image

Helmut Fallmann

Gegen den Verfall

Wie die Digitalisierung
Europa retten muss

Image

IMPRESSUM

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung

des Autors wiedergegeben werden.

Die im Buch verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen treten der besseren Lesbarkeit halber nur in einer Form auf, sind aber natürlich gleichwertig auf beide Geschlechter bezogen.

Illustrationen: Peter M. Hoffmann

Satz und Umschlaggestaltung: Karin Kocsisová
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

1. Auflage

ISBN 978-3-99049-864-4

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

WAS BISHER GESCHAH

EISDECKE ÜBER EUROPA

Mit Siebenmeilenstiefeln in die Zukunft

Erst Bytes, dann Daten-Tsunami

Europas Technologie fährt Achterbahn

Betriebssysteme „Made in Europe“ – anywhere?

IT-Leuchttürme Europas

Neben Amazon auf der Überholspur

WIR WAREN EINMAL RICHTIG GUT UND KÖNNEN WIEDER BESSER WERDEN

Internet of Everything: alles mit jedem verknüpft

Gradmesser der europäischen Digitalisierung

Industrie 4.0: das große Zaudern

MENSCHENRECHTE IN DER DIGITALEN GESELLSCHAFT

Wissen ist Macht

Für die offene Gesellschaft

Daten, Daten über alles

Googles wohltätige Datenspiele

Menschenrechte 2.0

Max Schrems vs. Facebook

EuGH: einsamer Verbündeter der europäischen Bürger

DER DIGITALE BINNENMARKT IN EUROPA – EINE VISION MUSS WAHR WERDEN

Identitätstreiber DSM

Baukasten für ein besseres Europa

eIdentity und eSignature: das Dream-Team im digitalen Europa

eShopping: online kaufen und verkaufen

Krank im Ausland? eHealth sorgt für Linderung

eVoting: wetterunabhängig wählen

eLearning & Academic Qualifications: Lernen ohne Grenzen

eBanking und eInvoicing: hürdenloses Zahlen von Finnland bis Italien

CONCLUSIO

ANHANG

Technologischer Totalitarismus: „Warum wir jetzt kämpfen müssen“

Google Flu Trends für Österreich

Europäisches Forum Alpbach 2015: „Packen wir’s an!“ – Europas Zukunft hängt von der Digitalisierung ab

Die drei Säulen des digitalen Binnenmarkts in Europa

Empfehlenswerte Links

Anmerkungen

Über den Autor

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Die Familie Marie und Kasper mit Töchterchen Mücke lebt in diesem Buch das neue, digitale Europa.

Abb. 2: Unterwasserkabel weltweit

Abb. 3: Osmos – „Werde der Größte“

Abb. 4: Gewinnermodell des vom Seastead-Institut ausgeschriebenen Wettbewerbs, wie eine ideale schwimmende Stadt aussehen könnte

Abb. 5: Exponentielle Reiskornreihen auf einem Schachbrett

Abb. 6: Die vier industriellen Revolutionen

Abb. 7: Der DESI 2016

Abb. 8: Wie bereit ist Europa für die Industrie 4.0?

Abb. 9: Arabischer Frühling in Ägypten: Internet Traffic bevor und nach dem die Behörden das Netz „abdrehten“

Abb. 10: WALL·E (rechts) und EVE

Abb. 11: Todesfälle durch Cholera, aufgezeichnet von John Snow, London, 1854

Abb. 12: Marie und Kasper vor den in Stein gehauenen Menschenrechten

Abb. 13: Die drei Säulen des digitalen Binnenmarktes

Abb. 14: Mücke ist im digitalen Europa angekommen

Abb. 15: Dürfen schwedische Bären nach Österreich reisen?

Abb. 16: Was für ein Urlaub - Marie beim Arzt.

Abb. 17: Wählen bei Kaffee und Kuchen

Abb. 18: Von wegen Schulbank drücken!

Abb. 19: Einkaufstour am Sofa.

Abb. 20: Die Konzernstruktur der Alphabet Inc., gegründet im August 2015

Abb. 21: Aus einer Umfrage: Nutzen Sie derzeit eines der angeführten smarten Geräte?

VORWORT

Darf ich mir etwas wünschen? Einen Brief an das Christkind, den Weihnachtsmann oder die jeweilige Instanz für „Geschenke auf das Fensterbrett legen“?

