonden Mädchen gehörte.

Und so war es. Mit einem freundlichen Lächeln blickte die junge Frau sie an und legte die Hände mit gespreizten Fingern schräg übereinander. Vielleicht ein typisch isländischer Gruß, von dem nichts im Reiseführer gestanden hatte?

»Das tut mir leid«, gab Kari etwas verwirrt zurück.

Auch der junge Mann lächelte jetzt, während er Kari neugierig betrachtete, seine Finger formten die gleiche Geste. »Na dann los«, sagte er. »Dürfte gerade noch reichen. Ich will nicht bis morgen hier herumlungern müssen, bis das Tor wieder aufgeht.«

Seine Gefährtin verzog das Gesicht. »Die Pferde würden sich auch nicht darüber freuen.«

Pferde! Kari spürte, wie sich auf ihrem Gesicht ein begeistertes Lächeln ausbreitete.

Na also, ich habe oft genug ganz nebenbei erwähnt, dass ich unbedingt mal in Island ausreiten will, Tölt ausprobieren und so! Nein, ihre Mutter war keineswegs taub, und es sah so aus, als hätte sie eine verdammt gute Geburtstagsüberraschung arrangiert.

»Ist es hier in der Nähe?«, fragte Kari mit klopfendem Herzen.

»Allerdings«, sagte einer der beiden.

Aufgeregt überlegte Kari, ob sie noch irgendwas aus dem Auto brauchte. Nein, eigentlich hatte sie alles, ihre Reitsachen hatten sowieso daheim bleiben müssen. Jeans und Trekkingschuhe taten es ausnahmsweise auch. Prima, dann musste sie nicht darauf warten, bis Mam und die anderen zurückkamen. In ihrer Jackentasche hatte sie ein bisschen Proviant – wenn man eine halbe Tafel Schokolade so nennen konnte – und aus irgendeinem Grund die Taschenlampe, aber egal, dann kam die halt mit.

Etwas zögerlich deuteten die beiden Fremden in Richtung des Wanderweges, sie schienen zu warten, dass Kari losging. Vielleicht galt das hier als höflich.

Auch Kari zögerte. Schließlich waren diese Leute Fremde, sollte sie sie wirklich begleiten? Leyla, eine ihrer Freundinnen, hätte garantiert zu bedenken gegeben, das könnten irgendwelche Sektenfreaks sein, die Mädchen entführten. Aber Leyla war eigentlich immer misstrauisch, das nervte manchmal.

Hey, das ist meine Reittour, die lasse ich nicht sausen! Und das sind einfach die Guides, also keine Panik.

»Da entlang?«, fragte Kari zur Sicherheit, dann marschierte sie in diese Richtung. Die junge Frau blieb neben ihr und legte ein ordentliches Tempo vor, aber Kari hielt locker mit. Abhängen lasse ich mich auf keinen Fall!

Nachdem sie dem Weg ein kurzes Stück weit gefolgt waren, deuteten Karis Begleiter auf den steilen, grasbewachsenen Hang auf der linken Seite und gemeinsam kletterten sie bis zum Kamm des Hügels. Von dort aus konnten sie den gesamten Talkessel überblicken. Zielsicher bewegten sich die beiden jungen Leute auf eine schroffe, dunkelgraue Felswand zu, die dort oben aufragte.

»Kennst du das Ritual?«, fragte die junge Frau, deren Namen Kari noch nicht kannte, und Kari schüttelte neugierig den Kopf. Vielleicht gehört das hier dazu, vor jedem größeren Ritt eine alte nordische Zeremonie zu vollziehen. Witzig irgendwie. Ich lasse es auf mich zukommen.

»Es ist gar nicht schwer, überlass es einfach uns, Daro und ich kennen die richtigen Betonungen.« Ihre Begleiterin schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Kari lächelte zurück – dieses Mädchen strahlte eine Wärme und Herzlichkeit aus, die ihr gefielen. Trotzdem wirkte sie irgendwie vorsichtig, distanziert, als wüsste sie noch nicht genau, was sie von Kari halten sollte.

