Der Piratenfürst

Der Autor

Alexander Kent – Foto © Kim Reeman

Alexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben G.S. Forester. Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte »Foudroyant« in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.

Das Buch

1784 - in der Straße von Malakka: Englands Ostindische Handelskompanie setzt an, in Indonesien Fuß zu fassen. Eine wichtige Rolle spielt dabei HMS Undine unter Ihrem jungen Kommandanten Richard Bolitho. Mit intriganten Hofbeamten und einer verführerisch schönen Frau an Bord wird aus Bolithos Geheimauftrag bald ein erbitterter Kampf gegen Rebellen, Piraten und Saboteure - und gegen die eigene Leidenschaft für diese Frau. Der achte Band der weltberühmten marinehistorischen Bestellerserie.

Alexander Kent

Der Piratenfürst

Fregattenkapitän Bolitho in der Java-See

Roman

Aus dem Englischen
von Karl H. Kosmehl

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Neuausgabe bei Refinery
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Berlin Juni 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006
© der deutschen Ausgabe: Econ Ullstein List Verlag GmbH & Ko. KG, München 2000
© der deutschen Ausgabe: Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin 1978
© 1973 by Alexander Kent
Titel der englischen Originalausgabe: Command a King’s Ship
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
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ISBN 978-3-96048-140-9

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Für die Contessa


Tod und Teufel tanzen
zur Höllenmusik der Stürme
und rasen noch wilder zur Nacht,
wie um die Furcht einzulullen,
die den blinden Seemann beschleicht,
der nur ihren Zugriff fühlt.

George H. Grant

I Des Admirals Wahl

Eine Ordonnanz des Admirals öffnete die Tür des kleinen Vorzimmers und sagte sehr höflich: »Würden Sie bitte hier eintreten, Sir?« Er wich beiseite, um Captain Richard Bolitho einzulassen. »Sir John weiß, daß Sie hier sind.«

Als der Diener gegangen war und die Tür hinter sich zugemacht hatte, trat Bolitho an den hohen Kamin, wo ein kräftiges Feuer brannte. Gut, daß ihn der Mann in dieses kleine Zimmer geführt hatte und nicht in einen der größeren Warteräume. Als er sich vor dem bitter kalten Märzwind, der durch die Straßen von Whitehall fegte, in das Admiralitätsgebäude geflüchtet hatte, war ihm der Gedanke an diese überfüllten Warteräume höchst unbehaglich gewesen. Dort traten sich die entlassenen Seeoffiziere gegenseitig auf die Füße und beobachteten das Kommen und Gehen solcher Besucher, die mehr Glück zu haben schienen, mit beinahe haßerfüllten Blicken.

Bolitho kannte diese Gefühle aus eigener Erfahrung, wenn er sich auch oft gesagt hatte, daß es ihm besser ging als den meisten anderen. Denn als er vor einem Jahr nach England zurückgekommen war, herrschte Friede im Land. Städte und Dörfer waren bereits voller Seeleute und Soldaten, die niemand mehr brauchte. Er dagegen hatte seinen Besitz bei Falmouth, ein solides, ertragreiches Landgut; außerdem hatte er eine Menge schwerverdientes Prisengeld mitgebracht – er mußte wirklich dem Schicksal dankbar sein.

Er trat vom Kamin weg ans Fenster und starrte auf die breite Straße. Es hatte fast den ganzen Vormittag geregnet, aber jetzt war der Himmel klar, und die zahlreichen Pfützen glitzerten in der grellen Sonne wie Fetzen blaßblauer Seide. Nur die dampfenden Nüstern der vielen Pferde, welche die Straße in beiden Richtungen passierten, und die hastenden, vorgebeugt gegen den Wind ankämpfenden Fußgänger verrieten, wie trügerisch der augenblickliche Sonnenschein war.

Er seufzte. Es war im März 1784; erst vor einem guten Jahr war er aus Westindien heimgekehrt, aber ihm kam es wie ein Jahrhundert vor.

So oft er konnte, hatte er die lange Reise von Falmouth nach London unternommen, um direkt bei der Admiralität herauszufinden, warum seine Briefe ohne Antwort blieben, warum alle seine Anträge auf Zuteilung eines Schiffes, ganz gleich was für eins, nicht beachtet wurden. Und jedesmal kamen ihm die Warteräume voller vor. Es waren immer die gleichen Männer; aber je öfter sie abgewiesen oder vertröstet wurden, um so unsicherer klangen ihre Stimmen bei den endlosen Gesprächen über Schiffe und Seeschlachten, um so mehr schwand ihr Selbstvertrauen. Dutzendweise wurden Schiffe außer Dienst gestellt, und jede Hafenstadt beherbergte ihr volles Maß an dem menschlichen Treibgut eines beendeten Krieges: Invaliden und Krüppel; Männer, die im Geschützfeuer taub und blind geworden waren; andere, die von ihren Erlebnissen halb verrückt geworden waren. Seit dem Friedensschluß im Vorjahr war der Anblick solcher Menschen etwas so Gewöhnliches, daß man gar nicht mehr darüber sprach, und die Betroffenen selbst waren zu verzweifelt, um überhaupt noch zu hoffen.

Eben bogen unten zwei Männer um die Ecke. Das Herz krampfte sich ihm zusammen bei dem Anblick. Auch ohne ihre zerfetzten roten Röcke hätte er gewußt, daß es ehemalige Soldaten waren. Am Rinnstein hielt eine Kutsche; die Pferde steckten die Köpfe zusammen und erkundeten, was sich in ihren Futtersäcken befand. Der Kutscher unterhielt sich mit einem elegant livrierten Lakaien aus dem Nebenhaus, und keiner der beiden warf auch nur einen Blick auf die zerlumpten Veteranen.