Vielen Dank.

Gleich nach Gesundheit, Glück und Freude finden sich auf meiner Liste folgende Einträge:

Ich möchte eine Informations- und Buchungsmöglichkeit, die für alle europäischen öffentlichen Verkehrsmittel gilt. Egal ob Bahn, Bus, U-Bahn oder Tram. Ein einziges elektronisches Ticket soll mich vom Wiener Hauptbahnhof bis an den Strand von Limfjorden in Dänemark bringen.

Eine lange Fahrt, zugegebenermaßen. Genug Zeit, um die Aussicht zu genießen, Zeitung zu lesen und von Zeit zu Zeit ein Nickerchen einzulegen. Natürlich möchte ich hin und wieder auch online gehen. Das heißt: Internetzugang in allen Verkehrsmitteln sollte obligat sein.

Wenn ich schon online bin, möchte ich gerne den Stand meines Bankkontos prüfen und endlich den neuesten Krimi von Martin Suter bestellen. Wie angenehm wäre es, wenn ich mich mit meiner elektronischen ID einloggen könnte? Ein einziger Schlüssel, der viele Online-Portale öffnet!

Meine Fahrt nach Limfjorden ist momentan noch beruflich. Einen Wohnsitz außerhalb Österreichs habe ich nicht, viele andere Europäer jedoch schon. Für ein fiktives Strandhäuschen an der dänischen Küste bräuchte ich natürlich eine Hausratsversicherung.

Aber wahrscheinlich wird diese genau dann zugestellt, wenn ich gerade nicht im Land bin, und vermodert bis zu meiner Rückkehr im Postkasten. In Zukunft könnte dieselbe signierte Polizze als Digitaldokument in meinem elektronischen Tresor landen.

Voraussetzung für all diese Szenarien ist, dass sich einige helle Köpfe in Europa politisch durchsetzen können. Erst dann kann der digitale Binnenmarkt in Europa und damit die Basisdienste für den elektronischen Geschäftsverkehr und digitalen Behördenweg umgesetzt werden.

Die gute Nachricht: Unser Kontinent befindet sich in einer digitalen Aufbruchsstimmung. Die Jahre des Jammerns über die Krise und der ständigen Gipfeltreffen ohne wirklichen Veränderungswillen scheinen überwunden. Der 6. Mai 2015, als die Strategie zur Verwirklichung des digitalen Binnenmarktes vorgestellt wurde, könnte es in die europäischen Geschichtsbücher schaffen – alle 16 Initiativen, die nun in der Umsetzungsphase sind, beweisen in ihrer inhaltlichen Universalität, dass der „Digital Single Market“ (DSM) konsequent zu Ende gedacht wurde und die EU kräftig in die Hände spucken will.

Damit die gewünschten Prozesse europaweit einheitlich funktionieren können, müssen alle EU-Mitgliedsländer an einem Strang ziehen. Bislang stand das Denken und Handeln in nationalen „Schrebergärten“ der Umsetzung des Traums einer europäischen Digitalisierung noch im Weg.

Ein digitaler Binnenmarkt wird für einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung sorgen und das Leben und Arbeiten der Bürger in der EU sehr erleichtern. Vereinfachungen und ein enormes Einsparungspotenzial gehen mit den digitalen Neuerungen einher, sowohl für uns Europäer als auch für europäische Klein- und Mittelbetriebe. Europa könnte wieder auf die Erfolgsspur zurückkehren, aus der die Konkurrenz aus den USA und Asien unsere Gemeinschaft vor einigen Jahren gekickt hat. „Aus der Bahn geworfen“ trifft es noch besser.

Ich hoffe inständig, dass Europa einen digitalen Binnenmarkt verwirklicht, der auf einem starken Datenschutz und hohen Sicherheits- und Qualitätsstandards basiert. Damit schaffen wir das notwendige Vertrauen in digitale Sicherheit. Wir werden uns eine Umgebung errichten, in der Daten durch Verschlüsselungstechnologien und sichere Cloud-Lösungen geschützt und verwaltet werden.

Wir können der Welt und uns zeigen, dass eine bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung niemals nur aus der Perspektive der Technologie allein betrachtet werden darf, sondern immer auch einer philosophischen, einer ethischen und sozioökonomischen Sicht bedarf.