»Sind die Elfen sauer, wenn man falsch betont?«, witzelte Kari, um die Atmosphäre aufzulockern. Die Isländerin schaffte es, keine Miene zu verziehen, als sie antwortete: »Nein, das interessiert sie nicht, sie bleiben meist bei ihrem Stein dort auf der Ebene und ärgern Reisende.«

Kari musste lachen. So musste man Witze bringen, total trocken, Alice konnte das auch schon perfekt.

»Sie fänden es eher lustig, wenn wir den Durchgang verbocken – schadenfrohe kleine Biester«, meinte der junge Mann, der anscheinend Daro hieß, und wandte sich Kari zu. »Svala und ich sprechen die Formel, du machst am besten gar nichts.« Er wirkte ernst und konzentriert. Die Art, wie die Sonne seine goldbraunen Augen leuchten ließ, ging nicht spurlos an Kari vorbei. Wow, der hätte Chancen in Hollywood. Und die Hälfte der Mädels in meiner Klasse würde sich sofort in ihn verknallen!

Zu dritt traten sie auf die Felswand zu. Kari zuckte kurz zusammen, als die Frau ihr von links die Hand auf die Schulter legte und der Mann von rechts das Gleiche tat. Ob ihre Mam und Alice jetzt hinter irgendeinem Felsen kauerten und kichernd Fotos schossen?

Svala legte die andere Hand auf den Felsen und begann zu sprechen, leise und eindringlich. Klingt wie eine Art Beschwörung. Haha, wenn ich das Ella und Leyla erzähle … ich kann fast sehen, wie Ella eine Augenbraue hochzieht wie Spock in den alten Star Trek-Filmen …

Jetzt übernahm Daro, auch er sagte ein paar Worte in einer fremden Sprache.

Kari spürte, wie ihr Kreislauf wegsackte, ganz plötzlich. Weiße Punkte tanzten vor ihren Augen, nahmen ihr einen Moment lang die Sicht. Ach du Scheiße, dabei war sie schon länger nicht mehr ohnmächtig geworden, dieser verfluchte niedrige Blutdruck! Würde sie gleich der Länge nach auf dem Gras liegend aufwachen, einen Sabberfaden im Mundwinkel, besorgte Gesichter über sich? Und das vor diesem irre gut aussehenden Typen!

Noch während Kari darüber nachdachte, wie sie möglichst schnell an ihre Kreislauftropfen herankam, verging das Gefühl.

Zum Glück war die Zeremonie nun vorbei, ihre Begleiter wirkten zufrieden und sie kletterten gemeinsam den Hang herunter. Kaum hatten sie den Pfad wieder betreten, spürte Kari, wie eine Art von Energiewelle sie durchlief, eine Welle, die sie gleichzeitig spüren und hören konnte wie einen einzelnen, sehr tiefen Ton aus den Bassboxen bei einem Rockkonzert.

»Ah, es ist wieder zu«, bemerkte Daro.

Hoffentlich kommen wir jetzt bald zu den Pferden, dachte Kari – und sah verblüfft, dass sie weiter hinten schon bereitstanden. Drei Islandpferde mit kräftigen Beinen und dichten, buschigen Mähnen, zwei Braune und ein Rappe. Sie hatten die Köpfe gehoben und die Ohren in ihre Richtung gespitzt. Wieso habe ich die vorhin nicht bemerkt? Sie stehen doch direkt neben dem Wanderpfad!

»Du kannst reiten, oder?«, fragte Svala und richtete ihr netterweise die Steigbügel eines Braunen.

»Ja, ich habe vor drei Jahren angefangen«, versicherte ihr Kari und betrachtete neugierig Zaumzeug und Sattel, die hier anders aussahen, einfacher und so, als wären sie aus gröberem Leder. »Wie lange geht denn die Tour?«

Sie hoffte, dass ihre Mutter gleich zwei oder drei Stunden gebucht hatte, für einen Halbtagesritt reichte es wohl zeitlich nicht. Schließlich mussten sie heute noch ihr Ferienhaus am Ufer des Sees mit dem komplizierten Namen beziehen. Thing-Irgendwas.

