Nahkampf der Giganten

Der Autor

Alexander Kent – Foto © Kim Reeman

Alexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben G.S. Forester. Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte »Foudroyant« in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.

Das Buch

Gibralter 1793: Die blutige Revolution in Frankreich wurde auf der anderen Seite des Kanals mit nervöser Schadenfreude beobachtet. Doch als aus dem Durcheinander eine noch stärkere Nation hervorgeht, finden sich die Engländer mit der Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges ab. Ihre Devise lautet wie immer: Mit der Flotte siegen oder untergehen. Eines ihrer ältesten Linienschiffe ist die Hyperion, mit der Kapitän Richard Bolitho, von Gibraltar kommend, in einem kühnen Handstreich die Insel Cozar erobert. Von seinem eifersüchtigen Admiral im Stich gelassen, muß Bolitho sich der französischen Übermacht stellen - in einer Seeschlacht, die nicht nur über das Schicksal der Blockade entscheidet, sondern auch darüber, ob Bolitho jemals Falmouth und seine ihn dort erwartende Verlobte Wiedersehen wird ...

Alexander Kent

Nahkampf der Giganten

Flaggkapitän Bolitho bei der Blockade Frankreichs

Roman

Aus dem Englischen
von Karl H. Kosmehl

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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin Juli 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2005
© Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München 2000
© für die deutsche Ausgabe: Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin 1979
© 1979 by Alexander Kent
Titel der englischen Originalausgabe: Form Line of Battle
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

ISBN 978-3-96048-147-8

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I Die alte Hyperion

Die Fregatte Harvester, vor neun Tagen von Spithead ausgelaufen, drehte elegant in die leichte, ablandige Brise und ließ den Anker fallen. Das Echo ihrer Salutschüsse rollte wie ferner Donner von der hohen Wand des ewigen, immer gleichen Felsens von Gibraltar zurück. Ihr junger Kapitän blickte noch einen Moment von der Höhe des Achterdecks auf das von Matrosen wimmelnde Hauptdeck: von den scharfen Kommandos und gelegentlich auch mal vom Rippenstoß eines ungeduldigen Deckoffiziers angetrieben, schwangen die Männer die Boote aus. Das Einlaufen in einen Hafen war jedesmal ein kniffliges, spannungsreiches Manöver; der Kapitän war keineswegs der einzige an Bord, der genau wußte, daß auf den in geringer Entfernung vor Anker liegenden großen Linienschiffen, dessen mächtigstes die Konteradmiralsflagge im Vortopp führte, schon mehrere Teleskope höchst kritisch auf sein kleines Schiff gerichtet waren.

Mit einem letzten Blick schritt er nach achtern und kreuzte nach Steuerbord hinüber, wo ein hochgewachsener, schlanker Mann einsam an den Finknetzen lehnte.

»Soll ich nach einem Boot signalisieren, Sir? Oder genügt Ihnen eins von meinen?«

Kapitän Richard Bolitho riß sich aus seinen Gedanken und wandte sich dem Kapitän der Fregatte zu.

»Danke, Captain Leach; ich nehme Ihr Boot. Das geht schneller.« Er glaubte, eine Spur von Erleichterung in den Augen des Mannes zu sehen; es war ihm klar, daß es für einen so jungen Kommandanten, der noch nicht einmal planmäßiger Fregattenkapitän war, keineswegs angenehm gewesen sein mochte, ihn als Passagier an Bord zu haben.

Etwas weniger dienstlich fuhr er fort: »Sie haben ein feines Schiff, und es war eine flotte Reise.« Trotz der Morgensonne überflog ihn ein leichter Schauder, und er merkte, daß Leach ihn interessiert musterte. Aber was konnte dieser junge Mann schon davon wissen, wie ihm zumute war? Während sich die Fregatte durch den Ärmelkanal gekämpft und Brest gerundet hatte, wo wieder einmal britische Geschwader in jedem Wetter draußen waren und die französische Flotte blockierten, waren Bolithos Gedanken weit über den stampfenden Bugspriet hinausgeeilt – bis zu diesem Augenblick jetzt. Dann war es weitergegangen, quer über die Biskaya mit ihren tobenden Stürmen und tückischen Strömungen; und noch weiter nach Süden, bis die portugiesische Küste wie ein blauer Nebelstreifen weit achteraus lag. Bolitho hatte viel Zeit gehabt, an das zu denken, was vor ihm lag: sein neues Schiff, und was es ihm im Lauf der Zeit alles bringen würde. Bei seinen einsamen Gängen auf dem gischtübersprühten Achterdeck hatte er nie vergessen, daß er hier nur Passagier war; mehr als einmal mußte er sich zurückhalten, um sich nicht in die Schiffsführung einzumischen.

Aber jetzt, im Schatten des mächtigen Felsens von Gibraltar, mußte er sich derlei Gedanken aus dem Kopf schlagen. Er war nicht mehr der unabhängige Fregattenkapitän, der eigene Initiative entwickeln konnte, wie sie ein solches Kommando verlangte. In ein paar Minuten würde er ein Linienschiff übernehmen, eins von denen, die dort so behäbig und selbstbewußt an den Ankertrossen schwojten – nur zwei Kabellängen[1] entfernt. Achtern vom Flaggschiff lag eins, das sah er sich genauer an. Ein Zweidecker, eines von den Vierundsiebzig-Kanonen-Schiffen, die das Rückgrat der weit auseinandergezogenen englischen Geschwader bildeten. Die Fregatte unter seinen Füßen stampfte sogar im stillen Wasser der Reede, ihre sich verjüngenden Masten kreisten vor dem verwaschenen blauen Himmel, ihre Takelage summte wie vor Unbehagen über die Notwendigkeit, so nahe bei diesen klobigen Schiffen ankern zu müssen. Im Vergleich zu der Fregatte wirkte der Zweidecker vierschrötig und unbeweglich mit seinen himmelhohen Masten und breiten Rahen, der doppelten Reihe von Stückpforten; er bot ein Bild der Massigkeit und Stärke; die flinken Hafenboote nahmen sich neben ihm wie Wasserkäfer aus.

Leach sah zu, wie die Gig ums Schiff herum zur Fallreepspforte gerudert wurde. Bolithos persönlicher Bootsführer stand neben einem Stapel Gepäck wie ein mächtiger Wachhund beim kostbaren Besitz seines Herrn.

»Da haben Sie einen guten Mann, Sir«, sagte er.