Und, dass die Digitalisierung nicht eine für viele Bürger unerklärliche Randerscheinung ist, sondern uns mittlerweile schon voll im Griff hat.

Umgekehrt muss es sein.

Deshalb ist dieses Buch entstanden.

TEIL 1

Europa und die USA kommunizieren schon seit über hundert Jahren via Unterseekabel. In dieser Zeit haben sich die Machtverhältnisse allerdings um 180 Grad gedreht: Hatten die Europäer die Kabellegung initiiert, sind es nun die Internet-Giganten aus Silicon Valley, die den Datenfluss regieren.

WAS BISHER GESCHAH

Eine ultramoderne Farm gigantischen Ausmaßes. Fensterlos, von monströsen Kühlaggregaten belagert. Langsam wird der Betrachter rund um das Gebäude geleitet. Falls Visionen von aneinander gepferchten Tierkörpern aufflackern sollten – es ist noch schlimmer. Unsere Daten schmoren hier, Privates, Geschäftliches, Heikles und Vergessenes. Den wenigsten ist bewusst, dass jedes Antippen der Computertastatur Spuren hinterlässt und den unermesslichen Schatz von Google und Co weiter wachsen lässt. Die Datenmassen, Big Data, sind unbeschreiblich wertvoll für Politik und Wirtschaft. Und das Wühlen im Datenberg hat schwer absehbare Konsequenzen für den Bürger und die globale Ökonomie.

Sieben solcher Datenspeicher betreibt Google in gottverlassenen Gegenden der USA. Das ist der Stand von 2015, als der irische Digitalkünstler John Gerrard sein Projekt „Farm (Pryor Creek, Oklahoma)“ fertigstellt. Eigentlich hätte sich John Gerrard das Endlager unserer virtuellen Aktionen gerne vor Ort angesehen, was Google jedoch ablehnte. Also holte er sich Rat bei der örtlichen Polizei, die meinte1: „All we can say, the air is free.“

Von diesem Hinweis beflügelt, fotografierte der Künstler vom Helikopter aus die Google-Data-Farm in Pryor Creek, Oklahoma, und setzte die Bilder in seiner Wiener Werkstatt zu einer Videosimulation zusammen2.

Beim Anblick des sterilen Baus, der durchaus als Hochsicherheitsgefängnis zweitverwertet werden könnte, fällt es schwer zu begreifen, dass dort individuelle Kommunikationsstränge und Daten, die am Sofa, im Bus oder am Bürocomputer entstanden sind, ohne Ablaufdatum aufbewahrt und streng gesichert werden wie ein Schatz. Denn Daten sind das neue Gold, Nährquelle für Militär und Unternehmen. Wertvolles Gut, das der Konsument leichten Herzens für ein paar Glasperlen in Form von „Gratis“-Apps herschenkt. Oder, wie John Gerrard das Daten-Lagerhaus in Pryor Creek beschreibt3: „Eine Farm, die uns beim Konsumieren auffrisst.“

Dieser Datenraub findet zwar immer stärkeren Widerhall in den Medien. Allerdings ist der Sprung vom Feuilleton ins allgemeine Bewusstsein ein sehr weiter. Und das ist schlecht, denn der Aufprall könnte sehr hart werden.

Was zum Beispiel bedeutet „virtuell“ für den Durchschnittsverbraucher? Handelt es sich um ätherische Informationsstückchen, luftig leicht wie Salzburger Nockerl, die schnell konsumiert werden müssen oder sonst in sich zusammenfallen?

Es ist nicht so, dass unsere Daten umherschweben und sich irgendwann einmal auflösen.

Selbst wenn Informationen in einer sogenannten „Wolke“, englisch Cloud, abgespeichert sind, bedeutet dies ganz simpel und pragmatisch, dass Informationen als lange Reihen binärer Codes4, als endlose Sequenzen aus Einsen und Nullen – Sie erinnern sich? – zu Servern wandern, die nicht zu Hause oder in der Firma stehen.