Der eine lehnte seinen Kameraden an eine Steinbalustrade und trat dann zur Kutsche. Bolitho erkannte, daß der Mann, der sich an dem steinernen Geländer festhielt, blind war; er wandte den Kopf zur Straße hin, als horche er, wo sein Freund geblieben war. Worte waren da überflüssig. Der Soldat blickte den Kutscher und den Lakaien nur an und hielt die Hand auf. Die Geste war weder aggressiv noch unterwürfig, aber seltsam eindringlich. Nach kurzem Zögern steckte der Kutscher die Hand in die Innentasche seines schweren Mantels.

In diesem Moment lief ein Herr eilig die Freitreppe der Admiralität hinab und riß die Kutschentür auf. Sein Mantel war so warm wie elegant, und die Schnallen auf seinen Schuhen blitzten in dem wässerigen Sonnenlicht. Er starrte den Soldaten an und sagte ärgerlich etwas zu dem Kutscher. Der Lakai eilte zu den Pferden und nahm ihnen die Futtersäcke ab, und in Sekundenschnelle war die Equipage im geschäftigen Strom der Kutschen und Lastwagen verschwunden. Der Soldat starrte ihr einen Augenblick nach, hob dann resigniert die Schultern und ging zu seinem Kameraden zurück. Die Arme untergehakt, schlurften sie langsam auf die nächste Straßenecke zu.

Bolitho bemühte sich, das Fenster aufzumachen, aber der Riegel klemmte. Scham und Ärger über das eben Gesehene stiegen in ihm hoch.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« fragte jemand hinter ihm: die Ordonnanz von vorhin.

»Ich wollte zwei Invaliden ein bißchen Geld hinunterwerfen«, antwortete Bolitho.

Der Mann schien erstaunt. »Mein Gott, Sir, daran gewöhnt man sich in London.«

»Ich nicht.«

»Ich wollte Ihnen melden, Sir, daß Sir John Sie jetzt empfangen möchte.«

Bolitho folgte ihm auf den Flur. Er verspürte eine plötzliche Trockenheit in der Kehle. Deutlich erinnerte er sich an seinen letzten Besuch hier im Hause; fast auf den Tag einen Monat war das her. Damals hatte er eine ausdrückliche schriftliche Vorladung bekommen und brauchte nicht voller Nervosität und heimlicher Wut in einem Wartezimmer herumzusitzen. Es war wie ein Traum, ein unglaublicher Glückstreffer. Und so empfand er es immer noch, trotz der tausend Schwierigkeiten, mit denen die Tage seit seiner letzten Vorsprache belastet gewesen waren.

Er hatte Order erhalten, unverzüglich das Kommando über Seiner Britannischen Majestät Schiff Undine (zweiunddreißig Geschütze) zu übernehmen, das zur Zeit im Dock von Portsmouth überholt und neu ausgerüstet wurde. In Kürze sollte es seeklar sein.

Als er damals beschwingten Schrittes das Admiralitätsgebäude verließ, stand ihm fast das Schuldgefühl im Gesicht geschrieben, denn er hatte wohl gemerkt, daß ihn die Offiziere im Vorzimmer neidisch und sogar übelwollend musterten.

Es hatte ihn eine ganze Menge Geld gekostet, die Überholungs- und Ausrüstungsarbeiten zu beschleunigen. Er hatte gedacht, daß er jetzt, da die Flotte auf ein Viertel ihrer Kriegsstärke geschrumpft war, Reservetauwerk und -spieren leichter bekommen würde als in Kriegszeiten; aber wie er zu seinem Erstaunen feststellen mußte, war das Gegenteil der Fall. Resigniert hatte ihm ein Schiffsbauer verraten, den Werftbeamten läge mehr daran, mit den Reedern großer Handelsschiffe zusammenzuarbeiten; an denen konnten sie mehr verdienen als an einem kleinen Fregattenkapitän, den sie auf Staatsrechnung beliefern mußten.

Mit Bestechungen, Drohungen und unter ständigem Antreiben beinahe jedes einzelnen Werftarbeiters hatte er indessen mehr oder weniger erreicht, was er wollte. Anscheinend sah man im baldigen Auslaufen der Fregatte die einzige Möglichkeit, vor Bolitho wieder Ruhe zu haben und sich um eigene Geschäfte kümmern zu können.

Mit gemischten Gefühlen hatte er sein neues Schiff im Dock umschritten. Aber die freudige Erregung überwog, und dazu kam die Gewißheit, daß dieses Schiff alle seine Kräfte fordern würde. Verschwunden war das neidvolle Unbehagen, das ihn in Falmouth jedesmal befiel, wenn wieder ein Kriegsschiff die Landspitze unterhalb der Festung rundete. Aber noch etwas anderes hatte er gemerkt. Sein letztes Schiff war die Phalarope gewesen, eine der Undine sehr ähnliche Fregatte, vielleicht ein paar Fuß länger. Sie war sein ein und alles gewesen; vielleicht, weil er auf ihr so viel durchgestanden hatte. In den westindischen Gewässern, in der Seeschlacht bei den Saintes[1], hatte er erlebt, wie sein geliebtes Schiff unter seinen Füßen zusammengeschossen wurde, bis es fast ein Wrack war. Niemals würde, niemals konnte es ein Schiff geben, das der Phalarope glich. Aber als er auf der Steinmauer des Docks auf und ab schritt, verspürte er ein neues, ein ähnliches Hochgefühl.

Mitten in der Hektik der Überholungsarbeiten bekam er unerwartet Besuch von Konteradmiral Sir John Winslade, demselben, der ihn im Admiralitätsgebäude empfangen hatte. Er war ziemlich wortkarg gewesen, hatte das Schiff und Bolithos Vorbereitungen flüchtig inspiziert und dann beiläufig bemerkt: »Inzwischen kann ich Ihnen wenigstens so viel sagen: Sie segeln nach Indien. Mehr darf ich Ihnen im Moment nicht verraten.« Sein Blick glitt über die Takler, die in den Wanten und auf den Rahen werkten, und er fügte trocken hinzu: »Ich kann nur in Ihrem Interesse hoffen, daß Sie rechtzeitig fertig werden.«

Winslades Andeutungen waren keineswegs leichtzunehmen. Offiziere auf Halbsold gab es, so viele man wollte. Aber ein Schiff des Königs zu bemannen, ohne daß der Druck eines Krieges dahinterstand und Preßkommandos eingesetzt werden konnten – das war etwas völlig anderes. Und wäre Bolitho nicht der Mann gewesen, der er nun einmal war, so hätte er in Versuchung geraten können, das Ziel der Reise so lange geheimzuhalten, bis genügend Matrosen die Musterrolle unterschrieben hatten und dann nicht mehr entwischen konnten.

