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parentibus et magistris

ISBN 978-3-492-97589-6

Februar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media, Krugzell

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VORWORT

Allenthalben ist heute von der Wissensgesellschaft die Rede, gar von der Informationsgesellschaft. Gemeint ist, dass das Wissen bzw. die Wissenschaft – und hier besonders die Naturwissenschaft – zu einer bestimmenden Leitfigur unseres modernen Lebens geworden ist. Durch die rasante Entwicklung der Informationstechnologie steht uns zu jeder Zeit jegliche Form und Menge an Information zur Verfügung. Wissen ist Macht, heißt es. Gemeint ist in der modernen Gesellschaft damit wohl: Durch die Vermehrung von Informationen wird ein Zugang zu Machtstrukturen überhaupt erst ermöglicht. Damit aber erliegt die moderne Gesellschaft einem gravierenden Denkfehler. Denn sie setzt die überbordende Fülle an Information mit der Zunahme von Wissen gleich. Dazu kommt, dass durch die Überbetonung des intellektuellen Wissens kaum noch Raum bleibt für emotionale und soziale Intelligenz. Oder wie es Manfred Fuhrmann, ein Altmeister der Bildungstheorie, in einem Essay über den Niedergang der klassischen deutschen Bildungsidee schreibt: »An die Stelle der überlieferten Kategorien Person, Geist und Kultur traten in unverhüllter Einseitigkeit die Begriffe Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit.« Bildung wird demgemäß nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der den Menschen zu Selbstständigkeit und Freiheit, zu einer Wahrnehmung des Kulturellen und Ästhetischen befähigt, sondern nur noch als ökonomischer und sozialer Faktor in der Kategorie des Nützlichen.

Der Grundstein dafür wird bereits in der Primärstufe des Bildungsweges gelegt. Durch zunehmende Spezialisierung und gezielte Förderung der technischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung soll schon hier den ökonomischen Bedürfnissen unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates Rechnung getragen werden. Wirtschaft und Technik als angewandte Naturwissenschaft werden auf diese Weise zu bestimmenden Faktoren auch hinsichtlich unseres gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsideals. Eine gravierende Verschiebung unserer Werteskala ist damit unausweichlich. Der moderne Bildungskanon hält nicht mehr die Instrumente bereit, mit deren Hilfe wir ein gutes und angemessenes Leben in Balance mit uns selbst, den Mitmenschen und der Umwelt führen können (die Glückseligkeit der alten Philosophen), sondern ist gekennzeichnet durch eine Einseitigkeit, die die einzelnen Elemente zu monströsen, alles bestimmenden Götzen unserer modernen Welt mutieren lässt. Eine Welt, die von Zahlen, Formeln, knapper Zeit und Gier nach Materiellem geprägt zu sein scheint. Zwar wird in den Diskussionen der Bildungspolitiker genauso wie in den Auseinandersetzungen der Ökonomen die Forderung nach einem wertegeleiteten Ordnungsrahmen erhoben, zwar werden Ethikkommissionen auf allen Ebenen gebildet, um sich der gemeinsamen Werte zu versichern. Doch bleibt das Ergebnis oft im Unbestimmten. Werte werden postuliert, aber um welche Werte es dabei konkret gehen soll, bleibt oft außen vor. Wir müssen uns daher viel grundsätzlicher die Frage stellen, welche Werte unsere moderne Gesellschaft kennzeichnen sollen. Dann wird auch deutlich, warum Bildung nicht nur durch ökonomiegesteuertes und technikgestütztes Anhäufen von Zahlen-, Daten-, Faktenwissen geprägt sein sollte, sondern ergänzt werden muss durch das, was man Herzensbildung nennt.