Lächelnd folgte Bolitho seinem Blick. »Allday ist bei mir seit …« Der Rückblick auf die vergangenen Jahre machte ihm keine Mühe, so als warte jeder Gedanke, jede Erinnerung nur darauf, wieder aufzutauchen. »Mein erster Bootsmann ist ’82 bei den Saintes[2] gefallen. Seitdem dient Allday bei mir.«

Es waren nur ein paar erklärende Worte, aber was bedeuteten sie nicht alles für Bolitho; auch Alldays Anblick war eine ständige Erinnerung. Die Seeschlacht bei den Saintes, sein Dienst auf der Fregatte Phalarope, all das lag jetzt elf Jahre zurück; und wieder war England im Krieg.

Nachdenklich blickte Leach in Bolithos ernstes Gesicht. Während der ganzen ereignislosen Reise von Spithead bis Gibraltar hatte er das Bedürfnis empfunden, ihm menschlich näherzukommen, aber irgend etwas hatte ihn davon abgehalten. Er hatte schon viele Passagiere nach Gibraltar gebracht: Garnisonsoffiziere, Kuriere, Ersatz für Verunglückte oder Gefallene, denn der Krieg expandierte bereits nach allen Richtungen. Normalerweise war diese Aufgabe eine ganz nette Abwechslung im täglichen Einerlei. Aber etwas an Bolithos leidenschaftsloser, fast zurückgezogener Art hatte einen näheren Kontakt verhindert. Jetzt betrachtete er Bolitho mit einer Mischung aus Interesse und Neid. Bolitho war ein Kapitän von höherem Dienstalter und im Begriff, einen neuen Abschnitt seiner Karriere zu beginnen; wenn er auch nur etwas Glück hatte, würde er in ein paar Jahren, vielleicht schon in Monaten, auf der Anwärterliste für den Admiralsrang stehen.

Nach dem, was Bolitho soeben gesagt hatte, mußte er Mitte oder Ende der Dreißig sein. Er war groß und so schlank, daß er überraschend jugendlich wirkte, und wenn er lächelte, wirkte auch sein Gesicht jünger. Es hieß, Bolitho sei zwischen den Kriegen mehrere Jahre in der Südsee stationiert gewesen, hätte sich dort ein schlimmes Fieber geholt und sei als schwerkranker Mann zurückgekommen. Das konnte stimmen, dachte Leach. Da waren die tiefen, scharfen Linien um Bolithos Mund, und unter der gleichmäßigen Bräune wies seine Haut an den Backenknochen und unter den Augen jene Transparenz auf, die für eine solche Krankheit charakteristisch war. Aber das in den Nacken zurückgekämmte Haar war schwarz, ohne den geringsten Schimmer von Grau; und mit der einzelnen Strähne über seinem rechten Auge sah er aus wie ein Draufgänger, der sich ständig im Zaum halten mußte.

Ein Leutnant trat grüßend heran. »Boot ist klar, Sir.« Bolitho streckte die Hand aus. »Also, dann einstweilen adieu, Leach. Zweifellos werden wir bald wieder zusammenkommen.«

Jetzt lächelte der Fregattenkapitän zum erstenmal. »Das hoffe ich auch, Sir.« Er schnippte ärgerlich mit den Fingern. »Das hätte ich doch beinahe vergessen! Ich habe einen Midshipman[3] an Bord, der für Ihr Schiff bestimmt ist. Soll er mit Ihnen zusammen fahren?«

Es hörte sich so distanziert an, als spräche er von einem überflüssigen Gepäckstück; und trotz seiner inneren Spannung mußte Bolitho grinsen. »Wir waren schließlich alle mal Midshipmen, Leach. Ja, er kann mitkommen«, nickte er. Dann stieg er zur Fallreepspforte hinab, wo die Bootsmannsmaaten und eine Abteilung Marine-Infanteristen zur Ehrenbezeugung angetreten waren. Seine Kisten und Koffer waren bereits weg; Allday wartete an der Schanz und blickte Bolitho aufmerksam entgegen. »Alles verstaut, Captain«, meldete er und klopfte dienstlich mit den Knöcheln der geballten Faust an die Stirn[4].

Bolitho nickte. Allday hatte etwas äußerst Zuverlässiges an sich. Zwar war er nicht mehr der schlanke, geschmeidige Toppmatrose von einst. Er war breiter und stärker geworden und sah in seinem blauen Jackett und den weißen Segeltuchhosen so kraftvoll und unzerstörbar aus wie ein Felsen. Aber seine Augen waren noch immer dieselben: nachdenklich und leicht amüsiert. Ja, es war gut, ihn heute bei sich zu haben.

Dann erblickte Bolitho den Midshipman: ein flüchtiger Eindruck von einem blassen, feingeschnittenen Gesicht und einem mageren, schlaksigen Körper, der anscheinend nicht stillhalten konnte.

Merkwürdig, dachte er, daß ich den Jungen nie an Bord gesehen habe, obwohl es auf einer Fregatte so eng ist.

Leach schien seine Gedanken erraten zu haben. »Er ist fast die ganze Reise seekrank gewesen«, sagte er wegwerfend.

Freundlich fragte Bolitho: »Wie heißen Sie, mein Junge?«

»S… S… Seton, Sir«, stotterte der Midshipman, wurde rot und schwieg.

Gefühllos sagte Leach: »Er stottert auch noch. Heutzutage müssen wir anscheinend alles nehmen.«

Bolitho verbarg sein Lächeln. »Gewiß.« Dann fuhr er fort: »Schön, Mr. Seton, gehen Sie bitte zuerst ins Boot.« Er sah, wie der Junge versuchte, diese neue Komplikation in seiner Karriere geistig zu verarbeiten, und befahl: »Weitermachen, Allday!«

Kaum vernahm er das Getriller der Pfeifen und das grobe Kommandogebell; erst als die Gig von der Fregatte klargekommen war und unter dem Druck der Riemen mit schäumender Bugwelle durch das ruhige Wasser des Hafens glitt, gönnte er sich einen weiteren Blick auf sein neues Schiff.

Allday folgte seinen Augen und sagte gleichmütig: »Na, da ist sie ja wieder, Captain. Die alte Hyperion


Während die kleine Gig stetig über das blaue Wasser zog, konzentrierte sich Bolitho auf die vor Anker liegende Hyperion. Allday hatte seine Bemerkung vielleicht ganz gedankenlos hingeworfen; aber seine Worte schlugen eine andere Saite in Bolithos Gedächtnis an, und er betrachtete es nicht mehr als bloßen Zufall, daß er jetzt aufs neue mit diesem alten Schiff zusammentraf.

Die Hyperion war tatsächlich ein alter Kasten: vor einundzwanzig Jahren hatte ihr Kiel zum erstenmal Salzwasser geschmeckt; es war also logischerweise unvermeidbar, daß er sie ab und zu wieder zu Gesicht bekam, da ihn sein Dienst ständig von einem Teil der Welt zum anderen führte. Aber immer, wenn er seelisch und körperlich die Grenze seiner Kräfte erreicht hatte, war dieses alte Schiff irgendwo in der Nähe gewesen. Bei den blutigen Seeschlachten in der Chesapeake Bay[5] und bei den Saintes, als seine eigene geliebte Fregatte fast zum Wrack geschossen wurde, hatte er ihren stumpfen Bug sich durch den dichtesten Pulverdampf schieben sehen; aus ihrem Rumpf blitzte Kanonenfeuer, ihre Segel hatten Löcher wie Pockennarben, doch mit aller Macht hielt sie ihren Platz in der Gefechtslinie.

Bolitho kniff die grauen Augen zusammen. Die Sonnenreflexe auf dem Wasser warfen ein Muster aus tanzenden Lichtern an die hohe Bordwand. Er wußte, daß die Hyperion mehr als drei Jahre lang ständig im Dienst gewesen war. Soeben kam sie aus Westindien, und die Wogen der Hoffnung auf rasche Abmusterung und wohlverdiente Ruhe für Schiff und Mannschaft gingen hoch.

Aber während die Hyperion majestätisch in friedlichen Geschäften unter der karibischen Sonne gesegelt war und Bolitho in seinem Haus in Falmouth verzweifelt gegen das verzehrende Fieber gekämpft hatte, sammelten sich wiederum die Kriegswolken über Europas Himmel und verdichteten sich. Die blutige Revolution in Frankreich wurde auf der anderen Seite des Kanals zuerst mit nervöser Schadenfreude beobachtet – es war verständlich, daß die Engländer recht zufrieden zusahen, wie ein alter Feind von innen heraus geschwächt wurde, ohne daß es sie etwas kostete. Aber als sich die wilde Wut noch weiter ausbreitete und nach England durchsickerte, daß aus dem Durcheinander von Exekutionskommandos und blutigem Pöbelaufruhr eine neue, sogar noch stärkere Nation hervorging, da fanden sich die Männer, welche die Schrecken des Krieges kennengelernt hatten, mit der Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges ab.

Bolitho hatte sein Bett verlassen und war mit dem besorgt protestierenden Allday nach London gefahren. Die falsche Lebhaftigkeit dieser Stadt war ihm stets zuwider gewesen, ihre endlosen, schmutzigen Straßen und im Kontrast dazu die Pracht der großen Häuser der Reichen; aber er war entschlossen, notfalls auf den Knien zu bitten um ein neues Schiff. Nach wochenlangem Antichambrieren und fruchtlosen Unterredungen hatte er die Aufgabe bekommen, unter den widerwilligen Bewohnern der Städte am Medway Rekruten für die Schiffe zu werben, die jetzt endlich neu in Dienst gestellt wurden.

Vom Standpunkt der Admiralität, die eine erschöpfte Flotte erweitern und neu ausrüsten mußte, war es klug, Bolitho als Rekrutenwerber einzusetzen. Seine erfolgreichen Unternehmungen als junger Fregattenkapitän waren noch in guter Erinnerung, und im Kriegsfalle war er gerade der richtige Kommandant, um Landratten an die Unsicherheit und Härte der See zu gewöhnen. Unglücklicherweise sah Bolitho selbst die Sache weniger enthusiastisch. Irgendwie war es bezeichnend für seinen Charakter, daß er diesen Auftrag als einen Beweis mangelnden Vertrauens seiner Vorgesetzten empfand, beruhend wahrscheinlich auf seiner eben überstandenen Krankheit. Ein kranker Kapitän konnte eine Gefahr sein, nicht nur für sich selbst und sein Schiff, sondern auch für die lebenswichtige Befehlskette, deren Schwächung Verderben und Niederlage bringen konnte.

Im Januar des nächsten Jahres schwirrten den Engländern die Köpfe bei der Nachricht, daß der König von Frankreich von seinem eigenen Volke hingerichtet worden war; und ehe man den Schock verdaut hatte, erklärte der neue französische Nationalkonvent den Krieg. Es war, als sei die gesamte französische Nation toll geworden und habe das Land aus der Bahn der Vernunft geworfen. Selbst Spanien und Holland, die ehemaligen Verbündeten, hatten ebenfalls Kriegserklärungen empfangen und warteten jetzt wie England auf den ersten wirklichen Zusammenstoß.

Und so hatte die alte Hyperion fast ohne Ruhepause wieder Segel gesetzt. Erst nach Brest, und dann, wie zu erwarten, als Mitglied der Kanalflotte, welche die Blockade aufrechterhielt und die französischen Schiffe abpaßte, die dort unter den Kanonen der Küstenbatterien Schutz suchten.

Bolitho hatte sich weiter mit der Rekrutenanwerbung herumgeplagt. Die Verzweiflung darüber, daß er kein direktes Kommando bekam, trug nur dazu bei, seine Gesundheit aufs neue zu schwächen.

Endlich, als der Winter dem Frühling wich, hatte er Order erhalten, sich nach Spithead zu begeben und dort Passage nach Gibraltar zu nehmen. Und nun saß er in der Gig und tastete nach dem dicken Umschlag in seiner Brusttasche. Er gab ihm das unumschränkte Kommando über das himmelhohe Schiff da vorn, gegen das alles andere klein und bedeutungslos wurde. Schon vernahm er die schrillen Bootsmannspfeifen, das Tappen nackter Füße, das Klirren der Musketen – sein Schiff bereitete sich vor, ihn zu empfangen. Hatten sie schon auf ihn gewartet? Würden sie seine Ankunft mit Freude oder Unlust begrüßen?

Es war ein großer Unterschied, ob man das Kommando nach einem Kapitän übernahm, der befördert wurde oder in Pension ging, oder ob man eines toten Mannes Schuhe anzog.

Die Gig rundete den schweren Bug, und Bolitho blickte hoch zu der glänzenden Galionsfigur. Das ganze Schiff war neu gestrichen worden, und auch ihre Vergoldung sah frisch und sauber aus. Eine Kleinigkeit nur, aber sie zeigte, daß das Schiff gut instandgehalten wurde. Der Sonnengott Hyperion stieß seinen Dreizack vor, und seine Krone war die aufgehende Sonne selbst. Nur die beiden starren blauen Augen unterbrachen das gleichmäßige Gold. Wie viele Feinde des Königs mochten wohl durch Gischt und Pulverqualm in dieses starre Goldantlitz geblickt und Minuten später den Tod gefunden haben?