Er hatte die üblichen, in blumenreicher Sprache abgefaßten Flugblätter in Portsmouth und Umgebung verteilen lassen. Er hatte Werbekommandos ins Binnenland bis nach Guildfort, das auf halbem Wege nach London lag, ausgeschickt, aber ohne viel Erfolg. Und jetzt, als er hinter der Admiralitätsordonnanz auf eine hohe, goldverzierte Tür zuging, fehlten der Undine immer noch fünfzig Mann an der Sollstärke.

In anderer Hinsicht hatte Bolitho mehr Glück gehabt. Der vorige Kapitän der Undine hatte sein Stammpersonal scharf im Auge behalten. Als Bolitho das Schiff übernahm, fand er einen harten Kern altgedienter Matrosen vor, sowie alle Deckoffiziere, einen erstklassigen Segelmacher und den geschicktesten Schiffszimmermann, dem er jemals bei der Arbeit zugesehen hatte. Bolithos Vorgänger hatte den Dienst bei der Marine endgültig quittiert, um sich einer parlamentarischen Karriere zu widmen. Oder wie er es ausgedrückt hatte: »Ich habe die Nase voll davon, mit Stahl und Eisen zu kämpfen. Von jetzt ab, junger Freund, kämpfe ich mit Verleumdungen.«


Konteradmiral Sir John Winslade stand mit dem Rücken zum Kaminfeuer und hielt sich die Rockschöße auseinander, um möglichst viel von der Wärme abzubekommen. Kaum jemand wußte Genaueres über ihn. Irgendwie hatte er sich durch eine Einzelaktion vor Brest ausgezeichnet, und daraufhin hatte er eine ansehnliche Position in der Admiralität bekommen. An seinem bleichen, vornehmen Gesicht war nichts Auffälliges. Tatsächlich sah er so unauffällig aus, als trüge nicht er seinen goldbetreßten Rock, sondern der Rock ihn.

Bolitho war erst siebenundzwanzig Jahre alt; aber er hatte schon zwei Kommandos innegehabt und wußte mit Stabsoffizieren gut genug Bescheid, um sie nicht nach dem Äußeren zu beurteilen.

Winslade ließ seine Rockschöße fallen und wartete, bis Bolitho zu ihm herangetreten war. Dann streckte er ihm die Hand hin und sagte: »Sie sind pünktlich, das ist gut. Wir haben viel zu besprechen.« Er trat an ein zierliches Lacktischchen. »Ein Glas Wein?« Jetzt erst lächelte er. Es war ein Lächeln wie der blasse Sonnenschein draußen: spärlich und schnell vorbei.

Er zog einen Stuhl für Bolitho heran. »Auf Ihre Gesundheit, Captain.« Und als sie getrunken hatten: »Ich nehme an, Sie wissen, warum ich Sie für dieses Kommando angefordert habe?«

Bolitho räusperte sich. »Ich war der Ansicht, Sir, weil Captain Steward in die Politik geht, benötigen Sie einen neuen …«

Wieder lächelte Winslade, etwas verkniffen diesmal. »Bitte, Bolitho! Bescheidenheit auf Kosten der Aufrichtigkeit macht die Sache nur topplastig. Darüber sind Sie sich doch klar?«

Er nippte an seinem Glas und fuhr im gleichen trockenen Ton fort: »Bei dieser Mission muß ich mich auf den Kapitän der Undine vollkommen verlassen können. Sie werden auf der anderen Seite der Welt stationiert sein. Ich muß wissen, was Sie denken, damit ich, wenn ich zu gegebener Zeit eine bestimmte Depesche erhalte, auch entsprechend handeln kann.«

Bolitho versuchte, sich zu entspannen. »Danke.« Er lächelte etwas unsicher. »Für Ihr Vertrauen, meine ich.«

»Gewiß.« Winslade griff nach der Karaffe. »Ich kenne Ihre Herkunft, Ihre dienstlichen Leistungen, speziell im letzten Krieg gegen Frankreich und seine Alliierten. Über Ihr Verhalten auf dem amerikanischen Kontinent liegt ein sehr günstiger Bericht vor. Ein ausgewachsener Krieg und eine blutige Rebellion in Amerika müssen eine gute Schulung für einen so jungen Kommandanten gewesen sein. Doch dieser Krieg ist aus und vorbei –«, wieder das flüchtige Lächeln, »– aber wir, oder wenigstens einige von uns, wollen jetzt nach Möglichkeit verhindern, daß wir je wieder in eine so hilflose Pattsituation geraten.«

»Aber wir haben doch den Krieg nicht verloren, Sir!« rief Bolitho.

»Wir haben ihn auch nicht gewonnen. Und das ist das Wesentliche.«

Bolitho mußte unwillkürlich an die letzte Seeschlacht denken: das Schreien und Brüllen auf beiden Seiten, das Krachen der Geschütze und der fallenden Spieren. So viele hatten an diesem Tag den Tod gefunden. So viele vertraute Gesichter wurden einfach ausgelöscht. Und manche, die übriggeblieben waren wie jene beiden zerlumpten Soldaten mußten jetzt sehen, wie sie ihr Leben fristen konnten.

»Wir taten unser Bestes, Sir«, sagte er gedämpft.