Papst Benedikt XVI. sagte in einem Fernsehinterview mit deutschen Journalisten dazu Folgendes:

»Fortschritt kann nur Fortschritt sein, wenn er dem Menschen dient und wenn der Mensch selber wächst; wenn in ihm nicht nur das technische Können wächst, sondern auch seine moralische Potenz. Und ich denke, das eigentliche Problem unserer historischen Situation ist das Ungleichgewicht zwischen dem ungeheuren rapiden Anwachsen dessen, was wir technisch können, und unserem moralischen Vermögen, das nicht mitgewachsen ist. Und deswegen ist die Bildung des Menschen das eigentliche Rezept, der Schlüssel von allem, und das ist auch unser Weg. Und zwar hat diese Bildung, kurz gesagt, zwei Dimensionen: Zunächst einmal müssen wir natürlich etwas lernen: Wissen, Können erwerben, Know-how, wie man so schön sagt. … Aber wir brauchen zwei Dimensionen, es muss die Bildung des Herzens, wenn ich’s so sagen darf, mit dazukommen, durch die der Mensch Maßstäbe gewinnt und dann auch seine Technik richtig gebrauchen lernt.«

Ein anderer großer Religionsführer unserer Tage, der Dalai Lama, drückte dies ganz ähnlich in einem Gespräch mit einer deutschen Journalistin aus:

»Auf meinen Vortragsreisen bin ich immer wieder von der Lernfreudigkeit der Menschen im Westen überrascht. Die Zuhörer lassen Tonbandgeräte laufen oder schreiben mit. Ganz anders als zum Beispiel tibetische oder chinesische Buddhisten, die zwar sehr andächtig dasitzen, aber doch nicht so begeistert lernen wollen. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Tatkraft und dem Wissensdurst, denen ich hier begegne.

Aber ich habe auch festgestellt, dass viele Menschen oft ausschließlich in Schwarz-Weiß- und Entweder-oder-Kategorien denken und dabei übersehen, wie sehr alles voneinander abhängt und einander bedingt. Man vergisst dabei leicht, dass es zu jeder Frage mehr als nur zwei Gesichtspunkte gibt.

Vielleicht kommt das daher, dass die westliche Ausbildung fast nur auf die Entwicklung der Intelligenz und ein möglichst großes Wissen ausgerichtet ist. Die Herzensbildung kommt dabei wohl zu kurz. Das hat sicher historische Gründe. Früher haben sich hauptsächlich die Kirchen um die moralischen und spirituellen Dinge gekümmert. Heute aber ist ihr Einfluss im Schwinden. Dadurch fehlt den Kindern bestimmt etwas Wesentliches in ihrer Erziehung. Es muss ein Gleichgewicht zwischen dem Gehirn und dem Herzen bestehen. Ich denke, dass ein herzloses menschliches Wesen mit einem sehr gut funktionierenden Gehirn ein gefährlicher Unruhestifter ist. Ich schätze jemanden, dessen Intelligenz weniger entwickelt ist, der aber ein gutes Herz hat, höher ein.«

(Das Gespräch ist in dem Buch »Mitgefühl und Weisheit« abgedruckt.)

Die Metapher Herz, die im Begriff Herzensbildung verwendet wird, weist auf etwas Wesentliches, dem Menschen zutiefst Innewohnendes hin. Schon in der Antike wurde darüber gestritten, wo der Sitz der Seele des Menschen sei, im Gehirn oder im Herzen. Trotz der neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, denenzufolge man alle seelischen Vorgänge durch das Messen von Gehirnströmen sichtbar machen kann, ist es nach wie vor ein schönes Bild, für das, was wir die Seele eines Menschen nennen, als symbolische Lokalisation das Herz anzunehmen.

Die große Tradition der Thora, der jüdischen und hebräischen Religionsurkunde, die unserer Kultur neben den Einflüssen der griechischen und römischen Philosophen zugrunde liegt, hat uns ebenfalls viele Sprachgemälde für das Herz als Mitte des Menschen mitgegeben. In der Bibel ist das Herz vor allem Sitz des Gefühls und bringt Verlangen und Begehren hervor. Das Herz steht oft pars pro toto für den ganzen Menschen, und Aussagen über ihn und seinen Zustand werden auf Aussagen über sein Herz konzentriert. Der Prophet Ezechiel lässt Gott verheißungsvoll über sein Volk sagen: »Ich schenke ihnen ein anderes Herz und gebe ihnen einen neuen Geist. Ich nehme das Herz von Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz von Fleisch« (Ez 11,19). Und Jesus, der von sich selbst im Evangelium sagt, er sei »von Herzen demütig«, belehrt seine Jünger, dass der Mensch nicht durch Dinge von außen unrein wird, sondern aus dem Inneren: Vom »Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch« (Mt 15,19). Aber auch: »Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen!« (Mt 5,8)

Die katholische Frömmigkeitsgeschichte kennt eine Verehrung des Herzens Jesu, die trotz aller Verkitschung im 19. und 20. Jahrhundert das Bewusstsein für diese wunderschöne Metapher vom Herzen als Mitte des Menschen, ja sogar Gottes, lebendig gehalten und mit dem Gebetsruf »Bilde unser Herz nach deinem Herzen« eine der innerlichen Frömmigkeit geschuldete Variante der Herzensbildung zum Ausdruck gebracht hat. Der bedeutendste Theologe des beginnenden Mittelalters, der Kirchenvater Augustinus, wird mit einem brennenden Herzen als Attribut dargestellt. Zwei seiner Worte stehen dafür Pate: »Cor ad cor loquitur – Herz spricht zum Herzen.« Und: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.« Beides sind sehr ausdrucksstarke Hinweise auf das Wesentliche des Menschen, das in seinem Herzen beheimatet ist und von dort aus mit anderen Menschen und deren Wesenskern, ihrem Herzen, in Beziehung tritt. In diesem Herzen hört der gläubige Mensch auch die Stimme des »inneren Meisters«, die nicht einfach mit der moralisierenden Stimme des Gewissens gleichgesetzt werden darf.

Zum aufmerksamen Hören aber muss dieses Herz erst befähigt, im wahrsten Sinne des Wortes herangebildet werden. Dafür gibt es verschiedene Wege wie Erziehung und Bildung in einem weit gefassten Kontext. Die Seele, das Herz des jungen Menschen, soll dabei nach einem bestimmten Bild geformt werden. Nur: Welches Bild habe ich von einem idealen Menschen, wie soll sein Herz gebildet sein? Neben dem rein verstandesmäßigen Aneignen und Erlernen von Kenntnissen, abspeicherbarem Wissen, eben den Zahlen, Daten, Fakten und Formeln (den sogenannten »hard skills«), geht es bei der Herzensbildung um die sozialen, emotionalen, kommunikativen, künstlerischen und religiösen Fähigkeiten des Menschen. Diese »soft skills« prägen unser Erfahren, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln, das Bild des Herzens wird so zum Symbol für die Heranbildung einer Persönlichkeit.

Der Begriff »Person« betont, dass der Mensch in Freiheit und mit Vernunft handeln kann, dabei zu sich selbst und zur Umwelt in ein bewusstes Verhältnis tritt. Er übernimmt Verantwortung und Pflichten, verfolgt Zwecke und Interessen und will sein Leben im Bewusstsein der eigenen Geschichte und der offenen Zukunft als einmaliges, unverwechselbares Schicksal gestalten. Die Begriffsgeschichte des Wortes Person kann uns einen Weg zu einem vertieften Verständnis weisen. Der lateinische Begriff persona lässt sich auf zweierlei Arten herleiten. Zum einen über das phönizische Wort persu, das die Maske bezeichnet, durch die der Schauspieler im Theater spricht und an der sich die von ihm verkörperte Rolle zeigt. Zum anderen über das Verbum personare (durchtönen). Diese Ableitung verweist ebenfalls auf die antike Theaterpraxis – hier tönt die Stimme des Schauspielers durch die Maske. Vor diesem Hintergrund betrachtet wäre also eine Person zur Persönlichkeit gereift, wenn deren eigentliches Ich, das »Herz«, zum Tönen, zum Klingen kommt, indem es in Kommunikation mit anderen Menschen tritt.