Bolitho vernahm ein erschrecktes Stöhnen, wandte den Kopf und sah Midshipman Seton auf die turmhohen Masten mit den festgemachten Segeln starren. Angst füllte sein Gesicht, seine Hand war verkrampft wie eine Vogelklaue, als er nach dem Dollbord der Gig faßte. Ruhig fragte Bolitho: »Wie alt sind Sie, Mr. Seton?«

Der Junge riß die Augen von dem Schiff los und murmelte: »S… Sechzehn, Sir.« Ernsthaft nickte Bolitho. »Nun, ich war ungefähr ebenso alt, da kam ich auf ein Schiff, das war ziemlich genauso wie dieses hier. Und im selben Jahr wurde die Hyperion gebaut.« Ein knappes Lächeln. »Wie Sie sehen, Mr. Seton, leben wir alle beide noch.«

Er sah an dem bleichen Gesicht des Midshipman, wie die Gemütsbewegungen einander jagten, und war froh, nicht erwähnt zu haben, daß es sich damals um sein zweites Schiff gehandelt hatte. Denn Bolitho war schon seit seinem zwölften Jahr zur See gefahren. Warum mochte der Vater Seton wohl so lange gewartet haben, bis er seinen Sohn zur Marine schickte?

Er reckte sich hoch. Das Boot schoß zur Fallreepspforte, eine Stimme ertönte: »Boot ahoi?«, und Allday rief durch die hohlen Hände: »Hyperion!«

Nun bestand kein Zweifel mehr, falls dem je so gewesen war. Jeder einzelne Mann an Bord wußte nun, daß der straffe Offizier mit dem goldbetreßten Hut sein neuer Kommandant war und nächst Gott der absolute Herrscher über alle auf diesem Schiff. Alle waren sie in seine Hand gegeben – er konnte jedermann auspeitschen oder hängen lassen, ebensogut aber auch Leistungen belohnen und Schwächen anprangern.

Nach dem Kommando »Riemen hoch!« faßte der Bootsmann mit dem Haken in die Großrüsten, und Bolitho brauchte seine ganze Selbstdisziplin, um reglos im Heck sitzenzubleiben. Seltsamerweise war es der seekranke Midshipman, der den Zauber brach. Er machte Miene, an der Bordwand hochzuklettern, aber Allday knurrte: »Noch nicht, junger Herr!«, und zog ihn auf seinen Sitz zurück: »Der Ranghöchste geht zuletzt ins Boot, aber zuerst hinaus, kapiert?«

Bolitho starrte auf die beiden und vergaß sie sofort. Er drückte das Gehänge fest an den Schenkel, denn einmal hatte er erlebt, wie ein neuer Kapitän über seinen Degen gestolpert und rücklings ins Boot gefallen war. Steifbeinig kletterte er das Fallreep hoch und trat durch die geschnitzte und vergoldete Schiffspforte.

Als er den Hut lüftete, war er fast überwältigt von der unmittelbaren Reaktion, die von allen Seiten, von unten und von oben, zu kommen schien. Die Ehrenbezeugung, die mit den schrillen Querflöten begonnen hatte, als sein Gesicht über der Schanz erschien, war in ein wildes Crescendo ausgebrochen, in dem er zuerst nur mit Mühe die Einzelheiten unterscheiden konnte: die Trommeln und Pfeifen des kleinen Spielmannszuges der Marine-Infanterie, das Klirren und Klappern der präsentierten Musketen und das Schwirren der gezogenen Degen vereinten sich zur Geräuschkulisse der Begrüßungszeremonie.

Irgendwie beengten ihn die scharlachroten Reihen der Seesoldaten, das Blau und Weiß der versammelten Schiffsoffiziere, die dichtgedrängten, bezopften Köpfe der Matrosen, die aus dem ganzen Schiff eiligst zusammen- und vom Dienst weggerufen worden waren.

Er hätte eigentlich darauf vorbereitet sein müssen, aber da er so lange auf Fregatten Dienst getan hatte, verwirrten ihn diese plötzlichen Menschenmassen auf einem Schiff. Doch als der erste Schreck vorbei und sein Blick rasch über die Reihen der blanken Geschütze, die frischgescheuerten Planken, das dichte Netzwerk des Riggs fuhr, wurde ihm – und vielleicht zum ersten Male – der ganze Umfang seiner neuen Verantwortung klar.

Bis zu diesem Augenblick hatte er die Hyperion nur als neue Umgebung betrachtet, in der es sich etwas anders leben würde als bisher. Jetzt, als die Spielleute plötzlich verstummten und ein großer, schlanker, ernsthaft blickender Leutnant ihm entgegentrat, begriff er, was es mit diesem Kommando wirklich auf sich hatte. Diese Erkenntnis überraschte ihn und machte ihn zugleich demütig. Der plumpe, einhundertachtzig Fuß[6] lange Rumpf der Hyperion umschloß eine völlig neue Welt. Eine merkwürdige, festumgrenzte Existenz, in der einige sechshundert Männer – Offiziere, Matrosen und Seesoldaten – zusammenlebten, arbeiteten und, wenn es sein mußte, starben, jedoch durch Dienstrang und Disziplin streng in einzelne Gruppen geschieden waren. Es war kaum verwunderlich, daß manche Kommandanten von Linienschiffen dem Bewußtsein ihrer Macht und Bedeutung erlagen.

Der schlanke Offizier beobachtete ihn gespannt, doch mit dienstlich ausdrucksloser Miene. »Leutnant Quarme, Sir«, stellte er sich vor. »Ich bin der Dienstälteste an Bord.«

Bolitho nickte. »Danke sehr, Mr. Quarme.« Er faßte in die Brusttasche und holte seine Bestallung hervor. Durch den Lärm und die plötzliche Erregung überkam ihn eine Schwäche, so daß er nach all dem Warten und Bangen der letzten Wochen auf einmal das Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein in seinem neuen Quartier empfand.

Dieser Quarme sieht wie ein tüchtiger Offizier aus, dachte er. Plötzlich stand ihm Herrick vor Augen, sein ehemaliger Erster Leutnant auf der Phalarope und der Tempest, und von ganzem Herzen wünschte er, Herrick und nicht Quarme stünde jetzt vor ihm, um ihn zu begrüßen.

Quarme schritt langsam die Reihen der Offiziere ab, Namen murmelnd, hier und da dienstliche Erläuterungen gebend. Bolithos Miene blieb dabei völlig unbewegt. Es war noch viel zu früh für Lächeln und näheres Kennenlernen. Die wirklichen Charaktere würden erst später hinter diesen starren, respektvollen Gesichtern hervortreten. Es scheint eine ziemlich durchschnittliche Kollektion zu sein, dachte er vage – aber was für eine Menge Leute gegen die paar Offiziere an Bord einer Fregatte! Er schritt die Reihe entlang, an den Leutnants und höheren Deckoffizieren vorbei bis zu den in faszinierter Spannung wartenden Midshipmen. Er dachte an den jungen Seton – was mochte der wohl von diesem ehrfurchtgebietenden Schauspiel halten? Wahrscheinlich war er völlig erschüttert.