Image

Abb. 1: Die Familie Marie und Kasper mit Töchterchen Mücke lebt in diesem Buch das neue, digitale Europa. © Peter M. Hoffmann

Virtuell heißt „nicht physisch“, aber wo genau die Grenze zu diesem Zustand liegt, ist beinahe eine philosophische Frage. Beispielsweise kann ein ungeschickt gesetzter Schiffsanker das Internet in weiten Gebieten zum Stillstand bringen. Zahlreiche Glasfaserkabelleitungen verlaufen mittlerweile am Meeresgrund, dick gebündelt und mit den nötigen Schutzschichten umgeben, um Nässe, Salz und sonstige Störfaktoren von den Schnellstraßen5 unseres Datenverkehrs fernzuhalten. Aber Unfälle passieren immer wieder, wenn eben Schiffsanker die Schutzhüllen kappen oder Fischernetze an den Kabeln zerren. Der Seeboden kann beben, und sogar Haie sollen die Unterwasserverbindungen beizeiten mit Knabberzeug verwechseln.

Die Verlegung solcher Unterseekabel ist eine teure Angelegenheit. Die Kosten übernehmen jene Nationen, die Interesse an schnelleren Datenverbindungen haben, zunehmend aber auch private Konsortien. Rund ein Viertel des weltweiten Datenvolumens fließt schon durch private Netze, im transatlantischen Datenverkehr sind es nach Angaben des US-Marktforschungsinstituts TeleGeography sogar 40 Prozent. Beispielsweise ist Google aktuell an einer Verkabelung zwischen Japan und den USA beteiligt (Projekt „Faster“)6 sowie an einem weiteren Projekt, das eine neue Schnellroute für Daten zwischen USA und Brasilien schaffen wird. Diese Initiative soll sich insgesamt mit 60 Millionen US-Dollar zu Buche schlagen und wird eine Datendurchsatzrate von 64 TBit/s bieten.7 Natürlich hegt Google Absichten mit diesen Großinvestitionen: Die Firma wird bezüglich Bandbreiten, Nutzungsart sowie Zugänge einiges mitzureden haben.

Europa und die USA sind schon seit weit mehr als einem Jahrhundert über den Meeresboden miteinander verbunden.8 Würde man die vielen dort liegenden transatlantischen Telefonkabel, die TATs, zu einer dicken Kordel zusammendrehen, hielte man die Aorta des internationalen Datenverkehrs in der Hand. Mehr als die Hälfte der 19 Stränge sind Koaxialkabel, alle anderen Leitungen bestehen aus Glasfaseroptik, die gegenüber elektromagnetischen Impulsen unempfindlich sind. Auf diese kostengewaltige Verkabelung wurde Anfang der 1990er gewechselt, um die neuen Ansprüche der Online-Technologie zu bedienen. Aktuell sind zwei Glasfaserkabel zwischen Europa und den USA in Betrieb: TAT 12-13 und TAT 14.

Image

Abb. 2: Unterwasserkabel weltweit, Kabeldaten von Greg Mahlknecht, 2015-07-21, Weltkarte: Openstreetmap contributors
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/89/Submarine_cable_map_umap.png?uselang=de-at, abgerufen am 30.3.2016

Um bei der Metapher mit der Hauptschlagader zu bleiben: Wie in einem Blutkreislauf geht der Datenfluss mittlerweile auch am tiefen Meeresgrund in eine Richtung – und zwar aus Europa in die USA. Und die Gadgets, welche diese Daten in Europa generieren, haben mit 54 Prozent ihren Ursprung in den USA. Umgekehrt finden nur vier Prozent europäischer Produkte ihre Anwendung jenseits des Atlantiks.9 Begonnen hat aber alles ganz anders.

Stefan Zweig, Schriftsteller, Porträtist und einfühlsamer Chronist des sterbenden k. und k.-Reiches („Die Welt von Gestern“10), beschreibt, wie eine „gigantische Nabelschnur“ erstmals zwischen der Nordwestküste Irlands und Neufundland verlegt wird11:

Denn die ungefähren Kosten der Kabellegung sind so ziemlich das einzige verläßliche Errechenbare bei diesem Beginnen. Für die eigentliche technische Durchführung gibt es keinerlei Vorbild. In ähnlichen Dimensionen ist im neunzehnten Jahrhundert noch nie gedacht und geplant worden. [...] Aber man wagt´s! Tag und Nacht spinnen jetzt die Fabriken, der dämonische Willen dieses einen Menschen treibt alle Räder vorwärts. Ganze Bergwerke von Eisen und Kupfer werden verbraucht für diese eine Schnur, ganze Wälder von Gummibäumen müssen bluten, um die Guttaperchahülle zu schaffen auf so riesige Distanz. Und nichts veranschaulicht sinnlicher die enormen Proportionen der Unternehmung, als daß dreihundertsiebenundsechzigtausend Meilen einzelnen Drahtes in dieses eine Kabel versponnen werden, dreizehnmal soviel, als genügte, die ganze Erde zu umspannen, und genug, um in einer Linie die Erde mit dem Mond zu verbinden. Seit dem Turmbau von Babel hat die Menschheit im technischen Sinne nichts Grandioseres gewagt.

