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Jo Zybell

Lennox und die Erben der Menschheit: Das Zeitalter des Kometen #6

Lennox und die Erben der Menschheit: Das Zeitalter des Kometen #6


von Jo Zybell


Der Umfang dieses Buchs entspricht 142 Taschenbuchseiten.


Auf der Erde hat ein Kometeneinschlag die Zivilisation vernichtet. Tim Lennox und seine Gefährten müssen um ihr Überleben kämpfen.

Die wenigen Einwohner der Communities London und Salisbury kämpfen um ihr Überleben und betrachten Tim Lennox als willkommene Verstärkung, auch wenn Marrela nur unter Misstrauen akzeptiert wird. Er stellt verblüfft fest, dass der technische Fortschritt regelrechte Quantensprünge gemacht hat. Doch ein Angriff der bestens ausgerüsteten Nordmänner stellt die Bevölkerung vor große Probleme. Was nutzen gute Waffen, wenn es nicht genug Leute gibt, sie zu bedienen?



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Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1

Ein Tier schrie anders. Nicht so gellend, nicht so lang anhaltend. Das waren die Schreie eines Menschen in Todesnot!

Im Laufschritt pflügte Fanlur durch das Schilf. Bis über die Knöchel versanken seine Stiefel im sumpfigen Boden. Wulf setzte in weiten Sprüngen an ihm vorbei. Bald sah Fanlur nicht einmal mehr den weißen Schweif seines Lupas vor sich.

Schlagartig lichtete sich das mannshohe Schilf, und Fanlur stand bis zu den Knien im Uferwasser. Am anderen Ufer der Themse ragten Ruinentürme auf, und mitten im Fluss erhob sich das Skelett eines Brückenfragments. Gut dreißig Schritte vom Ufer entfernt sah er Wulfs weißes Fell – er schwamm auf ein Kanu in der Flussmitte zu. Einer der drei Menschen darin war es, der so panisch schrie.

Fanlur setzte sein Binokular an die Augen. Der Schreihals war ein Junge, fünf oder sechs Jahre alt. Und er hatte Grund zu schreien: Der Fluss entlang des Bootsrandes schien zu brodeln. Wasser spritzte, Fontänen schossen in die Luft, massige dunkle Körper wurden für Augenblicke sichtbar; Reptilien, Fische – Fanlur konnte es nicht erkennen, zu blitzartig tauchten sie aus den Fluten auf, zu schnell verschwanden sie wieder darin. Zwei Männer versuchten den Angriff abzuwehren. Der eine stand aufrecht am Bug und stach mit einem Speer ins Wasser, der andere kniete im Kanu und schwang ein kurzstieliges Beil.

„Zurück!“, brüllte Fanlur dem Lupa hinterher. Er zoomte die Szene heran. Der Junge kauerte im Heck des Kanus, die Schultern hochgezogen, Knie und Schenkel gegen die Brust gepresst, die Hände auf den Wangen, als wollte er seine verzweifelten Schreie festhalten.

Die Männer waren in hellbraune Wildlederwesten gehüllt. Ihr zu Zöpfen geflochtenes Langhaar flatterte um bärtige Gesichter, während sie nach den rätselhaften Angreifern stachen oder hieben.

Etwas schoss aus dem Wasser, schlang sich um die Hand des Beilkämpfers und riss ihn auf den Bootsrand herab. Vergeblich versuchte er seinen Arm von der Schlinge zu befreien – das klebrige rote, riemenartige Ding zog sich nur noch fester zusammen. Dann schnellten zwei Hände aus dem Fluss – schmutzig-grün und Schwimmhäute zwischen den langen Fingern –, fuhren in die Haare des armen Kerls und zerrten ihn ins Wasser. Das Kanu drohte zu kentern. Die Schreie des Jungen schraubten sich in höchste Tonlagen.