Zwei Offiziere der Marine-Infanterie standen stramm vor den Reihen der Männer in Scharlachrot mit dem weißen, über Kreuz geschnallten Lederzeug und den silbernen Knöpfen; und im zweiten Glied standen die niederen Deckoffiziere, die Handwerker, von denen es abhing, ob ein Schiff lebte oder starb: Bootsmann, Zimmermann, Küfer und so weiter.

Bolitho fühlte den warmen Sonnenschein auf der Wange und entfaltete rasch seine Papiere. Die Leute drückten sich näher heran, um besser hören und sehen zu können; manche schlugen die Augen nieder, als er sie ansah, als ob sie Angst hätten, schon jetzt aufzufallen.

Mit klarer Stimme und unbewegt verlas Bolitho seine Bestallung, dieses Schreiben an Richard Bolitho, Esq., das von Admiral Samuel Hood unterzeichnet war und den Befehl enthielt, das Kommando über Seiner Britannischen Majestät Schiff Hyperion zu übernehmen. Die meisten Männer hatten derlei Bestallungen schon öfter gehört, doch als er die knappen, dienstlich-formellen Sätze verlas, war ihm die tiefe Stille bewußt, die ihn umgab. Als hielte das ganze Schiff den Atem an.

Bolitho rollte seine Papiere zusammen und steckte sie wieder in die Brusttasche. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Allday sich langsam zum Achterdecksniedergang hinschob. Nach alter Gewohnheit hielt er sich auch hier den Rückzug vor lästigen Formalitäten und Unbequemlichkeiten offen.

Trotz der über die Finknetze scheinenden Sonne fühlte sich Bolitho leicht schwindlig, und ein Frösteln überlief ihn unvermittelt. Doch er biß die Zähne zusammen und zwang sich, völlig reglos stehenzubleiben. Dies war ein kritischer Moment. Der Eindruck, den er jetzt auf die Männer machte, konnte eines Tages ihr Schicksal entscheiden – und seines auch. Scheußlich, wenn er jetzt einen Fieberanfall bekäme und alle Zeugen seiner demütigenden Schwäche würden! Überraschenderweise gab ihm diese Vorstellung seine innere und äußere Festigkeit zurück.

Er hob die Stimme. »Ich will Sie nicht länger vom Dienst abhalten, denn es gibt viel zu tun. Die Trinkwasserboote werden gleich längsseits kommen, denn ich beabsichtige, diesen günstigen Wind zu nutzen und heute nachmittag Segel zu setzen.« Er sah die beiden Leutnants rasche Blicke tauschen und fuhr in härterem Ton fort: »Meine Segelorder besagt, daß ich mich mit diesem Schiff unverzüglich dem Geschwader Lord Hoods vor Toulon anzuschließen habe. Sobald wir dort sind, werden wir uns die größte Mühe geben, den Feind in seinen Häfen festzuhalten. Und wenn irgend möglich, werden wir ihn zu stellen und zu vernichten suchen.«

Ein leises Murmeln ging durch die dichtgedrängten Reihen, und Bolitho erriet, daß viele hoffnungsvolle Seelen bis zum letzten Moment, auch noch als das Schiff von der Brest-Blockade abgezogen und nach Gibraltar beordert worden war, geglaubt hatten, die Hyperion würde nach Hause segeln. Seine Worte, seine neue Bestallung hatten diese Hoffnung zerschlagen. Jetzt, mit dem ersten Stück windgefüllter Leinwand, würde jede Meile, die der algenbewachsene Kiel verschlang, sie noch weiter von England weg führen. Und für manchen wurde es bestimmt eine Reise ohne Wiederkehr.

Etwas ruhiger sprach er weiter: »England liegt im Kriege mit einem Tyrannen. Wir brauchen jedes Schiff und jeden loyalen Mann, um ihn zu stürzen. Jeder gebe sein Bestes. Ich für mein Teil will das ebenfalls tun.«

Mit einem kurzen Nicken drehte er sich auf dem Absatz um. »Machen Sie weiter, Mr. Quarme. Teilen Sie Leute zur Wasserübernahme ein, und sorgen Sie dafür, daß der Zahlmeister reichlich frisches Obst an Bord nimmt.« Er blickte über die nebeldurchzogene Bai nach Algeciras hinüber. »Da wir ja neuerdings mit Spanien verbündet sind, sollte das nicht allzu schwer fallen.«

Der Erste Offizier faßte an den Hut. Dann rief er aus: »Drei Hurras für König George!«

Langsam schritt Bolitho nach achtern. Er fühlte sich ausgelaugt und eisig kalt. Die Hurras waren zwar rasch genug gekommen, aber sie klangen mehr wie eine Pflichtübung, ohne echtes Gefühl.

Er stieg die Stufen hinauf und schritt über das geräumige Achterdeck. Als er unter der Kampanje den Kopf einzog, sagte Allday gemächlich grinsend: »Ist nicht nötig, daß Sie sich bücken, Captain. Hier haben Sie reichlich Platz.«


Richard Bolitho schob die Papiere auf seinem Tisch etwas beiseite und lehnte sich zurück, um die Augen auszuruhen. Er blickte auf seine Taschenuhr und merkte überrascht, daß er fast sechs Stunden lang pausenlos über den Schiffsbüchern und Berichten gebrütet hatte, wobei sich sein geschäftiger Geist die ganze Zeit der Geräusche draußen und oben an Deck bewußt gewesen war. Mehr als einmal war er versucht gewesen, seine konzentrierte Arbeit zu unterbrechen und in die Sonne hinauszugehen, sei es auch nur, um sich zu überzeugen, daß der Bordbetrieb normal ablief; aber jedesmal hatte er sich dazu gezwungen, sitzenzubleiben und mit dem Studium der Schiffsangelegenheiten fortzufahren.

Zeit und Erfahrung würden ihm zeigen, wo die wirklichen Stärken und Schwächen seines neuen Schiffes lagen; schon in diesen paar Arbeitsstunden in seinem Quartier hatte er sich im Geiste ein brauchbares Bild gemacht. Nach allem, was er gelesen und überprüft hatte, schien die Hyperion unter dem verstorbenen Kommandanten Turner das normalste Schiff gewesen zu sein, das man sich nur vorstellen konnte. Das Strafbuch, das sich Bolitho zuerst angesehen hatte – seiner Erfahrung nach der sicherste Maßstab für einen Kapitän und seine Schiffsführung –, wies die übliche Liste kleiner Vergehen auf; Auspeitschungen und Degradierungen gab es nicht mehr, als normalerweise zu erwarten waren. Während der Stationierung in Westindien hatte es mehrere Todesfälle durch Fieber und Unfälle gegeben (meist auf Unvorsichtigkeit zurückzuführen). Auch die Logbücher wiesen nichts Besonderes auf.