»Wir sollten es in eineinhalb Stunden schaffen, wenn wir eine ordentliche Strecke tölten«, erklärte der junge Isländer und Kari strahlte. Das Tölten hatte sie sowieso ausprobieren wollen. Gewöhnliche Pferde hatten nur drei Gangarten und Islandpferde gleich fünf, der Tölt war eine davon. »Gerne, klingt sehr cool!«, sagte sie.

»Sehr was?« Erstaunt blickte der junge Mann sie an.

Die Isländerin verdrehte die Augen. »Seit wann bist du so begriffsstutzig, Daro … natürlich gibt es dort, wo sie herkommt, andere Ausdrücke.«

Kari kam nicht dazu, sich selbst vorzustellen, sie war damit beschäftigt, ihr Pferd hinter den anderen her eine Böschung hochzulenken. Wow, diese isländischen Vierbeiner waren trittsicher! Mussten sie auch sein, Kari hatte gehört, dass sie den größten Teil des Jahres völlig frei draußen in der Herde lebten.

Seltsam, sie hatte gedacht, dass hier die asphaltierte Straße entlangführte, doch nun ritten sie auf einem Weg aus festgestampfter Erde. Aber egal, es war herrlich, durch diese Landschaft zu reiten auf einem so guten Pferd – die braune Stute reagierte auf ihre leisesten Zeichen. Und obwohl der Wind Karis Haare in alle Richtungen durcheinanderblies und durch ihre Jacke drang, war ihr vor Freude und Aufregung warm.

»Wie war es denn so, in dieser Welt aufzuwachsen? Muss seltsam gewesen sein!«

Der junge Isländer ritt dicht neben ihr, er wirkte jetzt viel entspannter. Kari fand es eigenartig, dass keiner von beiden vorausritt, sondern beide sich neben oder hinter ihr hielten. Aber vielleicht war das hier üblich.

»Na ja, nicht so furchtbar seltsam«, meinte sie. »Deutschland ist ganz okay, aber dichter bevölkert, weniger Natur als hier natürlich. Habt ihr Sommerjobs als Reitguides oder lebt ihr das ganze Jahr hier?«

»Sommerjob? Wieder so ein Ausdruck.« Daro lachte.

»So was gibt es bei uns nicht«, antwortete Svala freundlich. »Falls du noch andere Fragen hast … einfach stellen, ja? Isslar hat eine Menge Traditionen, die man vielleicht nicht auf Anhieb durchschaut. Ich weiß nicht, wie viel dir deine Eltern darüber erzählt haben.«

Isslar? Nannten die Isländer ihr Land so? »Meine Eltern waren auch noch nie hier, die wissen nicht viel mehr darüber als ich«, erklärte Kari.

»Seit drei Generationen in der Draußenwelt, weißt du nicht mehr?«, erinnerte Daro seine Begleiterin, und die nickte, ein Hauch von Rot erschien auf ihren Wangen. »Ja, stimmt. Diesmal hab ich nicht nachgedacht.«

Drei Generationen? Was sollte das heißen, »in der Draußenwelt«? Kari spürte, wie ein Kribbeln ihr das Rückgrat hinunterkroch. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und es ist anscheinend keine versteckte Kamera im Spiel.

»Wie alt bist du eigentlich? Du hast deine … äh, Kunst, schon sehr früh gelernt, scheint mir?« Der junge Isländer wirkte, als wäre ihm bei dieser Frage ein wenig unwohl zumute, aber in seinem Blick war die Neugier deutlich zu lesen.

Seine Begleiterin warf ihm einen warnenden Blick zu, der Kari verwirrte.

»Ich bin sechzehn«, erwiderte Kari. »Was für eine ›Kunst‹ meint ihr?«

Verblüfft sah sie, dass Svala blass wurde, sich aber dennoch zu einem Lächeln zwang. »Witzige Frage, tja, ähm … kommt, wir reiten hier entlang weiter …«

Kari hatte auch die eine oder andere Frage, die sie gerne gestellt hätte – zum Beispiel, wo die beiden so gut Deutsch gelernt hatten. Doch dann überfielen sie Zweifel. Ist es überhaupt Deutsch, das wir miteinander sprechen? Nein, eigentlich nicht … aber wieso verstehe ich die beiden dann?

Ihr Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, verstärkte sich. Vielleicht ist es besser, ich kehre um. Aber wie soll ich den Weg zurück finden? Ich könnte sagen, ich bin müde oder mir ist schlecht – vielleicht reiten sie dann mit mir zum Tal, wo unser Auto steht, und …

»Kommt, wir tölten ein Stück, schließlich werden wir erwartet«, sagte Daro.

Erwartet? Von wem? Hoffnung flackerte in Kari auf. War sie zu misstrauisch gewesen, war das hier alles Teil der Geburtstagsüberraschung?

Bevor Kari ihre Fragen loswerden oder sich erkundigen konnte, wie Tölten überhaupt ging, nahmen ihre Begleiter die Zügel kürzer und verlagerten ihr Gewicht. Ihre Reittiere begannen gehorsam, sich in einem kurzen, schnellen Trippelschritt voranzubewegen. Zum Glück folgte Karis braune Stute ihrem Beispiel. Lustig! Wie Trab, nur bequemer, man wurde nicht durchgeschüttelt und konnte einfach ruhig sitzen bleiben.

»Schau mal, eine Herde Wildpferde«, sagte Svala und Kari war begeistert. Sechs oder sieben schwarze Pferde mit weißen Mähnen grasten ein Stück entfernt und hoben unruhig die Köpfe, als sie die Reiter näher kommen hörten. »Leider sind die unzähmbar«, fuhr Svala fort. »Schade, oder?«

Sie tölteten so lange, dass es Kari schon fast zu anstrengend wurde, und sahen unterwegs weder einen Menschen noch ein einziges Fahrzeug. Bergauf und bergab trugen ihre Pferde sie, bis die hellblonde Isländerin schließlich sagte: »Es ist nicht mehr weit. Khyona – die Hauptstadt von Isslar – ist dort hinter dem nächsten Hügel. Bist du schon aufgeregt, Cecily?«

In diesem Moment wurde Kari klar, dass sie ein Problem hatte. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Oh nein, diese beiden Guides hätten ein anderes Mädchen abholen sollen, das wahrscheinlich zu spät angekommen war und nun frustriert und womöglich heulend in diesem Talkessel stand. Ein Mädchen namens Cecily, dessen Ritt ich ihr sozusagen geklaut habe. Ach du Scheiße!

»Ich bin nicht …«, begann Kari furchtbar verlegen, doch in diesem Moment erreichten sie ein Plateau, von dem aus sie die Gegend überblicken konnten. Vor ihnen breitete sich eine Ebene aus, in der sich ein blausilbern schimmernder See bis zum Horizont erstreckte. An seinem Ufer lag eine Stadt, wie Kari niemals zuvor eine gesehen hatte. Niedrige Gebäude aus schwarzen Steinen, zum Teil mit grasbewachsenen Dächern. Enge Gassen, eine Art von Burg, wohl ebenfalls aus Lava erbaut. Und über allem hingen Nebelschwaden, die aus der Stadt zu stammen schienen, vielleicht war es der Dampf von Heißwasserquellen.

Kein Auto in Sicht. Keine Stromleitung. Kein Handymast.

Dafür ein Dutzend gewaltige, blauschwarze Bögen, die sich kuppelförmig über den inneren Teil der Stadt wölbten und sich in langsamen seitlichen Wellen zu bewegen schienen wie in einem lautlosen Tanz. Zwischen ihnen flimmerte und vibrierte ein schwaches violettes Licht.

»Ist ja seltsam, die Sturmbögen sind wach«, meinte Svala. »Dabei haben wir doch gar keinen Schneesturm. Vielleicht kontrolliert mein Vater nur die magischen Elemente der Steuerung.«

Mit zusammengekniffenen Augen blickte Daro sich um. »Wahrscheinlich – ein Angriff kann’s auch nicht sein, für diese verdammten Eisdrachen ist es noch zu früh im Jahr.«

Kari begriff, wie tief sie in Schwierigkeiten steckte.

INKOGNITO

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Ist wahrscheinlich nur ein Traum, dachte Kari. In Island träume ich davon, dass ich seltsame Dinge in Island erlebe, haha. Mein Hirn nimmt die Kulisse und macht einen Fantasyfilm daraus.

Aber konnte man mitten in einem Traum ahnen, dass man träumte?

Und was, wenn es kein Traum war?

Während sie über eine Schotterstraße auf die Stadt zuritten, fühlten sich Karis Gedanken immer mehr an wie ein Schwarm wütender Hornissen. Also okay, ob Traum oder nicht, diese Felswand war anscheinend ein Tor. Sie haben mich mitgenommen durch ein Tor! Es ist alles ein Missverständnis, sie werden wütend sein, wenn sie merken, dass ich die Falsche bin! Aber wenn ich es gleich jetzt sage, bevor wir in der Stadt sind, ist es vielleicht nicht so schlimm, dann können wir einfach umkehren und die andere holen …

Doch gleichzeitig fühlte sie sich so wach und lebendig wie selten. Wenn es kein Traum ist, dann gibt es hier eine Parallelwelt, o Gott, ich kann doch jetzt nicht weg, ich muss mir das ansehen, vielleicht kommt so eine Gelegenheit nie wieder …

Doch Gelegenheit hin oder her, sie musste erst einmal gestehen. Bring’s hinter dich, Kari, murmelte eine Stimme in ihr, ihr Gewissen oder ein besseres Selbst oder was auch immer. Schließlich war das nicht dein Fehler! Es wird peinlich für Svala und Daro, aber da müssen sie durch.

Doch, klar war das auch mein Fehler, widersprach Kari innerlich. Wieso bin ich einfach mit irgendwelchen Fremden mitgegangen? Dass so was keine gute Idee ist, lernt man schon im Kindergarten!

Nervös legte Kari sich erklärende Worte zurecht, während ihre Begleiter über irgendwelche Angelegenheiten der Stadt miteinander plauderten. Doch irgendein Stichwort schreckte Kari auf, brachte sie dazu, richtig zuzuhören.

»Was wetten wir, dass unser allseits beliebter Kommandant der Eiswache wieder fragt, ob uns ein Mensch durchs Tor gefolgt sein könnte?« Daro lachte.

»Vergiss es, darauf wette ich nicht«, entgegnete Svala und verzog das Gesicht. »Ich schätze, Magnus Thordar würde uns mindestens fünf Stunden lang auf einem Vulkan anketten, wenn uns so was passiert.«

»Magnus Thordar soll sich mal nicht so anstellen«, brummte Daro. »Es ist schon eine Ewigkeit her, dass jemand versehentlich von der anderen Seite durchgekommen ist. Beim Blauen Tor war das, glaube ich.«

»Besser so – ich hasse Hinrichtungen, auch wenn es nur einen Menschen aus der Draußenwelt trifft«, murmelte Svala und ließ einen Moment lang die Zügel los, um sich die windgepeitschten Haare hinten zusammenzubinden.

Die fertig zurechtgelegte Erklärung gefror Kari auf der Zunge. Nur einen Menschen … nur einen Menschen … echote es in ihrem Kopf.

Schwer zu glauben, doch anscheinend konnte jedes falsche Wort sie ab jetzt das Leben kosten. Zum Glück brachte sie sowieso gerade nichts über die Lippen, ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und das nicht nur, weil ihre Trinkflasche im Auto geblieben war.

Wahrscheinlich träume ich doch oder ich bin gerade ohnmächtig, das hier passiert gar nicht, versuchte sie sich zu trösten, aber das funktionierte immer weniger. Es fühlte sich zu real an, wie die Schultern des Islandpferdes sich unter ihr bewegten, die Ohren des Tieres nach vorne oder hinten lauschten, der Wind ihr in den Kragen fuhr und ihr den Hals auskühlte. Überlaut gellte ihr das Geräusch der Hufe auf der Schotterstraße in den Ohren.

Sie dachte an Alice, daran, wie sie aus dieser ganzen Sache später eine lustige Geschichte machen würde. Oh verdammt, sie und Mam werden sich schon furchtbare Sorgen machen, die haben keinen Schimmer, wo ich bin! Seit fast zwei Stunden bin ich mit diesen beiden Leuten unterwegs – haben die anderen schon die Polizei gerufen? Es wird einen Riesenaufstand geben, selbst wenn ich es auf irgendeine Art heute noch schaffe, zurückzukehren!

Svala ritt dichter neben sie, blickte ihr besorgt ins Gesicht. »Alles in Ordnung? Entschuldige, ich hätte vielleicht nicht über Hinrichtungen reden sollen, aber ich dachte, du wärst abgehärtet in solchen, äh, Dingen …«

»Wieso?«, brachte Kari irgendwie heraus.

Diesmal war es Svala, die einen warnenden Blick von Daro kassierte.

Als der schöne junge Mann wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme hart. »Offiziell weiß natürlich niemand, warum die Fürstin deine Familie nach drei Generationen Verbannung begnadigt hat und wir dich rüberholen sollten. Aber sagen wir mal so, solche Dinge sprechen sich herum.«

»Solche Dinge?« Verlegen spürte Kari, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.

»Um es ganz deutlich zu sagen: Lass die Finger von meiner Familie! Die Reykans sind tabu. Verstanden?«

»Also ich mache mir keine Sorgen – die Fürstin würde nie dulden, dass du einen von uns umbringst, Cecily.« Svalas Stimme klang trotzig. »Sie weiß genau, dass niemand außer meiner Familie eine Ahnung davon hat, wie die Sturmbögen funktionieren. Die Akuris waren schon immer magische Ingenieure, aber das hast du vielleicht schon gewusst.«

»Ah … ja … klar«, stammelte Kari. Moment mal, was genau ist das für eine »Kunst«, die diese Cecily beherrscht? Warum redet Svala davon, dass sie jemanden umbringen könnte? Ist sie eine Killerin? War das der Grund, warum ihre beiden Begleiter es von Anfang an vermieden hatten, ihr den Rücken zuzudrehen? Wieso sie trotz aller Freundlichkeit eine Distanz zu ihr wahrten? Aber … ein Mädchen! Ein Mädchen in meinem Alter! Kann das wirklich sein?

»Mit etwas Glück wird die Fürstin sie sowieso wieder zurückschicken, wenn sie ihren Auftrag erledigt hat«, sagte Daro zu Svala, es sollte wohl beruhigend klingen.

»Weißt du’s?« Svalas Blick war wild, er streifte Kari nur kurz, scheute dann wieder vor ihr zurück. »Eine Assassinin zu haben, ist für die Fürstin nützlich, garantiert wird sie sie weiter einsetzen wollen.«

Bilder und Wortfetzen rauschten durch Karis Kopf, all das, was sie jemals über Assassinen gehört oder gelesen hatte. Ja, klar, wieso kein Mädchen? Aber dass jemand sie ernsthaft für eine Assassinin hielt, war einfach zu schräg. Sie wirkte doch so nett und harmlos, das hatte dieser süße schwedische Austauschschüler ihr mal gesagt, nur leider war es nicht als Kompliment gemeint gewesen. Aber vielleicht war es für eine Mörderin von Vorteil, wenn sie so aussah, als könne sie nicht mal eine Spinne erschlagen.

Hysterisches Lachen stieg in Karis Kehle auf, versuchte aus ihr herauszubrechen. Irgendwie schaffte sie, es umzuwandeln in eine Art Husten, der so klang, als hätte sie versehentlich zwei oder drei Fliegen verschluckt. Dieser Gedanke drehte ihr erst recht den Magen herum und einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob sie absteigen und am Wegesrand alles auskotzen sollte. Sorgen, Abscheu und diesen riesigen, bestimmt gelbgrauen Knoten der Angst, der gerade in ihrer Kehle feststeckte.

Was für ein »Auftrag« ist das, von dem Daro gesprochen hat? Wissen sie alle schon, wen ich töten soll?