Dieser „eine Mensch“, den Zweig in „Die Sternstunden der Menschheit“ erwähnt, ist Cyrus W. Field. Unter seiner Leitung wird 1857 erstmals versucht, ein Kabel am Atlantikboden zu verlegen. Ein Monstervorhaben: Zwei extra für die Materialmassen umgebaute Schiffe, die „Niagara“ und die „Agamemnon“, verlassen die gegenüberliegenden Küsten und rollen während ihres Ritts über die Wellen die Fracht langsam ab. Laut Plan sollen sie sich in der Atlantikmitte treffen. Niemand weiß über die Meerestiefen Bescheid oder welchem Getier, welchem Gestein das Kabel im finsteren Nass ausgesetzt sein wird. Aber so weit kommt es vorerst ohnehin nicht, denn 600 Kilometer Kabel springen von der Winde und versinken im Meer.

Erst ein paar Wochen später klappt es. Beim dritten Anlauf. Die Enden der Kabel werden auf hoher See miteinander verspleißt und erste Versuche zeigen: Die elektronische Verbindung funktioniert! Allerdings dauert es 16 Stunden, bis die aus 103 Wörtern bestehende Grußbotschaft von Königin Victoria an den US-Präsidenten James Buchanan vollständig übertragen worden ist. Kein Vergleich zur vorhin erwähnten Datenrate von 60 Terabit pro Sekunde, die ab 2016 durch die Glasfaserverbindung „Faster“ zwischen den USA und Japan rasen werden. Einige Tage später funktioniert das bejubelte Kabelabenteuer des Cyrus W. Field schon nicht mehr. Angeblich ist Rost am vorzeitigen Ende Schuld. Es braucht noch einige Neuanläufe, bis ab 1866 Telegramme ohne Störung zwischen den Kontinenten hin- und hergehen.

Der Pioniergeist unter den teilnehmenden Personen war erstaunlich, und teilweise wurde damals der Grundstein für so manches, bis heute existierende, europäische Unternehmen gelegt. Field selbst war erfolgreicher Papierfabrikant, der sich mit 34 Jahren zur Ruhe gesetzt hatte und nach Abenteuern und Möglichkeiten für Investments suchte. Das Atlantikabenteuer kam ihm da gerade recht.12 Der Deutsche Paul Julius Reuter baute daraufhin die Büros seiner Nachrichtenagentur dort auf, wo die neuesten Unterwasserkabel hinführten – zuerst London, später New York. Werner von Siemens war in die Herausforderungen des Atlantikkabels involviert, ebenso der amerikanische Maler und Hobby-Elektrotechniker Samuel Morse, der Physiker William Thomson (später: Lord Kelvin), der Chirurg und Hobby-Physiker Edward O. W. Whitehouse. Ein bunter Haufen aus Praktikern, Wissenschaftlern und Laien.

Die Vorteile aus den neuen Unterwasserkabeln zog damals vor allem die europäische Seite, denn sowohl die irische als auch die Küste Neufundlands standen im Besitz Großbritanniens. Die USA erhielten allerdings ebenfalls das Recht, die neuen Verbindungen gleichberechtigt zu nutzen. Die Briten versuchten mithilfe des Kabels, ihre Kolonien zu kontrollieren, und die Amerikaner wollten damit ihr eigenes, riesiges Land unter einen Hut bringen. Ein Senatsmitglied sorgte sich allerdings: „Beide Enden der Telegrafenlinie liegen in britischem Besitz. Welche Sicherheit haben wir, dass wir die Verbindung im Falle eines Krieges genauso nutzen können wie die Briten?“

Wie wir mittlerweile festgestellt haben: Diese Sorgen waren unbegründet. Heute sind die Seekabel zur Einbahnstraße Richtung Westen mutiert, wo Europas Daten in einem Silo wie jenem von Google in Oklahoma landen. Europäische Unternehmen, vor allem im Informations- und Kommunikationsbereich, verlieren massiv an Power, währenddessen das amerikanische Silicon Valley eine unglaubliche Macht entwickelt hat und vor Innovationskraft und Geld nur so strotzt. Der Einfluss aus dem Techno-Tal ist dabei, zur echten Gefahr zu werden.