Stirnrunzelnd lehnte sich Bolitho noch weiter im Stuhl zurück. Das war alles so normal, sogar langweilig für ein Schiff mit der kriegerischen Vergangenheit der Hyperion, daß es den Eindruck einer gewissen Lässigkeit machte.

Wieder sah er sich in seinem neuen Quartier um, als wolle er sich ein schwaches Abbild des früheren Bewohners verschaffen. Es war, fand er, eine geräumige, sogar elegante Kajüte und im Vergleich zu der kargen Enge an Bord einer Fregatte der reine Palast. Der Salon, in dem er saß, nahm die ganze Breite des Hecks ein und maß über dreißig Fuß von einer Wand zur anderen; die hohen Heckfenster, unter denen der geschnitzte Schreibtisch stand, schimmerten im Abendlicht und umrahmten das farbenprächtige Panorama des weiträumigen Hafens mit seinen vielen vor Anker liegenden Schiffen.

Es gab noch einen ebenso großen Speiseraum, und an den beiden Schmalseiten je einen kleineren abgetrennten Verschlag: das Schlafkabinett und die Kartenkammer.

In plötzlichem Impuls stand Bolitho auf und ging zu dem Eßtisch aus Mahagoni hinüber. Er hatte sechs Ausziehplatten; Turner schien gern Gäste bei sich gesehen und sie großzügig bewirtet zu haben. Alle Stühle, auch die lange Sitzbank unter den Heckfenstern, waren mit feinem grünem Leder bezogen; und über dem üblichen Bodenbelag aus schwarz-weiß karierter Leinwand lag ein üppiger Teppich – mit dem Geld, das er gekostet hatte, konnte man mehrere Monate lang die Heuer einer Fregattenbesatzung bestreiten, schätzte Bolitho.

Er versuchte sich einzureden, seine innere Spannung, die nicht weichen wollte, beruhe eher auf mangelndem Selbstvertrauen als auf realen Ursachen.

Er starrte sein Bild im Kajütspiegel an, sah die Falten auf der Stirn, die Schweißflecken auf dem Hemd. Automatisch strich er die schwarze Strähne aus der Stirn; dabei rührten seine Finger an die tiefe Narbe, die von der Braue schräg nach oben bis zum Haaransatz verlief. Ein seltsamer Gedanke, daß die Hyperion damals in nur wenigen Meilen Entfernung vorbeigesegelt war, als jenes Entermesser ihn niederstreckte und für den Rest seines Lebens zeichnete.

Ein nervöses Klopfen an der Tür, und ehe Bolitho antworten konnte, ging sie auf, und ein schmalschultriger Mann in einfachem blauem Rock kam mit einem Silbertablett herein.

Bolitho blickte ihm unwillig entgegen. »Was ist?« Der Mann schluckte mühsam. »Mein Name ist Gimlett, Sir. Ich bin Ihr Kajütsteward, Sir.« Er hatte eine piepsige Stimme, und bei jeder Silbe bleckte er große vorstehende Zähne wie ein verängstigtes Kaninchen.

Bolitho bemerkte, wie die Augen des Mannes zu einem Seitentischchen glitten, auf dem er sein zweites Frühstück angerichtet hatte. Es war noch unberührt. Bolitho hatte es, was der armselige Gimlett nicht wußte, überhaupt nicht bemerkt. Sein Ärger über die Störung legte sich etwas. Die Angst auf dem Gesicht des Mannes war durchaus echt. In der Flotte kursierte das Gerücht von einem jähzornigen Kapitän, der seinen Steward auspeitschen ließ, nur weil dieser einen Becher Kaffee verschüttet hatte.

Gimlett sagte: »Wenn das Frühstück nicht nach Ihrem Geschmack war, Sir, dann werde ich …«

»Ich hatte keinen Hunger.« Das stimmte zwar nicht, war jedoch ein brauchbarer Kompromiß. »Aber danke, Gimlett, daß Sie daran dachten.« Auf einmal interessierte ihn dieser Steward. »Haben Sie Captain Turner lange gedient?«

»Jawohl, Sir.« Gimlett trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Und er war ein guter Herr, Sir. Sehr rücksichtsvoll, wirklich.«

»Sie stammen wohl aus Devon?« fragte Bolitho mit flüchtigem Lächeln.

»Aye, Sir. Ich war Erster Pferdeknecht im ›Goldenen Löwen‹ in Plymouth, habe aber bei Captain Turner angeheuert, um meinem Vaterland besser zu dienen.« Doch da fiel sein Blick auf den Stoß Papiere auf Bolithos Tisch, und er sprach hastig weiter: »Also – ich hatte ein bißchen Ärger mit einem Zimmermädchen, Sir. Da war’s schon besser so.«

Bolithos Lächeln wurde breiter. Anscheinend fürchtete Gimlett, sein früherer Herr könnte irgendwo den wahren Grund seines Anheuerns schriftlich niedergelegt haben. »So waren Sie also mit Captain Turner nur in Westindien? Und nicht mit ihm an Land, bei ihm zu Hause?« Die letzte Frage stellte er, weil Gimlett ihn so verständnislos ansah.

»Nein, Sir.« Seine Augen huschten durch die geräumige Kajüte. »Dies hier war sein Zuhause, Sir. Er hatte keine Familie, bloß das Schiff.« Wieder schluckte er, als habe er schon zuviel gesagt. »Kann ich abräumen, Sir?«

Bolitho nickte nachdenklich und trat wieder ans Fenster. Das war die bisher beste Erklärung. Unter Turner war die Hyperion eine schwimmende Behausung geworden, eher ein Lebensraum als ein Kriegsschiff. Und ihre Besatzung, seit drei Jahren ohne Feindberührung oder sonstige große Härten fern von England, war vermutlich ebenso unvorbereitet auf die Anforderungen, die Blockade und Krieg an sie stellen würden.