Der Admiral sah ihn nachdenklich an. »Das stimmt. Sie haben vielleicht den Krieg nicht gewonnen, aber Sie haben uns eine gewisse Frist verschafft. Zeit, um zu Atem zu kommen und den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.«

»Sie denken, daß der Friede nicht lange dauern wird, Sir?«

»Ein Feind bleibt immer ein Feind, Bolitho. Nur die endgültig Besiegten sind friedlich. O ja, wir werden wieder kämpfen, seien Sie sicher.« Er setzte sein Glas nieder und fragte in scharfem Ton: »Und nun Ihr Schiff. Sind Sie soweit?«

Bolitho hielt seinem Blick stand. »Mir fehlen immer noch Seeleute, aber das Schiff selbst ist so klar, wie es nur sein kann. Vor zwei Tagen habe ich es aus der Werft schleppen lassen; jetzt liegt es in Spithead vor Anker, bis aller Proviant an Bord ist.«

»Wie viele Leute fehlen Ihnen?«

Fünf Worte nur, aber da gab es kein Drumherumreden.

»Fünfzig, Sir. Aber meine Offiziere bemühen sich weiter.«

Der Admiral verzog keine Miene. »Aha. Nun, das ist Ihre Sache. Ich werde Ihnen ein Patent zur Anwerbung von ›Freiwilligen‹ auf den Gefängnishulken[2] im Hafen von Portsmouth besorgen.«

»Traurig, daß wir auf Sträflinge angewiesen sind«, warf Bolitho ein.

»Es sind Männer – mehr brauchen Sie im Moment nicht. Wie die Dinge liegen, tun Sie vielleicht manchem dieser armen Teufel etwas Gutes damit. Die meisten sollten in die amerikanischen Strafkolonien verschafft werden. Jetzt, da wir Amerika los sind, müssen wir uns nach anderen Möglichkeiten umsehen. Man spricht von der Botany Bay in Neu-Holland; aber das kann natürlich bloß ein Gerücht sein.«

Er stand auf und trat ans Fenster. »Ich kannte Ihren Vater und war sehr betrübt, als ich von seinem Tod hörte. Er starb, als Sie in Westindien waren, glaube ich?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Gerade dieser Auftrag wäre etwas für ihn gewesen. Da hätte er sich so richtig beweisen können: auf sich selbst angewiesen und auf Sofort-Entscheidungen, die ihren Urheber vernichten können, wenn sie falsch sind. Alles das, wovon ein junger Fregattenkapitän träumt – hab’ ich recht?«

»Jawohl, Sir.«

Bolitho erinnerte sich deutlich daran, wie sein Vater bei ihrem letzten Zusammensein ausgesehen hatte. Am selben Tage war er mit der Phalarope nach Westindien abgesegelt. Ein müder, gebrochener Mann, den der Verrat seines ältesten Sohnes verbittert hatte. Hugh war sein Augapfel gewesen. Er war fünf Jahre älter als Richard, ein geborener Spieler und Abenteurer, und schließlich hatte er einen Kameraden, einen Offizier, im Duell getötet. Schlimmer noch: er war nach Amerika geflohen, hatte sich dort den Revolutionären angeschlossen und ein Kaperschiff gegen die Engländer geführt. An dieser Nachricht war sein Vater gestorben, ganz gleich, was der Doktor als Todesursache genannt hatte.

Bolitho faßte sein Glas fester. Einen großen Teil seiner Prisengelder hatte es gekostet, das Land zurückzukaufen, das sein Vater hatte veräußern müssen, um Hughs Schulden zu bezahlen. Aber seine Ehre konnte er nicht zurückkaufen. Gut, daß Hugh tot war. Hätten sie sich je getroffen – Richard Bolitho hätte seinen Bruder umbringen können für das, was er getan hatte.

»Noch Wein?« Winslade schien selbst in Gedanken gewesen zu sein. »Sie segeln also zunächst nach Madras. Dort melden Sie sich bei … Nun, das lesen Sie noch in Ihrer Segelorder. Hat keinen Sinn, es jetzt schon bekanntzugeben. Könnte ja sein, Sie kriegen Ihr Schiff doch nicht voll bemannt, eh?«

»Ich schaffe es schon, Sir. Und wenn ich persönlich nach Cornwall fahren muß.«

»Das wird hoffentlich nicht nötig sein.«

Winslade wechselte das Thema. »Während des amerikanischen Krieges haben Sie wahrscheinlich gemerkt, daß die Zusammenarbeit zwischen den militärischen und den zivilen Dienststellen sehr zu wünschen übrig ließ. Die Truppen kämpften, schlugen ihre Schlachten und vertrauten auf keine der beiden Instanzen. Dazu darf es nicht wieder kommen. Ihr neuer Auftrag müßte eigentlich von einem ganzen Geschwader ausgeführt werden und unter der Flagge eines Admirals. Aber das würde Aufsehen erregen, und gerade das will das Parlament angesichts der Unsicherheit dieses Friedens vermeiden.«

Winslade schwieg einen Moment; dann fragte er unvermittelt: »Wo wohnen Sie in London?«

»In Southwark, im Hotel George.«

»Ich gebe Ihnen eine Adresse: das Haus eines Freundes am St. James’ Square.« Er lächelte über Bolithos bedenkliche Miene. »Machen Sie doch nicht so ein finsteres Gesicht! Es wird Zeit, daß Sie unter Menschen kommen und sich an Land etwas Rückendeckung sichern. Dieser Auftrag kann Sie mit anderen Leuten in Berührung bringen als mit abgeklapperten Stabskapitänen. Sie müssen die richtigen Leute kennenlernen, das kann Ihnen nur nützen. Ich schicke einen Kurier mit Instruktionen für Ihren Ersten Leutnant.« Er warf Bolitho einen raschen Blick zu. »Herrick, nehme ich an, von Ihrem letzten Schiff.«

»Jawohl, Sir.« Er war sich nie im Zweifel darüber gewesen, wem er diesen Posten anbieten würde, wenn er je wieder ein Schiff bekäme.