Ein Grund, warum die Herzensbildung als Fundament jeglicher anderen Bildung und Erziehung in unserer modernen Gesellschaft »zu kurz kommt«, wie der Dalai Lama meint, mag mit einem eigenartigen Phänomen zusammenhängen: dem Paradoxon vom Zweck der Zweckfreiheit. Ich meine damit, dass die einzelnen Bereiche unseres kulturellen Lebens ihre Apriorität behalten müssen als Voraussetzung und Fundament, auf dem aufgebaut werden kann, ohne dabei selber einem Zugriff, einer Verzweckung zu unterliegen. Das Aneignen von Zahlen, Daten, Fakten im üblichen Lern- und Lehrbetrieb unserer Ausbildungsstätten hat den unmittelbar einsichtigen Zweck, Informationen, Wissen, im besten Falle Bildung zu speichern. Darauf sollen später weitere – zumeist faktenlastige – Bildungsinhalte aufbauen, die während des folgenden beruflichen Werdegangs abgerufen werden können. Dieses Wissen, diese Form der Bildung ist messbar. Die Herzensbildung ist dagegen nicht so leicht zu fassen und zu beschreiben. Sie wird durch keine unmittelbar kontrollierbare Datenmenge umschrieben, man kann ihrer nicht richtig habhaft werden, sie ist ein flüchtig’ Ding. Sie kann und darf nicht verzweckt werden, und dennoch ist ein Mensch nur dann richtig Mensch, um ein Wort von Schiller abzuwandeln, wenn er Herzensbildung besitzt. Nur: wie sie erlangen?

Wenn ich mit meinen Freunden über das Thema dieses Buches spreche, höre ich oft den Einwand: »Herzensbildung kann man nicht lernen, die hat man oder hat man nicht.« Hier wird vielleicht zu sehr von der Erfahrung mit erwachsenen, in ihren Verhaltensweisen schon festgefahrenen Menschen ausgegangen. Mein Plädoyer zielt ja gerade darauf ab, die Herzensbildung mit der Wissensvermittlung bei jungen Menschen zu verbinden. Schließlich scheint es ja auch in der Vergangenheit gelungen zu sein, den Menschen in ihrer Entwicklung ein weites und sensibles Herz mitzugeben, das ihnen das Leben mit anderen und das Meistern der eigenen Unzulänglichkeiten erleichtert und sie die Anwendung des erworbenen Wissens mit dem rechten Augenmaß gelehrt hat.

In der Wissenschaftsgeschichte des Westens hat sich seit der Antike über die artes liberales (das sind die »Fächer« der spätantiken und frühmittelalterlichen Bildung wie Rhetorik, Arithmetik und Musik), die Universitätsfakultäten der beginnenden Neuzeit und die gymnasialen Lehrpläne ein Fächerkanon des Wissens herausgebildet, der zwar von Land zu Land und Kulturkreis zu Kulturkreis voneinander abweichen mag, aber doch zunehmend international und global gleichzieht – schon aus ökonomischen Wettbewerbsgründen. Das große Paradigma der Moderne ist dabei die individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der Einbindung in Stand, Zunft oder Klasse, wie das in der Gesellschaft vor der Zeit der Aufklärung üblich war. Die Autonomie- und Kreativitätswerte haben die Oberhand gegenüber den Pflicht- und Sollenswerten gewonnen. Jeder Mensch entscheidet zumindest in der idealen Theorie selbst über seinen Lebensentwurf und dessen Realisierung. Die Grenzen der Selbstentfaltung bilden die Authentizität des Selbst, der Wert alles Lebenden und die Freiheit des anderen – für einen religiösen Menschen ausformuliert in Gottes Gebot, konkret im Christentum in den beiden Grundmaximen des Hauptgebots der Liebe und der Goldenen Regel. Dies dürfen wir bei unserer Betrachtung der Herzensbildung nie aus dem Auge verlieren. Diese Werte sind zu beachten, nur auf ihnen aufbauend kann das Projekt der inneren Formung, der Bildung des »Lebenswissens« als notwendiges Pendant zur Vermehrung des äußeren Faktenwissens akzeptiert werden und gelingen.

Hier kann nur ein erster und zugegebenermaßen subjektiver Versuch gemacht werden, einige Säulen der Herzensbildung aufzuzählen, die für mich als wesentlich zu einer Bestimmung dessen gehören, was wir mit diesem Begriff meinen. Dabei ist festzuhalten: Mag der Begriff Herzensbildung etwas Überzeitliches, Dauerhaftes, Nachhaltiges evozieren, so geht es doch um den konkreten Menschen, dessen Herz, dessen Innerstes, dessen Persönlichkeit gebildet und gefördert werden soll.