Dann eine Wasserfontäne, ein schmutzig-grüner Körper sprang mitten ins Kanu, groß wie Fanlurs Lupa – eine Riesenkröte! Fanlur ließ das Binokular los und riss seinen Laserbeamer von der Schulter. Der Lupa war noch etwas mehr als einen Speerwurf weit vom Boot entfernt. Gleißend weiß schoss der Zielstrahl über das Wasser und erfasste die Kröte. Dann der Blitz der Energiekaskade aus dem unteren Lauf. Eine zweite, glühende Haut schien um das Tier zu wachsen; es schwoll an, sein Körper warf Blasen, und endlich zerplatzte es. Teile seines kochenden Gewebes zischten, eine Rauchwolke hinter sich herziehend, durch die Luft und klatschten ins Wasser.

Der Junge verstummte. Der Schock schien ihm den Atem zu rauben; wie erfroren hockte er im Heck des Kanus. Sein Begleiter stieß den Speer rechts und links des Bootes ins brodelnde Wasser. Hinter ihm klammerten sich amphibische Pranken am Bootsrand fest, ein platter schwarz-grüner Krötenkopf schnellte aus dem Fluss, etwas Rotes, Schmales schoss aus seinem Maul – eine Zunge. Fanlur drückte den Knopf für die Laseroptik, doch bevor der dünne Zielstrahl den Kopf der Kröte erfasste, tauchte die Bestie wieder unter – und zog den zweiten Mann in den Fluss. So schnell, dass er kaum zum Schreien kam.

„Wulf! Bleib dem Boot fern!“, brüllte Fanlur. Doch der Lupa schien ihn nicht zu hören. Zielstrebig schwamm er dem Kanu entgegen. Der Jagdtrieb beherrschte ihn, und die Gewohnheit, kleine und geschwächte Menschen zu beschützen. Das hatte Fanlur ihm antrainiert – jetzt würde es den Lupa womöglich das Leben kosten.

Wieder begann der Junge zu schreien. Das Kanu schaukelte hin und her. Einen Wasserschleier mit sich reißend, sprang eine besonders große Kröte ins Boot. Sie überragte den Jungen um mehr als eine Elle. Fanlur reagierte blitzschnell: Zielstrahl, Abzugstaste, Energieblitz – die Kröte quoll auf und zerplatzte.

Doch sofort griffen zwei Paar Schwimmklauen aus den Fluten nach dem Bootsrand. Sie rüttelten an dem Kanu

Sind sie intelligent?, schoss es Fanlur durch den Kopf. Es sah tatsächlich so aus, als wollten sie gezielt das Kanu zum Kentern bringen. Er legte die Waffe an und schätzte gleichzeitig die Entfernung zwischen Wulf und dem Boot – weniger als zwanzig Meter. Außer den beiden Kröten am Bootsrand waren keine weiteren Angreifer mehr zu sehen.

Der Ziellaser bohrte sich ins Wasser, eine der Kröten glühte auf und platzte. Die zweite ließ los und tauchte ab.

„Nimm das Paddel!“, rief Fanlur. „Nimm das Paddel, und versuch hierher ins Schilf zu kommen!“ Der Junge reagierte nicht, obwohl Fanlur die englische Sprache benutzte. Er wusste, dass die Stämme in den Ruinen Londons Hoch-Englisch zumindest teilweise verstanden.

Er verlegte sich auf Gesten und winkte den Jungen heran. Endlich beugte sich dessen kleiner Körper ins Kanu hinein und tauchte mit einem Paddel wieder auf. Es war fast doppelt so lang wie er selbst. Kaum konnte er es halten – trotzdem gelang es ihm, das Kanu zu drehen. Bug voran nahm es Fahrt auf. Wulf schwamm noch dreißig Schritte entfernt und näherte sich dem Jungen rasch.

Plötzlich begann das Kanu zu schwanken. Fanlur musste das Binokular ansetzen, um die Krötenpfoten hinter dem Jungen am Heckrand zu entdecken. Als wollte sie das Kanu zwischen sich und Fanlur bringen, griff die Bestie von hinten an. Fanlur ließ den Laserbeamer sinken – zu gefährlich; der Junge befand sich direkt in der Schussbahn.

Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite. Der Junge ließ das Paddel los. Schreiend stürzte er in den Fluss, tauchte unter, tauchte auf, verschwand erneut unter Wasser, und dann war der Lupa bei ihm. Er schwamm an seiner Seite, und der Junge griff in sein langes Zottelfell. Die Wasseroberfläche wölbte sich, untertassengroße Augen wurden sichtbar, ein flacher Kopf, ein breites Maul, das sich öffnete und dem Lupa die rote Zunge entgegenschleuderte.

Fanlur riss den Laserbeamer hoch – doch zu spät: Die Zunge schlang sich um Wulfs Nacken. Wieder erklangen die Schreie des Jungen, kläglicher diesmal und unterbrochen von Prusten und Keuchen – es gelang ihm kaum noch, sich über Wasser zu halten.

Wulfs Kopf fuhr herum, und sein Raubtiergebiss schnappte nach der Zunge. Er biss sie glatt durch. Wulf setzte nach, erwischte das Biest im kurzen Nacken. Er und die Kröte versanken in den Fluten. Der Junge schlug mit den Armen um sich und drohte jeden Moment abzusaufen. Fanlur war zum Zuschauen verurteilt – er konnte weiter nichts tun, als den Ziellaser um den zappelnden Jungen kreisen zu lassen – für den Fall, dass Wulf den Kampf verlor oder dass sich weitere Kröten näherten.

Doch die Fänge des Lupas gaben die Kröte nicht mehr frei. Ihr großer Körper hüpfte im Wasser auf und ab – Fanlur konnte die langen dunkelgrünen Beine und die flossenförmigen Füße sehen. Sie zerrte an Wulfs Fell, stemmte sich mit den Flossen gegen seine Flanken, ihr breites Maul öffnete und schloss sich, schnappend zunächst, und dann immer träger und seltener, und ihre Bewegungen wurden schwächer und schwächer. Schließlich erschlaffte sie ganz.

Der Lupa ließ den Kadaver los und schwamm zu dem Jungen. Der schlang beide Arme um Wulfs Hals. Nach ein paar vergeblichen Versuchen schaffte er es, sich halb auf den Rücken des mutierten Wolfs zu schieben. Viel mehr als Ohren und Schnauzenspitze sah Fanlur nicht von seinem Gefährten, als der den Jungen in Richtung Schilf trug.

Fanlur schulterte den Laserbeamer und watete durchs seichte Uferwasser, bis es ihm bis zu den Hüften reichte. Fast doppelt so lange brauchte der Lupa für den Rückweg. Aber Fanlur wusste, dass er es schaffen würde.

Auch ihn selbst hatte der Lupa drei Tage zuvor an ein rettendes Ufer gezogen. An die Südküste Britanas. Eine gewaltige Flotte der Nordmänner hatte seinen Steamer beschossen und vermutlich versenkt. Fanlur war überzeugt davon, dass seine Gefährten längst tot waren. Zwei waren vor seinen Augen von detonierenden Kanonenkugeln zerfetzt worden. Von der Steilküste aus hatte Fanlur gesehen, wie die Nordmänner den havarierten Steamer geentert hatten. Er kannte das Mordvolk aus dem Norden: Sie pflegten keine Gefangenen zu machen. Sie nannten sich selbst Disuuslachter – Götterschlächter.

Der Lupa näherte sich seinem Herrn. „Tapfer, mein Freund“, lobte Fanlur. Er griff nach dem Jungen und nahm Wulf die Last ab. In großen Sprüngen legte der Lupa die letzten Schritte zurück. Sein langes Fell war schwer von Wasser. An Land schüttelte er es aus.

Fanlur trug den entkräfteten Körper des Jungen bis zum Waldrand. Dort legte er ihn ins Gras. „Wie heißt du?“, fragte er ihn. Nur ein undeutliches Krächzen drang aus dem kleinen Mund.

Fanlur ließ ihm Zeit. Er setzte sich neben ihn und zog ihm die nasse Lederkutte aus. Der schmächtige Körper bibberte. Fanlur streifte seine braune Lederweste ab, zog sein graues Hemd aus und hüllte das Kerlchen in den trockenen Leinenstoff. „Verschnauf erst einmal.“

Es dauerte seine Zeit, aber bald kam der Junge wieder zu Kräften. Zaghaft streckten sich seine Ärmchen aus, um Fanlurs Laserbeamer zu betasten. „’n Feuawoa“, krächzte er ehrfürchtig. „Bisse vonne Maulwöafe?“

„Gibt’s hier Maulwürfe mit Feuerrohren?“, lächelte Fanlur. Dann begriff er: Der Junge sprach von den Technos. „Ich bin ein Freund von ihnen“, sagte er schließlich. Keine leicht verdauliche Auskunft für den Knaben. Er machte ängstliche Augen und rückte sogar ein Stück von dem großen weißhäutigen Mann mit dem langen Grauhaar ab.

Fanlur wusste, dass der Junge zu den Barbaren gehörte, die in den Ruinen Landáns lebten. Allein die Tatsache, ihn und seine Begleiter hier an der Themse zu finden, sprach dafür. Und dann noch die gelbliche Haut und das verwaschene Englisch des Kerlchens – es war die Sprache der Socks. Oder der „Lords“, wie die Barbaren von Landán sich selbst nannten. Oder nein – „Loads“ nannten sie sich, um ganz genau zu sein: Sie konnten kein „R“ aussprechen.

Fanlur hatte seine Kindheit in Britana verbracht. Vier Tagesmärsche weiter südwestlich zwar, aber er war in jenen Jahren zweimal in den Ruinen von Landán gewesen.

„Dankdankdank“, murmelte der Junge. Er richtete sich auf und legte seine Händchen auf Fanlurs Brust.

„Wie heißt du, mein Junge?“

„Djeff.“ Wieder hingen seine Augen am Laserbeamer. „Kwötschis sinne volle platzt.“

„Kwötschis?“ Fanlur kannte den Begriff nicht. „Nennt ihr die Riesenkröten so?“ Der Junge nickte. „Die Männer, die von den Kwötschis getötet wurden – war dein Vater dabei?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Wa’ne Littload unne Simpload. Mein Vadde hätte Kwötschis plattemacht.“ Er richtete sich auf. Stolz drückte er seine schmächtige Brust heraus und hob den Kopf. „Mein Vadde isse Gwanload Pöacival.“ Erwartungsvoll blickte er in die roten Augen des weißhäutigen Mannes mit den langen weißgrauen Haaren.

„Was du nicht sagst …“ Fanlurs weiße Brauen wanderten nach oben. Von seinem eigenen Vater wusste er ein wenig Bescheid über die Lords. Ihre Stämme – drei oder vier lebten in der großen Ruinenregion Landáns – waren streng hierarchisch geordnet. Ein Grandlord führte den Stamm, unter ihm ein paar sogenannte Biglords, und dann eben die Simplords und Littlords, die der Kleine erwähnt hatte. Frauen rangierten knapp über Frekkeuschern und Wakudas.

„Ein Sohn des Grandlords also“, murmelte Fanlur. „Und darauf bist du mächtig stolz, was?“ Der Junge nickte heftig. Fanlur schmunzelte. Die Socks waren nicht nur rohe und gefährliche, sondern auch mächtig stolze Burschen. Schon ihre Knirpse infizierten sie mit ihrem Dünkel. Vermutlich hielten sie sich für die Krone der Schöpfung. „Und wo lebt deine Sippe?“

„Landán-Tschelsi“, sagte der Junge.

Fanlur stand auf. „Dann los, Djeff – ich bringe dich zu deinem Vater.“ Er deutete auf Wulf. „Du darfst auf meinem Lupa reiten.“

Ein Strahlen ging über das erschöpfte Jungengesicht. Er stand auf und klammerte sich im Zottelfell des Wolfes fest. Sie hatten annähernd gleiche Schulterhöhe, und Djeff benötigte zwei Anläufe, bis er endlich auf dem Rücken des Lupas saß. Sie brachen auf. Fanlur ging voraus. „Mein Vadde wiadia gwoße Schenke mache, weile mich gewettet has“, krähte Djeff hinter ihm.

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Fanlur folgte einem ausgetretenen Uferpfad. „Einem Boten, der schlechte Nachrichten bringt, macht man keine Geschenke.“

„Schlächde Nachwichde?“

„Ja.“ Das Schilf lichtete sich, der Blick auf die Brückenruine wurde frei. Ein schwarz-grüner Schleier von Schlingpflanzen hing von überwucherten Stahlträgern ins Wasser hinab. „Ich komme von der Küste – dort sah ich viele Schiffe eines grausamen Volkes.“ Zwei große Rabenvögel kreisten in Ufernähe über der Themse. Kolks – sie begleiteten Fanlur, seit er sich vor drei Tagen auf die Steilküste gerettet hatte. „Es wird Krieg geben.“



2

Wellen bäumten sich auf und warfen sich auf den weißen Strand. Das Meer glitzerte türkisfarben. Hoch im Zenit des blauen Himmels glühte die Sonne. Ihr Lichtschimmer funkelte in der Brandung. In der Ferne war ein Korallenriff zu erkennen, das sich weit in den Ozean hineinstreckte. Gischt schäumte, wenn die Wogen sich dagegen warfen.

Links des Sandstrands lag eine Düne. Und hinter ihr der Hang eines bewaldeten Bergrückens. Erst sanft, dann immer steiler stieg er an und gipfelte schließlich, weit entfernt, in einen Vulkankegel.

Rechts säumten lange Palmen mit gebogenen Stämmen den Strand. Die Büsche zwischen ihnen hingen voll mit trichterförmigen roten und weißen Blüten. Wenn man den Blick vom Strand weg ins Innere der Insel richtete, sah man auf die weit ausladende Krone eines Baumes. Blaue und grüne Papageien flatterten im Geäst herum. Leise Musik perlte von irgendwoher – Harfenakkorde und eine Flöte. Sonst war nichts zu hören – kein Papageiengeschrei, nicht das Rauschen des Windes in den Palmen, keine Brandung.

Nur die Stimme eines Mannes noch. Eine tiefe, volltönende Stimme. Gesicht und Oberkörper waren inmitten der Palmenkronen zu sehen, umgeben von einem hellgrünen Rechteck und übergroß. Ein hartes, ernstes Gesicht. Der Mann, dem es gehörte, trug ein bordeauxrotes weites Jackett und darunter ein schwarzes Hemd.

Inmitten des Strandpanoramas stand ein runder gläserner Tisch, hellblau und mit sechs breiten S-förmigen Beinen. Drei Männer und drei Frauen saßen um ihn herum auf Stühlen aus ebenfalls blauem Glas. Das Kunstleder der runden Sitzflächen und Lehnen glänzte in einer Farbe, die dem Türkis des Meeres entsprach. Drei Stühle waren unbesetzt. Einer davon hatte eine höhere Rückenlehne und war größer als die anderen.

Die sechs Männer und Frauen trugen weite Jacken und Hosen, cremefarben zumeist, nur eine der Frauen hatte sich in einen schneeweißen langen Mantel mit rüschenbesetzten Kragenaufschläge gehüllt. Alle blickten sie auf den Monitor in der Glaswand des Kuppelsaales.

„Ich habe die Bilder gesehen“, sagte der Mann auf dem Monitor. Sein kantiges Gesicht war schneeweiß. Tiefe Furchen querten die Stirn und durchzogen es von den Nasenflügeln bis zu den herabgezogenen Mundwinkeln. Dicke tiefblaue Adern überzogen seinen perückenlosen Schädel. „Ja, es ist mein Sohn, den unsere Späher entdeckt haben. Aber ich kann nicht verstehen, dass er zu Fuß am Themseufer entlang marschiert.“ Die stechenden roten Augen lagen tief in ihren Höhlen. Augen, die viel gesehen hatten. „Er hatte mir angekündigt, mit einem Schiff kommen zu wollen.“

Hin und wieder zitterte das Bild ein wenig. Manchmal entfärbte es sich und die tiefe Männerstimme verwandelte sich kurzzeitig in verzerrte Vibrationen, als würde man eine Stahlsaite anschlagen. Die Funkverbindung zwischen der Community London und der Community Salisbury litt unter der CF-Strahlung. Eine weltweite Strahlung, wie die Ingenieure der Communities annahmen. Ihre Hauptquelle lag in den Weiten Asiens. Doch viel mehr noch litt die externe Kommunikation der Community London unter der Störstrahlung aus dem Einschlagskrater in der ehemaligen City, wo ein Trümmerstück „Alexander-Jonathans“ niedergegangen war.

„Er wollte mit einem Schiff kommen?“ Eine der Frauen am runden Tisch machte ein erstauntes Gesicht. „Woher wissen Sie das, Sir Gabriel?“

Mit ihren achtundsiebzig Jahren war Valery Heath die Jüngste im Kuppelsaal. Die Mehrzahl der Octaviatsmitglieder hatte die Hundertzwanzig längst überschritten. Sie trug eine Perücke aus langem blonden Haar. Ihre Haut war bleich, aber nicht weiß, ihre Augen von einem samtenen Braun. Valery Heath war Octavian für Außenbeziehungen. Deswegen leitete sie das Gespräch mit dem Botschafter von Salisbury.

„Ich stehe durch einen Späher in Kontakt mit ihm“, sagte Leonard Gabriel. „Nachdem er mir auf diesem Wege von jenem rätselhaften Jetpiloten berichtet hatte, bat ich ihn nach Britana zu kommen, um diesen Tinnox mit einer unserer Communities in Kontakt zu bringen.“

„Das hatten wir miteinander beschlossen“, bestätigte Valery Heath. „Nicht zuletzt, weil wir uns Sorgen um den Mann machten – der Socks wegen. Eine berechtigte Sorge, wie sich gezeigt hat. Aber dass Ihr Sohn mit einem Schiff kommen wollte, ist mir neu.“

„Ein Segelschiff?“, erkundigte sich ein kleiner rundlicher Mann mit schwarzer Hautfarbe. Ibrahim Fahkas Vorfahren stammten aus Ostafrika. Er vertrat als Octavian die Interessen der Ingenieurskaste in der Community-Regierung.

„Fanlur besitzt einen kleinen Raddampfer, ein sehr altes Fahrzeug allerdings. Ich hoffe sehr, es hat keinen Schiffbruch erlitten.“

„Selbst wenn, Sir Gabriel“, ergriff Valery Heath wieder das Wort. „Sie haben die Aufnahmen gesehen – Ihr Sohn ist wohlauf.“

„Ja, dem Himmel sei Dank. Nur …“ Gabriel zögerte und senkte den Blick.

Heath runzelte die Stirn. Sie kannte Gabriel gut. Schon als sie noch ein kleines Mädchen und er noch Octavian gewesen war, hatte sie mit ihm zu tun gehabt. Manchmal glaubte sie seine Gedanken lesen zu können. Schlagartig wurde ihr klar, dass er den wahren Grund seiner heutigen Kontaktaufnahme noch gar nicht genannt hatte.

Gabriel hob den Kopf. Seine Stimme klang leiser, als er fortfuhr. „Er wollte uns etwas mitbringen, Ladies und Gentlemen. Etwas sehr Wichtiges.“