»Na schön, Mr. Herrick also. Er kann die anfallenden Sachen erledigen. Ich brauche Sie für die nächsten vier Tage in London. Mindestens!« bekräftigte er, als er den Protest in Bolithos Miene sah. Nachdenklich blickte der Admiral ihn sekundenlang an. Gewiß, Bolitho wollte so schnell wie möglich wieder auf sein Schiff und fühlte sich in der fremden, verwirrenden Umgebung unsicher. Das und noch mehr stand ihm im Gesicht geschrieben. Als Bolitho vorhin ins Zimmer trat, war dem Admiral die Ähnlichkeit mit dem Vater aufgefallen: groß, schlank, das schwarze Haar am Nackenansatz zusammengebunden. Jedoch die schwarze Locke über dem rechten Auge erzählte eine andere Geschichte. Einmal, als Bolitho sein Glas hob, war sie verrutscht, so daß darunter eine weißliche Narbe sichtbar wurde, die sich bis in den Haaransatz hineinzog. Winslade war mit seiner Wahl sehr zufrieden. Bolithos ernste Züge verrieten Intelligenz und auch Mitgefühl, das sogar in sieben Kriegsjahren nicht geschwunden war. Winslade hätte sich seinen Mann aus hundert Kapitänen aussuchen können, aber er wollte einen haben, der ein Schiff und das Meer brauchte und nicht bloß die materielle Sicherheit, die eine solche Stellung mit sich brachte. Und er brauchte einen Mann, der nicht nur denken, sondern auch entsprechend handeln konnte, der sich nicht einfach auf die Feuerkraft seiner Breitseiten verließ. Bolithos Personalakte bewies deutlich, daß ihm eine schriftliche Order nicht die eigene Initiative ersetzte. Mehrere Admirale hatten gemurrt, als Winslade ihn für dieses Kommando vorschlug. Aber Winslade hatte seinen Kopf durchgesetzt, denn er hatte das Parlament hinter sich, und das war ebenfalls eine Seltenheit.

Mit einem Seufzer griff er nach der Tischglocke. »Gehen Sie jetzt, und leiten Sie Ihren Umzug in die Wege – ich gebe Ihnen gleich die Adresse. Im übrigen habe ich viel zu tun, also amüsieren Sie sich ruhig, solange Sie können!«

Auf sein Läuten erschien ein Diener, brachte Bolithos Hut und Degen und legte ihm geschickt das Gehänge um. Winslade sah aufmerksam zu. »Immer noch dieselbe alte Klinge, wie?« Er faßte den Degen an – eine in langem Dienst glattgewetzte Waffe und viel leichter als die modernen Degen.

»Aye, Sir«, lächelte Bolitho. »Mein Vater gab ihn mir, als …«

»Ich weiß. Denken Sie nicht mehr an die Geschichte mit Ihrem Bruder, Bolitho.« Er tippte nochmals an den Degengriff. »Ihre Familie hat in vielen Generationen so viel Ehre angesammelt, daß sie durch einen einzelnen nicht entehrt werden kann.« Er hielt ihm die Hand hin. »Seien Sie vorsichtig. Sicher zerreißen sich schon manche Leute den Mund über Ihren heutigen Besuch bei mir.«

Bolitho trat hinter dem Diener auf den Flur und dachte unruhig über die verschiedenen Gesichtspunkte der Unterredung nach. Madras … Ein fremder Kontinent … Eine lange, schwierige Reise, aber offenbar nur der Anfang seiner Mission. Jede Meile, die er segelte, würde ihre Schwierigkeiten bringen, dachte er lächelnd. Und ihren Lohn. Er blieb einen Augenblick unter dem Torbogen stehen und starrte auf das Gewimmel der Menschen und Wagen. Bald würde er wieder auf dem offenen Meer sein, nicht mehr in diesem Schmutz und Lärm! Ein Schiff war ein lebendiges Wesen, etwas ganz anderes als diese langweiligen, pompösen Bauwerke.

Jemand berührte seinen Arm. Er fuhr herum und sah einen jungen Mann in schäbiger Uniform, der ihn mit banger Erwartung anblickte. »Ja, bitte? Sie wünschen?«

»Mein Name ist Chatterton, Captain«, sagte der Mann gepreßt. »Ich war Zweiter Leutnant auf der Warrior, vierundsiebzig Geschütze.« Er zögerte, als er Bolithos ernste Miene sah. »Ich höre, Sie rüsten aus, Sir, und da dachte ich …«

»Tut mir leid, Mr. Chatterton. Meine Offiziersmesse ist voll.«

»Ja, Sir, das dachte ich mir.« Er schluckte. »Vielleicht könnte ich als Steuermannsmaat anmustern?«

Bolitho schüttelte den Kopf. »Leider brauche ich nur Matrosen.« Enttäuschung verdüsterte die Miene des jungen Mannes. Die alte Warrior hatte bei kaum einer Seeschlacht gefehlt; tapfere Männer hatten voller Stolz ihren Namen genannt. Und jetzt stand ihr Zweiter Leutnant wie ein Bettler da.

»Wenn ich Ihnen aushelfen kann«, sagte Bolitho leise, »eine kleine Überbrückung …« Er faßte in die Tasche.

»Danke, nein, Sir.« Der junge Mann zwang sich ein Lächeln ab. »Jedenfalls jetzt noch nicht.« Er stellte seinen Rockkragen hoch. Im Weggehen rief er noch: »Viel Glück, Captain!«

Bolitho sah ihm nach, bis er um die Ecke war. So hätte es auch Herrick gehen können, dachte er. Und jedem von uns.


Der immer steifer werdende Südost peitschte den Solent[3] zu einer einzigen Masse kabbeliger, schaumgekrönter Wellen auf, und die Undine, Fregatte Seiner Majestät, zerrte trotzig an ihrer Ankerkette.

Leutnant Thomas Herrick stellte den Kragen seines schweren Wachmantels hoch und nahm seinen Gang über das Achterdeck wieder auf. Er kniff die Augen zusammen, um sie vor dem Gemisch aus Regen und Sprühwasser zu schützen. Im feuchten Zwielicht sah die straffgespannte Takelage aus wie ein Gewirr schwarzer Glasröhren.