Innovation entsteht übrigens natürlich auch in Europa. Aber die vielversprechendsten Pflänzchen werden von US-Firmen aufgekauft, bevor sie zur Bedrohung werden könnten. Und die Gründer lassen es zu – kein Wunder, daheim wird das nötige Risikokapital einfach nicht bereitgestellt. Wer „Osmos“, das iPad-Spiel des Jahres 2010, kennt, kann sich diesen Prozess in Begleitung sphärischer Klänge interaktiv vor Augen führen: Werde zur größten Blase, schlucke die Konkurrenz! Und, wie praktisch:

Image

Abb. 3: Osmos – „Werde der Größte“ (Screenshot)

Ab einer gewissen Dimension wird die Anziehungskraft so groß, dass sie die restliche Umwelt ganz automatisch aufsaugt.

Aber das war doch nicht immer so. Was ist passiert, dass Europa in der digitalen Globalwirtschaft derart abgefallen ist?

 

Auch wenn zu Beginn Zweifel bestanden hatten: Die Internet-Industrie hat rasant an Fahrt aufgenommen. Google, Facebook, Amazon zeigen, dass online Milliarden zu verdienen sind. Gesetzgebungen bedeuten den Branchengrößen wenig – selbstfahrende Autos, die Besiedelung des Mars’ und ewiges Leben sind wichtiger. Technologische Singularität heißt das Stichwort, und der Fortschritt ist bereits dabei, sich zu überschlagen. Europa keucht den Entwicklungen hinterher und wird durch Ereignisse, wie der NSA-Abhörskandal, zusätzlich gedemütigt. Um sich ihre Machtposition zu sichern, kaufen US-Firmen europäische Start-ups oder Unternehmen in der Krise auf. Aber es keimt Hoffnung: Einige Firmen lassen sich von den Machtgebärden aus Übersee nicht beeindrucken und weisen Europa als Leuchttürme in eine vielversprechende Richtung.

EISDECKE ÜBER EUROPA

Das Internet wird nicht mehr Einfluss haben auf die Wirtschaft als das Faxgerät.

So prognostizierte Paul Krugman im Jahre 1998. Ein paar Jahre später kann man mit Bestimmtheit sagen, dass sich auch Nobelpreisträger ordentlich täuschen können. Ein Blick ins Archiv der „Süddeutsche Zeitung“ zeigt, dass acht Jahre später in Sachen Internet wieder Hoffnung keimte13:

Die Größe seiner Prophezeiung scheint ihm Angst zu machen. „Es schmeckt nach New Economy“, bremste sich vor wenigen Wochen der Kommentator des Time-Magazin, bevor er dann doch Gas gab: „Aber es ist wahr: Wir stehen am Rand der kreativsten und innovativsten Ära, die es jemals gab.“ Skeptiker behaupten, dass die Vorhersage nicht nur nach New Economy schmeckt, sondern wie der Internet-Hype der Neunziger-Jahre auch ergebnislos in sich zusammenfallen wird. Vielleicht aber [...] behalten das Time-Magazin und die anderen Freunde des sogenannten Web 2.0 recht, wenn sie sagen: Im Internet entsteht gerade eine Bewegung, die unsere Vorstellung von Fortschritt und Öffentlichkeit und Publikum nachhaltig verändern wird.

2006 spielten die heutigen Internet-Giganten noch in der Kinderliga. Google fühlte sich von Myspace.com bedroht, damals gerade von Rupert Murdoch um 580 Millionen Dollar übernommen (wer kennt heute noch Myspace?), Facebook öffnete sich erstmals Usern außerhalb der Ivy-League-Universitäten, und Twitter steckte mitten in den Geburtswehen.