Zweimal im Lauf des Tages war Quarme, der Erste Offizier, bei Bolitho gewesen, um zu melden, wie es voranging. Auf Bolithos beiläufige Fragen hatte er mehr oder weniger zugegeben, daß Turner zwar ein guter Kapitän gewesen war, aber keine Initiative entwickelt hatte. Jedoch war es schwierig herauszufinden, was Quarme wirklich dachte. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ruhig, verschlossen, und machte den Eindruck eines Mannes, der auf seine Chance wartete. Daran mochte er durchaus recht tun – überall wurden Schiffe in Dienst gestellt, und es gab bereits Ausfälle durch Tod und Verwundung. Wenn nichts dazwischenkam, konnte Quarme noch in diesem Jahr ein eigenes kleines Kommando erhalten. Bolitho war zuerst stutzig geworden, weil Turner keine Beurteilung des Leutnants hinterlassen hatte, die ihn für dergleichen qualifizierte. Inzwischen aber hatte er sich ein Bild von seinem Vorgänger gemacht, und es begann ihm zu dämmern, daß Turner wahrscheinlich gewünscht hatte, das Schiff und alles an Bord, einschließlich der Offiziere, möge so bleiben, wie es war. Eine einleuchtende, aber egoistische Haltung.

Es gab noch einen weiteren Faktor in Turners Persönlichkeit, der ihm zu schaffen machte. Unter den privaten Papieren, die Quarme nach Turners Tod geöffnet hatte, fand sich so etwas wie ein Testament. Es enthielt ein paar Legate an einige entfernte Verwandte – aber was Bolitho auffiel, war das sauber geschriebene Kodizill am Schluß: »… und dem nächsten Kommandanten dieses Schiffes hinterlasse und vermache ich alle meine Möbel und Ausrüstungsgegenstände, meinen Weinvorrat und meine persönliche Habe in der aufrichtigen Hoffnung, daß er alles auch weiterhin zu seinem und des Schiffes Nutzen verwenden möge.«

In der Tat ein merkwürdiges Vermächtnis. Erst wollte Bolitho alles durch Allday einpacken und in die Garnison bringen lassen. Aber dann hatte er es sich anders überlegt, denn in seiner Ungeduld, zur Hyperion zu stoßen, hatte er England in höchster Eile verlassen und führte – abgesehen von seinen Uniformen und einigen wenigen privaten Habseligkeiten – nichts mit sich, was das Leben an Bord eines Linienschiffes erleichtern konnte. Nun, während er sich in der großen Kajüte umsah, war er doch nicht ganz mit dieser Lösung zufrieden. Es war, als hätte er Turner, indem er auf dessen ausgefallenen Wunsch einging, die Möglichkeit gegeben, noch an Bord zu bleiben. Er mochte tot und bestattet sein, aber hier in der Kapitänskajüte schien das Gedenken an ihn fast in der Luft zu hängen, als sei er noch persönlich gegenwärtig.

Wieder klopfte es, und diesmal war es Quarme. Er trug den Hut unterm Arm, und über seine dienstlich-gemessene Miene spielten Sonnenreflexe. »Offiziere wie befohlen in der Messe versammelt, Sir«, meldete er. Noch während er sprach, wurden an Deck vier Glasen[7] der Nachmittagswache angeschlagen – er mußte wohl draußen vor der Tür auf den richtigen Moment gewartet haben.

»Recht so, Mr. Quarme. Ich bin bereit.« Er nahm den Uniformrock von der Stuhllehne, rückte die Halsbinde zurecht und zog ihn an. »Ich bin mit dem Logbuch fertig, Sie können es mitnehmen.«

Quarme antwortete nicht, sondern blickte auf den alten Degen, der am polierten Schott hing. Alldays erste Handlung war es gewesen, ihn dort aufzuhängen; und als Bolitho den Blicken Quarmes folgte, dachte er an seinen Vater und Großvater. Selbst im hellen Sonnenlicht sah der Degen schwärzlich und alt aus. Doch auch wenn er nichts anderes von Falmouth mitgebracht hätte als diesen Degen, wäre ihm der mehr wert gewesen als alles, was er sonst besaß. Halb und halb erwartete er, daß Quarme eine Bemerkung machen würde. Herrick hätte das getan. Aber diese Vergleiche waren unnütz. Kalt befahl er: »Gehen Sie voran, bitte!«

Seit seinem allerersten Kommando, der winzigen Schaluppe Sparrow, hatte Bolitho immer darauf geachtet, daß er seine Offiziere so bald wie möglich näher kennenlernte. Während er jetzt hinter Quarme auf das Achterdeck hinaustrat und die breite Stiege zum Hauptdeck hinunterschritt, fragte er sich, wie seine neuen Untergebenen beschaffen sein würden. Jedesmal befiel ihn bei solchen Anlässen eine gewisse Nervosität, obwohl er sich oft genug gesagt hatte, daß gespannte Erwartung viel eher Sache der anderen war.

Die Offiziersmesse lag direkt unter seiner eigenen Kajüte; wie dort liefen die Heckfenster über die ganze Breite des Raumes. Aber an den Wänden lagen winzige Schlafkammern, und in den Ecken standen dicht an dicht Seekisten und alles mögliche, was zur persönlichen Ausrüstung der einzelnen gehörte. Auch zwei Geschütze der oberen Batterie von Zwölfpfündern befanden sich im Raum; und Bolitho empfand eine flüchtige Befriedigung darüber, daß seine eigenen Räume nicht wie dieser hier aus- und umgeräumt werden mußten, wenn »Klar Schiff zum Gefecht« befohlen wurde; dabei gab es immer ein furchtbares Durcheinander, und manches ging zu Bruch.

Die Messe war ziemlich voll, die Anwesenden mußten stehen, denn Bolitho hatte ausdrücklich befohlen, daß außer den fünf Leutnants und den Offizieren der Marine-Infanterie auch die Midshipmen und höheren Deckoffiziere anwesend sein sollten. Diese letzteren bildeten, wie er aus hart erworbener Erfahrung wußte, das wahre Bindeglied zwischen Achterdeck und Mannschaftslogis.

Er setzte sich ans obere Ende des langen Tisches und legte den Hut auf die zusammengerollte Karte. »Setzen Sie sich, meine Herren, oder bleiben Sie stehen – ganz nach Belieben. Meinetwegen brauchen Sie Ihre Gewohnheiten nicht zu ändern.« Höfliches Gelächter – der Kommandant war genaugenommen nur Gast in der Offiziersmesse; was passieren würde, wenn man ihm diese Gastfreundschaft versagte, war jedoch eine andere Frage. Bolitho rollte die Karte auf und war sich dabei bewußt, daß aller Augen mehr an ihm als an der Karte hafteten.

»Wie Sie vorhin gehört haben, sollen wir zu Lord Hood stoßen. Es gibt in Toulon gewisse Elemente – Franzosen zwar, doch strikt gegen die gegenwärtige revolutionäre Regierung die mit einiger Nachhilfe durchaus einen Umsturz einleiten könnten. Wenn wir unsere Stärke zeigen und jede Gelegenheit nutzen, um den Schiffsverkehr des Feindes zu schädigen, haben wir eine Chance, diese Situation zu fördern.« Er schaute auf und sah das blasse Gesicht des kleinen Seton, von den Schultern zweier Offiziere eingerahmt. Gleichmütig fuhr er fort: »Etwa Mitte Juni wird Lord Hood genügend Kräfte versammelt haben, um all das zu ermöglichen. Jedes Schiff wird gebraucht. Daher ist es von grundlegender Wichtigkeit, daß jeder einzelne Offizier sein Äußerstes tut, um den Ausbildungsstand und damit die Kampfbereitschaft zu verbessern.« Sein Blick überflog die gespannten Gesichter. »Vermutlich werden wir in nächster Zeit keine Gelegenheit haben, unsere Fehlstellen aufzufüllen – ist das klar?«

Leise sagte Quarme: »Ich glaube, der Zweite Offizier hat eine Frage, Sir.«

Bolitho blickte hinüber zu einem müde und gelangweilt dreinschauenden Offizier, der auf einer Seekiste saß. »Ihr Name ist mir entfallen«, sagte er.

Der Leutnant sah ihm kühl ins Gesicht. »Sir Philip Rooke, Sir.« Sein Ton klang keinesfalls aufsässig, trotzdem konnte Bolitho die Herausforderung in den blassen Augen des Leutnants erkennen.

»Ja, Mr. Rooke, und Ihre Frage?« Bolithos Stimme war ebenso unbewegt.

Gleichmütig erwiderte Rooke: »Wir sind jetzt drei Jahre auf See. Das Unterwasserschiff ist grasgrün und die Hyperion so langsam wie eine alte Kuh.« Ein zustimmendes Murmeln ließ sich hören, und Rooke fuhr fort: »Captain Turner war davon überzeugt, daß wir vor Brest abgelöst und noch in diesem Monat nach Portsmouth zurücksegeln würden.«

Bolitho musterte ihn nachdenklich. Rooke war also der erste, der die Maske fallenließ. Trocken erwiderte er: »Captain Turner ist tot. Aber ich bin davon überzeugt, er hätte sich auf keinen Fall die Chance entgehen lassen, mit der Hyperion seine Pflicht zu tun.«

Rowlstone, der Schiffsarzt, ein kleiner, ungesund aussehender Mann mit tiefgefurchtem, talgweißem Gesicht, sprang auf. »Ich habe getan, was ich konnte, Sir! Er starb an Herzversagen.« Mit wilden Augen blickte er sich um. »An seinem Schreibtisch! Ich konnte ihm nicht mehr helfen, verstehen Sie?«

Rooke starrte ihn wütend an. »Was wissen Sie denn, Mann? Sie sind doch eher ein Schlächter als ein Arzt!«

Ashby, der Hauptmann der Marine-Infanterie, zog den Bauch ein und schnippte ein Stäubchen von seiner handschuhengen Uniform. »Kommandant Turner war ein guter Mann. Wir vermissen ihn alle, jawohl.« Er sah Bolitho fest ins Gesicht. »Bin aber Ihrer Ansicht, Sir. Wir haben schließlich Krieg. Äh – Hauptsache: kämpfen. Jawoll.«

»Danke, Captain Ashby«, lächelte Bolitho trocken. »Das ist sehr beruhigend.«

Dann blickte er hinüber zu Gossett, dem Segelmeister und Steuermann[8]. Der war ein Kerl wie ein Faß, und obwohl er am Tisch saß, war sein Kopf fast in gleicher Höhe mit dem des verzweifelten Schiffsarztes, der immer noch stand. »Und Sie, Mr. Gossett? Was ist Ihre Meinung?«

Gossett legte die Fäuste auf die polierte Tischplatte und blickte sie nachdenklich an – sie waren auch ein Anblick: wie zwei Schinkenknochen. Mit tiefer Stimme antwortete er: »Wir haben einen tüchtigen Vorrat an Spieren und Segeln, Sir. Sie mag ja ein alter Kasten sein, aber sie kann immer noch mit besseren und jüngeren Fahrzeugen mithalten.« Er grinste so breit, daß die kleinen blanken Augen fast im gebräunten Gesicht verschwanden. »Ich hab mal so’n alten Vierundsiebziger aus ’ner Schlacht rausgesegelt, mit nur einem Mast, und das ganze untere Geschützdeck vollgeschlagen!« Er gluckste, als wäre das ein riesiger Spaß gewesen. »Die Frogs[9] werden uns bereit finden, wenn sie in Reichweite kommen, Sir!«

Bolitho erhob sich. Er hatte den Topf zum Kochen gebracht, und die nächsten Tage würden ihm mehr über diese Männer verraten. »Schön, meine Herren«, sagte er knapp. »Der Wind kommt immer noch frisch aus Nordwest. Segelsetzen in einer Stunde.« Er sah zu Quarme hinüber. »Lassen Sie ›Alle Mann‹ pfeifen, und machen Sie klar zum Ankerlichten. Wir haben neunhundert Meilen vor uns, bis wir das Geschwader sichten. Nutzen Sie die gut aus!« Er blickte im Kreis herum. »Sie alle!«

Die Messe begann sich zu leeren. Er schritt rasch zu dem sonnengebleichten Achterdeck hinauf. Er wußte nicht warum, aber es war ein schlechter Anfang gewesen. Vielleicht litt er noch unter dem Fieber, vielleicht war er auch einfach müde vom langen Hoffen und Harren. Aber andererseits war es auch möglich, daß er für ein Schiff wie die Hyperion noch gar nicht reif war.

Er verhielt einen Augenblick und starrte in die turmhohen Masten und auf die winzigen Gestalten, die wie sorglose Affen dort oben herumwerkten.

Allday kam übers Deck. »Ich habe Gimlett gesagt, daß er Ihr Seezeug rauslegt, Captain.« Er atmete tief ein und fuhr fort: »Ich bin froh, daß ich wieder auf einem Schiff segele. Ich hatte ein bißchen die Nase voll von den Hügeln – jeden Tag derselbe Anblick!«

Bolitho fuhr herum, aber er beherrschte sich. Es wäre zu billig gewesen, den Ärger und seine Müdigkeit und die unbefriedigende Dienstbesprechung an Allday auszulassen.

»Wenigstens werden die Frauen in Falmouth eine Weile vor Ihnen Ruhe haben, Allday!«

Der Bootsmann sah Bolitho nach, bis dieser unter der Kampanje verschwunden war, und grinste dann übers ganze Gesicht. »Der braucht keine Angst zu haben. Er hat sich nicht verändert, und so leicht wird ihn auch nichts ändern!« Dann lehnte er sich gegen die Finknetze und starrte über die Bucht auf die verankerten Schiffe.