Trotz des schlechten Wetters herrschte lebhafter Betrieb an Deck, ebenso längsseits in den schwankenden Versorgungsbooten und Leichtern. Hier und da, auf den Decksgängen und im Bug des Schiffes, setzten die roten Uniformen der Wache stehenden Seesoldaten dem alles beherrschenden trüben Grau ein paar farbige Lichter auf. Die Marineinfanteristen sollten dafür sorgen, daß die von den Booten und Leichtern übernommenen Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände nur in einer Richtung gingen und nicht durch eine offene Luke im Tausch gegen billigen Schnaps und andere Genüsse wieder an Land gelangten.

Zufrieden grinste Herrick und stampfte mit seinen kalten Füßen auf den nassen Deckplanken. In dem Monat seit seiner Anmusterung hatte es eine Menge Arbeit gegeben. Andere mochten über das schlechte Wetter, die Unsicherheit der langen Reise, über die Strapazen in See und Wind fluchen – er nicht. Im vergangenen Jahr hatte er erheblich mehr Plage und Mühe gehabt; und er war froh, wieder an Bord eines Kriegsschiffes zu sein. Schon mit knapp zwölf Jahren war er in die Marine eingetreten; und in diesen letzten langen Monaten nach der Unterzeichnung des Friedens mit Frankreich und der Anerkennung der Unabhängigkeit Amerikas hatte er zum erstenmal erfahren, was es heißt, der einzigen Lebensform, die er verstand und mit der er vertraut war, nicht mehr anzugehören.

Anders als viele seiner Kameraden mußte Herrick von dem leben, was er verdiente. Er kam aus einer armen Familie; sein Vater war Schreiber in Rochester, seiner Heimatstadt. Als er von der Phalarope abmusterte, sich von Bolitho verabschiedete und wieder nach Rochester kam, war es noch schlimmer gewesen, als er erwartet hatte. Die Gesundheit seines Vaters war ruiniert, er schien sich zu Tode zu husten. Herricks einzige Schwester war gelähmt und konnte ihrer Mutter kaum im Haus helfen; und somit sah die Familie seine Rückkehr mit anderen Augen als er, der sich wie ein Ausgestoßener vorkam. Über den Prinzipal seines Vaters hatte er eine Heuer als Maat auf einer kleinen Brigg bekommen, die ihr Geld mit Stückgutfracht längs der Ostküste und gelegentlich auch einmal über den Kanal nach Holland verdiente. Der Schiffseigner war ein Geizhals, der mit einer so kleinen Mannschaft fuhr, daß das Schiff kaum bedient werden konnte, vom Be- und Entladen und von Reparaturen ganz zu schweigen. Als er Bolithos Brief bekam, dem der Befehl der Admiralität beilag, sich an Bord der Undine zu melden, war er so erschüttert gewesen, daß er sein Glück kaum fassen konnte. Seit dem letzten Besuch in Falmouth hatte er Bolitho nicht mehr gesehen, vielleicht hatte er sogar im tiefsten Innern gefürchtet, daß ihre Freundschaft, die in Kanonendonner und Sturm geboren und gewachsen war, die Friedenszeit nicht überleben würde. Schließlich lagen ihre beiden Welten zu weit auseinander. Das große steinerne Haus war ihm wie ein Palast vorgekommen. In Bolithos Familie waren fast alle Männer Seeoffiziere gewesen; und das stellte ihn auf eine ganze andere Ebene als Herrick, der in seiner Familie als erster zur See ging – aber es gab noch bedeutendere Unterschiede zwischen ihnen.

Bolitho hatte sich nicht verändert. Das hatte Herrick auf den ersten Blick gemerkt, als sie sich vor einem Monat auf eben diesem Achterdeck wiedergesehen hatten. Sie war noch da, die leise Melancholie, die jedoch blitzschnell in jugendliche Erregung umschlagen konnte. Und vor allem war Bolitho selbst froh, wieder an Bord zu sein; er freute sich darauf, sein neues Schiff und auch sich auf die Probe zu stellen, sobald sich Gelegenheit dazu bieten würde.

Ein Midshipman[4] kam über das Deck gerannt, faßte vorschriftsmäßig an seinen Hut und meldete: »Kutter kommt zurück, Sir.«

Er war ein kleiner Kerl und erst seit etwa drei Wochen an Bord; er bibberte vor Kälte.

»Danke, Mr. Penn. Hoffentlich mit ein paar neuen Matrosen.« Er sah den Jungen mißbilligend an. »Bringen Sie Ihre Uniform in Ordnung. Der Captain kommt vielleicht heute zurück.« Dann ging er wieder auf und ab. Fünf Tage lang war Bolitho nun schon in London. Herrick freute sich auf die Neuigkeiten, die er mitbringen würde, besonders auf die Segelorder, damit sie endlich aus dem scheußlichen Solent herauskamen. Er beobachtete den Kutter, der sich schwer stampfend durch die weißen Wellenkämme arbeitete. Trotz der Bemühungen des Bootsführers handhabten die Bootsgasten die Riemen ziemlich ungeschickt. Er konnte den Dreispitz des Dritten Leutnants John Soames in der Achterplicht erkennen – ob der wohl Glück gehabt hatte und Rekruten mitbrachte?

Herrick hatte an Bord der Phalarope als Dritter angefangen und war zu Bolithos Stellvertreter aufgestiegen, nachdem der Erste und der Zweite Leutnant im Gefecht den Tod gefunden hatten. Die Frage ging ihm durch den Sinn, ob Soames sich schon über seine eigene Beförderung in den kommenden Monaten Gedanken machte. Soames war ein Riesenkerl und stand im dreißigsten Lebensjahr, war drei Jahre älter als Herrick. Er war erst sehr spät Leutnant geworden, und zwar auf allerlei Umwegen über den Dienst in der Handelsflotte und später als Steuermannsmaat in der Kriegsmarine. Was er wußte, hatte er sich selbst beigebracht: ein Mensch, der nicht kleinzukriegen war, aus dem man aber auch nicht klug wurde. Herrick traute ihm nicht recht.

Ganz anders war der Zweite, Villiers Davy. Wie schon der Name vermuten ließ, war er von Familie; Geld und stolze Haltung gaben seinem quecksilbrigen Witz den nötigen Rückhalt. Auch ihm traute Herrick nicht so ganz; aber er hielt sich immer wieder vor Augen, daß seine Abneigung auf Davys Ähnlichkeit mit einem arroganten Midshipman der Phalarope beruhen mochte.

Herrick drehte sich um, weil er Schritte hinter sich hörte: ein mächtiges Kassenbuch unter dem Mantel, kam Zahlmeister Triphook durch den strömenden Regen geschlurft.

»Ein schlimmer Tag, Mr. Herrick«, brummte er mißmutig. Er deutete auf die Boote und fuhr fort: »Hol der Teufel diese Gauner. Die würden noch einen Blinden bestehlen, das würden sie.«

Herrick grinste. »Ihr Zahlmeister tut so was nicht, wie?«

Triphook blickte ihn ernsthaft an. Er war sehr dünn, hielt sich krumm und hatte lange gelbe Pferdezähne.

»Ich hoffe, Sie haben das nicht ernst gemeint, Sir.«

Herrick beugte sich über die triefenden Finknetze[5], um einen Blick in den Kutter zu werfen, der eben, längsseits festmachte. Du lieber Gott, was für saumäßiges Rudern! Bolitho würde etwas Besseres sehen wollen, und das bald.

»Regen Sie sich nicht auf, Mr. Triphook«, erwiderte er kurz. »Ich wollte Ihnen bloß einen Tip geben. An Bord meines vorigen Schiffes hatten wir einen Zahlmeister – Evans hieß er –, der verschob den Proviant. Ließ verdorbenes Fleisch liefern und steckte die Preisdifferenz ein – es ging damals ziemlich drunter und drüber. Aber es kam rechtzeitig raus.«

Triphook sah ihn unsicher an. »Und?«

»Captain Bolitho ließ ihn auf eigene Kosten frisches Fleisch kaufen. Faß für Faß – ein frisches Faß für jedes schlechte.« Er grinste wieder. »Also lassen Sie sich warnen, mein Freund!«

»Bei mir wird der Captain nichts zu beanstanden haben, Mr. Herrick.« Im Weggehen sagte er noch: »Darauf können Sie sich verlassen!« Aber es klang nicht sehr überzeugend.

Leutnant Soames kam aufs Achterdeck, faßte an den Hut und meldete mit einem angewiderten Blick auf die nassen Planken: »Fünf Mann, Sir. Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin total heiser vom Vorlesen dieser Flugblätter.«

Herrick nickte mitfühlend. Er hatte das oft genug selbst machen müssen. Fünf Mann. Sie brauchten immer noch dreißig. Und selbst dann hatten sie keine Reserve für Todesfälle und Verwundungen, mit denen man schließlich bei jeder langen Reise rechnen mußte.

Mürrisch fragte Soames: »Was Neues?«

»Nein. Nur, daß wir nach Madras segeln. Aber ich denke, es geht bald los.«

»Je eher wir von Land weg sind, um so besser. Die Straßen sind voller Besoffener, prima Seeleute, die wir gut gebrauchen könnten.« Zögernd fuhr er fort: »Wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich heute nacht mit einem Boot losfahren und ein paar davon schnappen, wenn sie aus ihren verdammten Bierkneipen getorkelt kommen.«

Sie fuhren herum. Kreischendes Gelächter erklang vom Geschützdeck, und eine Frau, die bloßen Brüste dem Regen preisgegeben, kam backbords unter dem Decksgang hervorgerannt. Zwei Matrosen waren hinter ihr her, beide offensichtlich angetrunken; man brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was sie von ihr wollten.

Herrick brüllte: »Unter Deck mit dieser Schlampe! Oder ich lasse sie über Bord schmeißen!« Er sah, wie der Midshipman vor Staunen über dieses Schauspiel die Augen aufriß, und sagte grob: »Mr. Penn, verschwinden Sie gefälligst!«

Soames grinste, was selten vorkam. »Verletzt das Ihre Gefühle, Mr. Herrick?«

Der zuckte die Schultern. »Ich weiß, es ist Brauch, den Matrosen im Hafen Weiber und Schnaps zu gestatten.« Er mußte an seine Schwester denken, die an ihren verdammten Rollstuhl gefesselt war. Was hätte er darum gegeben, wenn sie so hätte laufen können wie diese Hafenhure von Portsmouth. »Aber es ekelt mich jedesmal an.«

Soames seufzte. »Sonst würde die Hälfte dieser Bande desertieren, ob sie unterschrieben haben oder nicht. Wenn der Rum knapp wird, ist es mit der Anziehungskraft von Madras schnell vorbei.«

»Um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen«, sagte Herrick. »Matrosen, die auf solche Weise an Bord kommen, machen eine Menge böses Blut. Ein fauler Apfel kann das ganze Faß verderben.«

Soames sah ihn starr an. »Mir scheint, auf diesem Schiff sind die meisten Äpfel jetzt schon faul. Die Freiwilligen laufen wahrscheinlich nur ihren Gläubigern davon – oder vielleicht sogar dem Henker. Und es sind welche dabei, die wollen bloß sehen, was sie stehlen können, wenn sie erst einmal ein paar Meilen von der Obrigkeit entfernt sind.«

»Captain Bolitho ist Obrigkeit genug, Mr. Soames«, entgegnete Herrick.

»Ach so, Sie sind ja schon mit ihm gefahren. Da gab’s doch eine Meuterei?«

»Nicht seinetwegen«, erwiderte Herrick mit ärgerlichem Blick. »Seien Sie so gut und sorgen Sie dafür, daß die neuen Leute Essen und Arbeitskleidung fassen.« Er erkannte Widerstreben im Blick des Zweiten und fuhr fort: »Das ist auch ein Punkt, den der Captain so haben will. Ich kann Ihnen nur raten, sich auf seine Wünsche einzustellen. Dann werden Sie ein leichteres Leben haben.«

Soames ging, und Herrick entspannte sich etwas. In Zukunft durfte er sich nicht so leicht über Soames ärgern. Aber jede Kritik an Bolitho, offen oder versteckt, ging ihm unter die Haut. Bolitho war das Sinnbild für alles, was Herrick einmal sein wollte. Daß er den einen oder anderen von Bolithos verborgenen Fehlern kannte, vertiefte nur seine Loyalität. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Es war sogar mehr als Loyalität.

Er spähte über die Finknetze zum Land hinüber, auf die regennassen, bleiern glitzernden Mauern der Festung. Jenseits von Portsmouth Point war in dem Dreckwetter kaum noch etwas vom Land zu sehen. Gut, daß es endlich losging. Dann kam zu seinem regulären Sold noch die Seezulage, und die würde eine Hilfe für seine Angehörigen sein. In Westindien hatten sie unter Bolitho gutes Prisengeld verdient, und mit seinem Anteil hatte er ein paar Anschaffungen gemacht, die ihnen das Leben etwas erleichterten, bis er zurückkehrte. Aber wann würde das sein? In zwei Jahren? Besser, man dachte gar nicht darüber nach.

Gekrümmt kam ein Schiffsjunge durch den Regen zum unbemannten Steuerrad gerannt, drehte die Sanduhr um und wartete darauf, daß Herrick glaste. Es war Zeit, die diensttuende Wache unter Deck zu schicken. Herrick verzog das Gesicht. In der Offiziersmesse würde es auch nicht viel gemütlicher sein als im Mannschaftslogis. Soames würde stumm vor sich hin brüten. Davy würde ihn mit irgendwelchen scharfzüngigen Redensarten anzuzapfen versuchen. Giles Bellairs, der Hauptmann der Seesoldaten, würde inzwischen schon leicht angetrunken sein, denn er wußte, daß sein bulliger Sergeant mit der kleinen Abteilung ganz gut allein fertig wurde. Triphook würde vermutlich in Berechnungen über die Dienstkleidung der Neuen vertieft sein. Typisch für den Zahlmeister: Er konnte die bevorstehende Reise Meile für Meile in Salzfleisch, Speck, eisenhartem Schiffszwieback, Zitronensaft gegen Skorbut, Bier und Schnaps (zur Aufbesserung des Trinkwassers, das bald genug von allerlei Lebewesen wimmeln würde) und all den tausend Kleinigkeiten, für die er verantwortlich war, in aller Seelenruhe vorausplanen. Aber eine Garnitur Dienstkleidung für Männer, die noch eigene Fetzen auf dem Leib trugen, das war zuviel für seine Wertbegriffe. Doch er würde es schon noch lernen, wenn Bolitho das Schiff erst einmal zum Leben erweckt hatte.

Rufe kamen von Land her, und Midshipman Penn piepste ängstlich: »Pardon, Sir, aber ich fürchte, der Schiffsarzt ist in Schwierigkeiten.«

Herrick runzelte die Stirn, Der Schiffsarzt hieß Charles Whitmarsh: ein Mann von Kultur, aber mit Problemen. Nach Herricks Erfahrungen waren die meisten Schiffsärzte bloße Schlächter. Wer sonst würde zur See gehen und sich nach einer Seeschlacht mit blutigen, zerfetzten, schreienden, sterbenden Männern befassen wollen? In Friedenszeiten mochte das anders sein. Aber Whitmarsh war leider ein Säufer. Dort unten in dem dümpelnden Dingi bemühten sich der Bootsmannsmaat und zwei Matrosen, dem Arzt einen doppelten Palstek umzulegen, damit er besser an Bord kam. Er war ein großer, kräftiger Mann, fast so groß wie Soames, und sein Gesicht glühte in dem grauen Licht so rot wie die Uniform eines Seesoldaten.

»Lassen Sie ein Frachtnetz abfieren, Mr. Penn«, befahl Herrick unwillig. »Nicht sehr gentlemanlike, aber das Gestrampel da unten ist auch nicht gerade vornehm.«

Schließlich war Whitmarsh auf dem Geschützdeck gelandet, mit wirren Haaren und dem strahlenden Grinsen des Betrunkenen. Einer seiner Sanitätsgasten und zwei Seesoldaten schälten ihn aus dem Netz und schafften ihn unter Deck. Jetzt würde er in seinem kleinen Lazarett ein paar Stunden schlafen und dann wieder von vorn mit Trinken anfangen.

»Ist er krank, Sir?« fragte Penn ängstlich.

Herrick sah den Knaben ernsthaft an. »Ein bißchen blau, mein Junge. Aber einen Arm oder ein Bein abschneiden, das könnte er wohl noch.« Er tippte Penn auf die Schulter. »Gehen Sie unter Deck. Ihre Ablösung muß gleich kommen.«

Er blickte hinter dem Davoneilenden her und mußte wieder grinsen. Nur schwer konnte er sich vorstellen, daß er selbst einmal wie Penn gewesen war: unsicher, ängstlich und voll knabenhafter Illusionen, die eine nach der anderen durch das, was er sah und hörte, verlorengingen.

Da rief ein Seesoldat: »Wachtboot legt im Bootshafen ab, Sir!«

»Schön«, nickte Herrick. Das hieß: Order für die Undine. Seine Blicke schweiften über das Schiff, zwischen die hohen, in der Dünung nippenden Masten, über das straffe Gewirr der Takelage und die sauber gerefften Segel bis zum Bugspriet, unter dem die Galionsfigur, eine vollbusige Seejungfrau, blicklos in die Ferne starrte. Es hieß auch, daß Bolitho zurückkommen würde. Und zwar heute.

Mehr brauchte Thomas Herrick nicht zu wissen.