Mit Siebenmeilenstiefeln in die Zukunft

Facebook, Amazon und Google sind hochprofitabel, da sie die Daten ihrer User gewinnbringend verwerten können. Seit 2015 ist Google ein Subunternehmen der Alphabet Inc., ein der besseren Übersichtlichkeit halber gegründeter Konzern, der nun ein Dach für Google Nest, Google Ventures, Google Capital, Google X, Fiber und Calico bildet (ein Organigramm findet sich im Anhang). Böse Stimmen behaupten14, die neue Holding soll davon ablenken, dass das Kerngeschäft des Unternehmens auf dem Verkaufen von Anzeigen basiert – ein wenig glamouröses Business. Ganz ähnlich geht Facebook vor: An der Profitfähigkeit der sozialen Plattform kamen anfangs Zweifel auf, seit 2010 fährt das Unternehmen mit dem Anzeigenverkauf allerdings Milliardengewinne ein.15

Über ihre Kinderschuhe haben sich die Protagonisten im Silicon Valley also gleich Siebenmeilenstiefel gestülpt. Die gibt es nur im Märchen? Nun, die Ideen der kalifornischen Schmieden sind derart futuristisch, dass eine Umsetzung zuerst einfach nur sagenhaft scheint. Aber manche der Innovationen befinden sich schon in der Beta-Phase. Selbstfahrende Autos: Check. Smarte Energie: Check. Den Krebs besiegen. Ewiges Leben. Beinahe.

Googles Firmenmotto lautet: „Don’t be evil“. Und eine der Fragen, die bei einem Bewerbungsgespräch für einen Google-Job gestellt werden, ist angeblich16:

„Do you really want to change the world?“

Im viel besungenen Tal in Kalifornien wird versucht, maximalen Kapitalismus mit guten Vorsätzen zu kombinieren. À la: Goldgräbertum trifft auf Hippie-Kultur, und wider jede Vernunft funktioniert eine solche Fusion bestens. Protagonisten wie Andreessen Horowitz, einer der großen Risikokapitalgeber im Valley, vergleichen das Tal mit einer Weltraumstation, die steilen Kurs Richtung perfekte Welt für die Menschheit nimmt.17

Andreessen Horowitz, Elon Musk und andere Valley-Größen vereinen mittlerweile derart viel Macht und Geld, dass ihr Aktionismus schon Züge von Feudalherrschaft annimmt. Wenn die weißen, verspiegelten Google- oder andere Privat-Busse mit Aufdruck „High Luxury Transportation“ die Tech-Mitarbeiter an Bushaltestellen einsammeln, wird öffentliche Infrastruktur genützt, aber nicht bezahlt. Streng genommen wären dafür schon einige Millionen fällig.18 Die Busse sind zum Symbol einer gespaltenen Stadt geworden: Dieselben Mitarbeiter kommen, wenn überhaupt, nur zum Schlafen nach Hause, alles andere – selbst die Wäsche! – erledigt die Firma. In Folge geht der Kleinhandel vor die Hunde. 40 Prozent der Bewohner rund um die Haltestellen kommen ohnedies nur am Wochenende zurück. Die vielen leerstehenden Wohnungen sind reiner Zynismus in einer Stadt mit der höchsten Obdachlosenrate in den USA. Die Mieten in San Francisco zählen mittlerweile zu den weltweit höchsten.

Steuern werden minimal bis gar nicht abgeführt, was sowohl den US-Steuerzahlern als auch jenen in den europäischen Niederlassungen oder sonst wo Milliarden kostet. Der Bürgermeister von San Francisco, Ed Lee, erlässt beispielsweise Airbnb die Gebühren – ein Geschenk von bisher 25 Milliarden US Dollar. Twitter konnte sich ebenfalls in den vergangenen Jahren insgesamt 37 Milliarden Dollar Steuern ersparen.

Damit nicht genug: „Sie wollen aufs Meer, weg von den Regeln. Auf Plattformen Computer hochfahren, Talente ohne Visum einfliegen, keine Steuern zahlen“, schreibt das Schweizer „Reportagen“-Magazin.19 Diesen Kurs weg von Gesetzen und Regulierungen verfolgt etwa das Seasteading Institut in Sunnyvale, das auf internationalen Gewässern ein autonomes und unabhängiges Fleckchen etabliert, auf das kein Staat Zugriff hat. 2013 gab Google-Gründer Larry Page unumwunden zu, dass das offene Meer die beste Lösung sei, um Dinge zu tun, „die wir gerne machen würden, aber leider nicht tun dürfen, weil sie illegal sind.“ Daher seien „sichere“ Orte vonnöten, wo neue Dinge ausprobiert werden können, um herauszufinden, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben.