Astrid Rauner

Brictom

– Wodans Götterlied –

Von keltischer Götterdämmerung 3

Den Göttern und meinen Vorfahren.

Was bisher geschah

In den hügeligen Ländern, die hinter den Ufern des Flusses Rur liegen, herrschen um das Jahr 120 v. Chr. die Stämme der Eichenleute und Bärenjäger. Eigentlich verbindet diese Leute über Jahre eine enge Freundschaft, gemeinsame Familienbanden wurden geknüpft und die jeweils anderen Herrscher bei wichtigen Fragen zu Rate gezogen. Dann jedoch kommt es zum Bruch zwischen dem Bärenfürsten Behlenos und dem Anführer der Eichenleute, Khomal. Grund sind Anschuldigungen der Eichenleute, die Bärenjäger seien dafür verantwortlich, dass Schamanenschüler der Eichenleute ums Leben kommen, oder sich teilweise selbst wie wahnsinnig in den Freitod stürzen.

Die Schlacht, die daraus erwächst, hätte Behlenos und seinen Bärenjägern beinahe den Untergang gebracht. Im letzten Moment wird den Göttern von ihnen das wertvollste aller Geschenke, ein Menschenleben, als Opfer dargebracht. Doch dieses junge Mädchen, das man Lhenia nannte, erwacht noch in derselben Nacht von den Toten und wendet das Schlachtenglück. Der Einzige, der diesen Augenblick beobachtet, ist ein junger Bärenjäger namens Aigonn. Dieser verdingt sich eigentlich zusammen mit seinem jüngeren Bruder Efoh als Schäfer und ist in der Obhut seines Stiefonkels Aehrel aufgewachsen. Jahre zuvor nämlich hat eine Tragödie seine Familie auseinandergerissen.

Aigonns ältere Schwester Derona wurde mit einer übermenschlichen Gabe geboren. Sie war eine Seherin, die mit den Geistern der Toten sprechen und in die jenseitige Welt, die Andere Welt, sehen konnte. Als Schülerin des höchsten Schamanen der Bärenjäger, Rowilan, hätte ihr eine große Zukunft bevorstehen können. Kurz nach Beginn ihrer Ausbildung verlor Derona jedoch den Verstand und stürzte sich von einem Felsen in den Tod.

Aigonn ist zu jener Zeit ebenso wie der Rest seiner Familie überzeugt, Rowilan sei der Schuldige an ihrem Schicksal. Aigonns Vater war vor Jahren weit genug gegangen, Rowilan zu bedrohen und wurde wegen des Mordversuches an dem Schamanen aus der Siedlung verbannt. Aigonn blieb mit seinem Bruder und seiner Mutter zurück, deren Geist sich über die Trauer und den Verlust immer weiter von den Menschen zurückzog.

Nun, da Aigonn einziger Zeuge ist, als das Menschenopfer von den Toten erwacht, zieht er die Aufmerksamkeit Rowilans auf sich. Dieser vermutet schon lange, dass Aigonn die gleichen Talente wie seine Schwester in sich trägt. Wovon er nichts weiß, ist die Existenz einer Nebelfrau, eines Naturgeistes, der Aigonn seit seinen Kindertagen beschützt und ihm auch jetzt zur Seite steht, da Aigonn immer häufiger mit seiner Sehergabe konfrontiert wird. Letztlich findet er heraus, dass jene wiedergekehrte Tote nicht das geopferte Mädchen selbst ist. Stattdessen hat sich ein fremder Geist, eine wiedergekehrte Seele aus der Vergangenheit, dem toten Körper bemächtigt.

Erst nach und nach klärt sich ihre Identität: Die Wiedergekehrte war einst die Tochter eines mächtigen Sehers und Schamanen der Eichenleute, den man den Moorsänger nannte. Der Moorsänger stammte ursprünglich aus dem fernen Norden, von einer Insel, die man Skandia nennt. Seinen wahren Namen, Alregard, kennt in Aigonns Heimat nahezu niemand. Als mächtigster unter den Schamanen wurde er letztlich von den Eichenleuten sogar zum Fürsten bestimmt und hinterließ der Nachwelt zwei Söhne und eine Tochter, Haelinon, die nach seinem Tod als mächtigste Schamanin ihrer Zeit galt.

Haelinon ist im Körper der Toten wiedererwacht. Sie wurde von ihrem eigenen Sohn aus dem Totenreich gerufen, von Aehrel, der sich letztlich auch als Schuldiger am Tod von Derona und den anderen Schamanenschülern herausstellt. Aehrel, ihr spätes und verstoßenes Kind, war besessen von dem Gedanken, ihren Geist aus dem Totenreich zu beschwören, damit sie die Schuld an ihm begleichen könne, die er ihr nach ihrem damaligen Ableben zugesprochen hatte.

Aehrel, der darüber verzweifelte, keine der Gaben seiner Vorfahren geerbt zu haben, benutzte die Schamanenschüler, um Zugang zur Anderen Welt zu erhalten, ohne jedoch kontrollieren zu können, was dabei geschah. Zuletzt zwingt er sogar Aigonns Geist zum Übergang in die Andere Welt. Dieser begegnet dort seiner bis dahin verstorbenen Mutter und steht schließlich den Göttern gegenüber, darunter dem Herrn des Lebens, Lugus selbst, der ihn schließlich über seine Geistersehergabe hinaus mit der Fähigkeit beschenkt, auch in die Zukunft sehen zu können.

Die Vorahnungen, mit welchen der Gott Aigonn zurück in die Welt der Menschen sendet, sind jedoch düster. Der zu Unrecht beschuldigte Rowilan kann Aehrel gefangennehmen. In einem letzten Kampf mit den Eichenleuten wird dann aber der Bärenfürst Behlenos getötet, bevor die Verbrechen durch Rowilan und Aehrel kurz vor der Sommersonnenwende aufgeklärt werden.

Rowilan ist danach vom Hass auf Aehrel zerfressen. Er hat Derona, Aigonns Schwester, geliebt. Sein Zögern, Aehrel zu töten, bietet allerdings Haelinon die Gelegenheit, ihren Sohn zu befreien und mit ihm in die Wälder zu fliehen. In den Monaten danach versucht Rowilan, Aigonn als seinen Schüler zum Schamanen auszubilden. Bereits im Herbst jedoch verlässt Aigonn die Bärenjäger auf eine Reise in Richtung Norden. Sein Ziel ist Skandia, die Heimat des Moorsängers, wo Aigonn hofft, andere Seher zu treffen und sich dort einen neuen Lehrmeister zu suchen. Den Stämmen seiner Heimat wurde nämlich, außer ihm und seiner Schwester, seit Generation kein Seher mehr geboren. Das vorbelastete Verhältnis zu Rowilan macht ihm den Abschied leicht.

Mit dem Segen der Götter erreicht Aigonn die Küsten des Nordmeeres und findet dort Unterschlupf bei einer Fischerfamilie vom Stamm der Kimbern. Er beobachtet dort eines Tages durch Zufall, wie das Familienoberhaupt Lorn eine Sklavin misshandelt, eine ihm unheimliche, junge Frau, die auf den Namen Tiuhild hört. In dem Fischerdorf sagt man ihr dämonische Kräfte nach, sie sei eine Hazusa, eine Hexe. Als Lorn wenig später einen Herzanfall erleidet, glauben alle, Tiuhild hätte einen Fluch über ihn gelegt. Die junge Frau soll zur Rechenschaft gezogen werden, Aigonn aber, entsetzt von der Engstirnigkeit der Dorfbewohner, verhilft ihr zur Flucht unter der Bedingung, von ihr nach Skandia gebracht zu werden. Tiuhilds Sippe selbst lebt nicht weit entfernt von den Leuten des Moorsängers.

Bald jedoch bereut Aigonn seine Entscheidung. Tatsächlich ist Tiuhild in Besitz einer dunklen Kraft, über die sie kaum Kontrolle hat. Im Gegensatz zu anderen Schamanen ist sie in der Lage, den Geistern, die im Meer, den Wäldern oder der Luft leben, für kurze Zeit ihren Willen aufzuzwingen und diese zu manipulieren. Dadurch ist ihr die ewige Rache der Geister gewiss.

Tatsächlich gelingt es Tiuhild jedoch, Aigonn trotz eines Schiffbruchs auf der Überfahrt, nach Skandia zu bringen. Kaum dort angekommen, drängt Aigonn darauf, seinen Weg von dem der jungen Frau zu trennen. In der Heimat des Moorsängers empfängt man ihn aber mit Ablehnung. Er wird davongejagt und ist letztlich wieder auf Tiuhilds Hilfe angewiesen. Es stellt sich heraus, dass Alregard, der Moorsänger, seiner Zeit von seiner Sippe auf Grund eines Vergehens an den Göttern verstoßen wurde. Alregard hat ein Heiligtum des Donnergottes entweiht und dabei den Zorn dessen Dieners, des Sturmgeistes Wode, auf sich gezogen.

Nachdem Aigonn eine dunkle Vision über die Geschehen in seiner Heimat empfängt, reist er mit Tiuhild in jenes Heiligtum, um festzustellen, dass Alregard dort ein uraltes Wandbild beschädigt und scheinbar ein Stück Fels daraus entfernt hat. Wode fühlt sich durch die Kühnheit der Eindringlinge herausgefordert. Er verfolgt die Gefährten fortan, die überstürzt beschließen, zurück in Aigonns Heimat aufzubrechen. In einer Vision ereilt Aigonn nämlich der Hilferuf Rowilans.

Dieser ist in der Zwischenzeit überraschenderweise durch ein Gottesurteil zum Fürsten der Bärenjäger erwählt worden. Sein Widersacher Fewiros, der Vetter des verstorbenen Fürsten Behlenos, erkennt ihn als solchen jedoch nicht an. Obendrein paktiert Fewiros mit einem Schamanen der Eichenleute, einem alten Götterdiener mit Namen Germos. Rowilan, der einen neuen Krieg fürchtet, als drei seiner Späher, darunter ein guter Freund von ihm, verschwinden, findet heraus, dass der Eichenfürst Barnas selbst scheinbar nichts von den Geschehen weiß. Germos handelt in eigenem Ermessen.

Haelinon lüftet für Rowilan schließlich das Geheimnis, dass Germos offenbar auf der Suche nach jenem Schatz, jener Reliquie, dem Stück des Wandbildes ist, das Alregard aus Skandia gestohlen hat. Weder Haelinon, noch Rowilan oder Germos wissen jedoch, worum genau es sich bei dieser Reliquie handelt. Haelinon offenbart lediglich, dass sie große, unheilvolle Macht besitzen soll. Die Tochter des Moorsängers versucht alles zu tun, um die Reliquie in ihren Besitz zu bringen und vor dem Zugriff der Fremden zu schützen – auch vor dem Rowilans. Sie erfährt, dass es in ihrem alten Leben Germos war, der sie tötete. Sie verstümmelt den Schamanen, lässt ihn allerdings am Leben.

Gemeinsam mit Rowilan finden sie das Versteck des Wandbildes, das jedoch bereits ausgeraubt wurde. Kein Hinweis ist auf denjenigen vorhanden, der die Reliquie genommen haben könnte. Rowilan entdeckt lediglich einen dort verlorenen Ring, den er verheimlicht und versteckt.

Die Rolle des Fürsten lastet schwer auf ihm. Fewiros hat ihm in der Zwischenzeit offen den Krieg erklärt, die Treue seiner Verbündeten ist wankelmütig. Gerade so gelingt es ihm unter großen Verlusten, Fewiros zurückzuschlagen. Dann aber muss er erfahren, dass eine seiner engsten Vertrauten, seine Freundin Maelina, ihn ebenfalls verraten hat und mit Fewiros paktiert. Ohnmächtig über diese Enthüllung nimmt er Haelinon und Aehrel gefangen und erwartet nun mit Schrecken die nahe Zukunft und einen weiteren Angriff des Fewiros, von welchem er nicht weiß, wie er ihn noch abwehren soll.

Prolog

Die Glut im Herdfeuer des Bärenfürsten war erloschen. Der Regen, der durch den Rauchabzug hineingefallen war, hatte das restliche Holz zu stark durchnässt, um es wieder zum Brennen zu bringen. Rowilan lag fröstelnd in seiner ausgekühlten Bettstatt. Zwar hatten die Schaffelle ihn noch gewärmt, als er unter sie gekrochen war, nur die Kälte in seinem Innersten, die mochten sie nicht zu vertreiben.

Im Schwindel des Einschlafens drehte er sich auf die Seite und starrte mit halboffenen Augen zur Wand. Seine Gedanken waren schon fern, als er ohne zu denken eine Hand unter den Fellen und seiner Decke hervor schälte, über den freien Platz neben sich in der Bettstatt tastete, suchend, bis ihm gewahr wurde, dass es nichts zu finden gab. So lang schon nicht mehr.

Augenblicklich legte sich über Rowilan eine uralte Traurigkeit. Der Schmerz hatte in den Jahren an Heftigkeit verloren. Nur die verkrustete Wunde, die er tief in ihm zurückgelassen hatte, vermochte noch immer zu bluten. Es genügten diese alten Gesten, seit acht Jahren leer und zwecklos, die er doch nicht hatte ablegen können. Ein Name hing plötzlich im Raum, der Rowilan eine stumme Träne aus dem Auge lockte.

Derona.

Der Gedanke an diesen Verlust, den bis heute niemand hatte aufwiegen können, verwandelte die Stille des Hauses in eine Einsamkeit, die Rowilan kaum noch ertragen konnte. Acht Jahre. Deronas Tod hatte eine Lücke in sein Leben gerissen. Mit ihr war ein Teil seiner Zukunft gestorben, die so ganz anders hätte verlaufen können. Im Grunde war ihr Tod der Anfang gewesen – der Beginn all dieses Unheils, das von Jahr zu Jahr angewachsen war.

Seine Gedanken waren bei ihr, als sich über ihn die Ruhe des Schlafes legte.

Es war eine Sommernacht gewesen. Der Duft blühenden Lebens hing über der Siedlung, von einer lauen Brise getragen, die Blütensamen über die Wiesen wehte. Und alle Menschen, die sich dem Schlaf noch nicht hingegeben hatten, waren hinaus auf die Rurauen gekommen, um gemeinsam zu feiern.

Rowilan umgab eine Flut aus Stimmen. Drei Lagerfeuer waren entzündet worden, deren Flammen Funken wie leuchtende Sterne in die Nacht hinaus schleuderten. Von allen Seiten kamen die Menschen auf ihn zu, überhäuften ihn mit Glückwünschen und Ehrbekundungen, die sein Geist noch gar nicht aufzunehmen in der Lage war, so sehr benebelte ihn noch die Wirkung des heiligen Trankes. Nur eines hatte er sich begreiflich machen können: Sie alle waren wegen ihm hier versammelt. Dies war sein Festtag.

„Ich wusste, dass es für dich eine Leichtigkeit sein würde.“ Eine Hand legte sich auf Rowilans Schulter und ließ ihn zur Seite sehen. Der Mann, der neben ihm stand, hatte die Vierzig lange überschritten. Graues Haar fiel ihm in lichten Strähnen bis zu den Schultern hinab und war mit einem Band aus Birkenrinde nach hinten gebunden. Im Gegensatz zu seinen Standesgenossen schmückte er sich nicht mehr mit den unzähligen Würdezeichen, die ihm als höchstem Schamanen seines Stammes zugestanden hätten, sondern hatte einzig eine knöcherne Schnitzerei an einem Lederband um den Hals gelegt. Es war eine Triade aus drei Vögeln, Symbol des Lugus, des Herrn des Lichtes, des Himmels und Schutzherr der Schamanen. Für einen Unwissenden kein kostbares Schmuckstück, doch für einen Eingeweihten von unschätzbarem Wert.

Segastes. Rowilans Lehrmeister. Höchster Schamane der Eichenleute.

Für sie beide war es ein besonderer Tag. Und Rowilan wollte diesem gerecht werden. Er hatte den Eindruck, dass er etwas entgegnen musste. Doch die Heftigkeit des gerade verstrichenen Rituals hatte ihm noch die Sprache geraubt. Die frische Tätowierung auf seiner bloßen Brust brannte wie Feuer. Sie war der reelle Beweis, dass all dies kein Traum sein konnte.

Segastes lächelte gütig, als könne er die Gedanken seines Schülers lesen. Dies war die Nacht ihres Abschiedes. Das Ende von Rowilans Ausbildung. Noch immer konnte er es nicht fassen.

Ich habe das heilige Ritual vollführt. Im Rausch des Trankes der Götter habe ich mich den Geistern des Waldes gestellt und einen Boten der Götter beschworen. Mein Leben und meine Dienste habe ich den Unsterblichen geweiht – ein gerechter Tausch für die Fähigkeiten, die sie mir verliehen haben. Mit meinem eigenen Blut habe ich den Pakt besiegelt und bin von einem Gott gezeichnet worden. Neineiner Göttin. Artio. Herrin der Tiere. Gemahlin des Waldesherrn. Mutter des Artos. Beschützerin des Stammes, dem ich geboren wurde.

Wie in Trance hielt Rowilan sich jedes dieser Worte noch einmal vor Augen, bevor er begriff, dass sich um ihn eine gewaltige Menschenmenge versammelt hatte, die ihn erwartungsvoll anblickte. In ihr erkannte er unzählige Bewohner der Eichenfeste, die im Schatten des Hügelhanges über ihnen thronte. Aber mindestens ebenso viele Bärenjäger waren gekommen.

Das Ritual ist noch nicht zu Ende, musste er sich erinnern. Du musst den Menschen berichten, welche Botschaft dir die Götter verkündet haben.

Doch bevor Rowilan noch ein Wort herausbrachte, huschte sein Blick hilfesuchend zu seinem Lehrmeister, der lächelnd neben ihm stand. Noch ein letztes Mal, schienen seine Augen sagen zu wollen, zusammen. Dann fasste Segastes Rowilans rechtes Handgelenk und hob den Arm in die Höhe, als wolle er einen Sieger ehren. Was er der Menge jedoch präsentierte, war ein gerader, noch immer blutender Schnitt, der sich vom Handballen bis zu Rowilans kleinem Finger erstreckte. Mit schallender Stimme verkündete der Schamane: „Es ist mit Blut besiegelt worden! Die Götter haben das Opfer angenommen!“

Jubelschreie. Sein Jubel. Nur für Rowilan. Er hatte es geschafft, hatte bestanden, wo andere Schamanenschüler schon mit ihrem Leben gezahlt hatten. Hinter ihm lag die Prüfung, die jeder zu überwinden hatte, der den Göttern sein Leben weihte. Zu gewinnen gab es nur die Schamanenwürde, Schande oder den Tod.

Nun lag es an Rowilan. Als der junge Mann noch immer kein Wort über die Lippen brachte, flüsterte Segastes ihm zu, diesmal drängender: „Welcher Gott hat zu dir gesprochen? Du musst es ihnen sagen!“

Rowilan schloss die Augen und holte Luft. Dann rief er über die Menge: „ARTIO!“ Augenblicklich verstummten die Rufe. „Artio hat mein Opfer angenommen und mich gezeichnet!“

Erst erstauntes, dann verwirrtes Murmeln. Die ersten freudigen Rufe erschollen aus den hinteren Reihen der Menschenmenge, während die vorne Stehenden sich noch bewusst zu machen schienen, was diese Nachricht bedeutete. Artio hatte Rowilan gezeichnet. Jeder Schamane wurde im Ritus seiner Initiation von einem Gott anerkannt, unter dessen Schutz er von da an wirken sollte. Dass der hoffnungsvollste, erfolgreichste Schamanenschüler der Eichenfeste ausgerechnet von der Schutzherrin seines Herkunftsstammes, den Bärenjägern, erwählt worden war, verlieh diesem Festtag eine ungeahnte Wendung.

Auch Segastes zog nun erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass Rowilan als sein Nachfolger gehandelt wurde. Dass nun aber ausgerechnet die Göttin des Bärentotems ihn als Diener zu sich rief, war ein Zeichen der Götter, das nicht ignoriert werden durfte.

Artio ruft mich nach Hause. Rowilan begann allmählich zu begreifen. Ich werde nicht bei den Eichenleuten bleiben, sondern zu meinen Leuten zurückkehren.

Der erste aus der Menge, der dies zu begreifen schien, war ein in die Jahre gekommener Mann, dem das Alter aber die Würde und den Respekt seines Standes nicht hatte nehmen können. Gefolgt von einem noch jungen Krieger, der sein Glück kaum zu fassen schien, bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Der goldene Fürstentorques an seinem Hals leuchtete im Feuerschein, als hätten die Götter das Metall entzündet. Strahlend trat er auf Rowilan zu, der sich das Ausmaß seiner Worte noch immer begreiflich zu machen versuchte, stellte sich an seine Seite und verkündete den nun irritiert diskutierenden Eichenleuten: „Die Götter haben entschieden und Rowilan die Würde des Schamanen zuerkannt! Er wird fortan im Dienste des Stammes wirken, dem er geboren wurde!“

„Rowilan!“ Dem jungen Krieger, der dem Bärenfürsten gefolgt war, war es endlich gelungen, für kurze Zeit die Aufmerksamkeit des neu ernannten Schamanen zu gewinnen. Aufgekratzt zupfte er immer wieder an Rowilans Gürtel, da er sich nicht zu trauen schien, den noch mit heiligem Ocker bemalten, bloßen Oberkörper zu berühren, und bedeutete diesem strahlend: „Rowilan, die Götter haben entschieden! Du kommst nach Hause! Wenn der Rat und die Schamanen des Hohen Göttersitzes erfahren, dass Artio selbst dich erwählt hat, obwohl die Eichenleute alle Ansprüche auf dich und deine Fähigkeiten erhoben haben, werden sie dich zu unserem höchsten Schamanen ernennen! Wenn Vater sein Wort für dich einlegt, wird es beschlossene Sache sein!“

Die kindliche Freude lockte Rowilan endlich ein Lächeln auf die Lippen und begann in seinem Geist die unerwartete Wendung der Ereignisse in freudige Leichtigkeit zu hüllen. Der junge Krieger, der mit seinen zwanzig Jahren kaum älter war als Rowilan selbst, war nun um die nötige Würde seines Standes bemüht. Sein Vater, der Fürst der Bärenjäger, hatte sich die Ehre herausgenommen – bestärkt durch Segastes – eine Lobrede auf Rowilans Können anzustimmen, von welcher der Geehrte jedoch nur die Hälfte zu fassen bekam.

Danach trat der Eichenfürst aus der Menge hervor, gefolgt von seinen eigenen Schamanen, um Rowilan zum Bestehen jener schweren Prüfung zu beglückwünschen. Die Enttäuschung über den Umbruch all seiner Pläne mit jenem talentierten Eingeweihten stand ihm jedoch ins Gesicht geschrieben. An der Seite von Segastes, dem Bärenfürsten und dessen Sohn ließ Rowilan alle Glückwünsche und Ehrbekundungen über sich ergehen wie einen Regenschauer, bevor man endlich von ihm abließ, und er im Schatten eines Weidengebüschs alles sacken lassen konnte, was am vergangenen Abend und der begonnen Nacht auf ihn eingeströmt war. Der Fürstensohn war dabei nicht von seiner Seite gewichen. Wie ein Kind, dem man soeben das schönste Geschenk seines Lebens gemacht hatte, tollte der Krieger um ihn herum, nutzte die erste Gelegenheit, um zwei Hörner mit bestem Met zu füllen, und wiederholte immer wieder: „Sie werden dich zu unserem höchsten Schamanen machen, ich weiß es! Wir werden eines Tages gemeinsam unseren Stamm anführen – so, wie wir es früher immer zusammengesponnen haben! Ich kann es immer noch nicht fassen!“

Behlenos. Der Name allein löste ein Stück der Anspannung von Rowilan, die Gewissheit, dass er heute Abend an seiner Seite war – der beste Freund seiner Kindertage. Lächelnd beobachtete der Schamane, wie dieser überschwänglich fast die Hälfte seines Mets auf die Wiese schüttete, begleitet von den Worten: „Alle Ehre der großen Artio, die unseren Rowilan nach Hause führt!“ Den nächsten tiefen Schluck nahm er selbst, bevor er unablässig weiterredete: „Oh, so viele Leute wirst du kennenlernen! Vater hat unsere Heimstatt ja in die neue Siedlung ganz im Westen verlegt. Von dort reitet man keinen ganzen Tag, um die Eichenleute zu erreichen. Du wirst es mögen! Warte!“

Damit rannte er johlend davon, um nur kurze Zeit später mit einer Gruppe junger Frauen zurückzukehren. Im Laufen noch tadelte er sie: „Warum ziert ihr euch so? Wollt ihr Rowilan nicht zu seiner großen Würde beglückwünschen? Ich sage euch, stellt euch gut mit ihm. Wer weiß, ob er nicht bald eine noch größere Ehre verliehen bekommt!“

„Bremse dich bitte, Behlenos!“, fand Rowilan endlich seine Sprache wieder. Der ganze Trubel wuchs ihm über den Kopf. Die Kritik, die in seinen Worten mitschwang, war jedoch keineswegs böse gemeint und trübte Behlenos’ Frohmut nicht im Geringsten. Stattdessen schob er die drei sich nun leicht beschwerenden, jungen Frauen wie ein Gastgeschenk vor seinen Freund, drängte sich zwischen sie und erklärte: „Das hier ist der bildschöne Spross zweier Berater meines Vaters.“ Er legte beide Arme anzüglich um so viele Taillen, wie er fassen konnte und gewährte zweien von ihnen, sich freundlich meckernd wieder aus seinem Griff zu befreien.

Diejenige, die in seinem Arm zurückblieb, war die einzige, die Rowilan kannte. Es war das Mädchen, das man Behlenos im vergangenen Sommer bereits versprochen hatte und nun bald seine Ehefrau werden würde. Von den anderen beiden trat eine hochgewachsene Dunkelhaarige auf Rowilan zu, verneigte sich ehrfürchtig und bekundete nun mit deutlich respektvollerer Distanz: „Ich beglückwünsche Euch zu der Ehre, die die Götter Euch erwiesen haben, mein Herr Rowilan. Es ist ein großes Glück für die Bärenjäger, dass Ihr heimkehren werdet!“

Was er darauf geantwortet hatte, war kaum der Rede wert gewesen. Es irritierte Rowilan zutiefst, dass Gleichaltrige ihm denselben Respekt entgegenbrachten, mit dem sie auch ihren Fürsten ansprachen. Das sind sie mir ab jetzt schuldig. Ich bin ein Diener der Götter, ein Schamane.

Endlich begann sich in Rowilan der Triumph über diesen Gedanken auszubreiten. Die Last, der Druck der vergangenen Monate fiel von ihm ab wie eine zerschlagene Rüstung und erfüllten den jungen Mann mit einer so beflügelnden Leichtigkeit, dass sich das Lächeln auf seinen Lippen mehr und mehr in ein Lachen verwandelte. Heimkehren. Nach so vielen Jahren.

Rowilan begann mit dem dunkelhaarigen Mädchen zu sprechen. Die Erinnerung daran, worüber sie geredet hatten, war schon lange verblasst. Irgendwann jedoch, nachdem Behlenos seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit seiner Verlobten vergönnt hatte, stellte dieser fest: „Hier fehlt doch noch jemand! Renari!“ Er tippte der Dunkelhaarigen auf die Schulter. „Wo ist deine Freundin? Utilains Tochter ist mit hergekommen! Wo ist sie hin?“

„Da steht sie doch!“

Im selben Moment warf eine junge Frau mit gerunzelter Stirn den Kopf herum, die eben noch mit einem Händlerpaar aus der Eichenfeste gesprochen hatte.

Viel von diesem Abend war im Dunkel der Erinnerungen verschwunden, aber sie sah Rowilan auch nach so vielen Jahren noch vor sich wie an jenem Abend.

Das Mädchen war jünger als er gewesen, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Das Alter hatte an ihrer knabenhaften Figur kaum Spuren hinterlassen. Es war Nacht. Im roten Schein des Feuers schimmerten alle Augen gleich. Nur ihre, ihre warmen, grünen Augen, waren anders als alle anderen. Wie von einem inneren Strahlen erfüllt, schienen sie aus der Dunkelheit zu leuchten, ein spöttisches Lächeln darin gefangen, das sich über alle Ergebenheit und Respektsbekundungen erhob.

Von einem Moment auf den anderen wurde Rowilan aus seiner Trance über ihren Anblick befreit. Wie ein störendes Element drängte Behlenos sich auf einmal in das Bild, während er auf die junge Frau zuging und mit großer Geste aufforderte: „Derona! Du zierst dich so! Wozu bist du hergekommen, wenn du es nicht einmal für nötig hältst, Rowilan deine Aufwartung zu machen!“

Der Fürstensohn wollte die junge Frau bereits am Arm fassen, um sie mit sich zu ziehen, doch diese entwischte seinem Griff mit vogelgleicher Leichtigkeit. Auf seinen Kommentar hin, zog sie unbeeindruckt die Augenbraue in die Höhe und setzte dem entgegen: „Ich wollte sehen, ob es nötig ist. Nur wie es scheint, befindet sich unser frisch ernannter Schamane in ausreichender Gesellschaft.“

„Du brauchst dich in dieser Runde nicht ausgeschlossen zu fühlen!“ Woher Rowilan auf einmal die Worte nahm, wusste er selbst nicht zu sagen. Ohne seine beiden Begleiterinnen noch eines Blickes zu würdigen, trat er auf Derona zu, die ihm jedoch nur noch widerwillig Aufmerksamkeit zollte. Immer wieder huschte ihr Blick zu ihren vorherigen Gesprächspartnern, die die Diskussion scheinbar ohne sie fortsetzten, und machte keinen Hehl daraus, dass sie an dieser neuen Unterhaltung ganz und gar kein Interesse hatte.

„Macht Euch keine Sorgen, Herr Rowilan. Wenn ich in dieser Hinsicht Bedenken hätte, würde ich mich zu Wort melden. Ihr solltet Euren Abend genießen und die Zeit nicht mit solchen Banalitäten vergeuden, außer denen ich zu Eurer Unterhaltung nichts beitragen kann. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet?“

Damit hatte Derona sich bereits von ihm wegdrehen wollen, Rowilan aber reagierte schneller. Bevor die junge Frau seinem Griff entkommen konnte, hatte er sie an der rechten Schulter gefasst – ohne Gewalt, doch vehement genug, dass sie sich dem nicht entziehen konnte. Unmut machte sich nun in ihrer Miene breit, als der Schamane sie gegen ihren Willen zu sich zog und damit zwang, ihm in die Augen zu sehen. Ihre abweisende Art allein war eine Unhöflichkeit, die sich nur wenige an ihrer Stelle erlaubt hätten. Als Diener der Götter standen die Schamanen direkt unter den Fürsten – ja in mancher Weise sogar mit ihnen auf selber Höhe. Dass Derona ausgerechnet Rowilan, zu dessen Ehre diese Feier überhaupt abgehalten wurde, nun die angebrachten Höflichkeiten schuldig blieb, erboste diesen zu seinem eigenen Erstaunen keineswegs. Stattdessen war eine belustigte Neugierde in ihm erwacht, die dem Schamanen in dieser Art bisher fremd gewesen war.

Nachdrücklicher diesmal betonte er: „Du scheinst nicht verstanden zu haben, dass mir deine Anwesenheit ganz und gar nicht missfällt, Derona. Ich frage mich nur, warum es dir mit mir nicht genauso geht. Mir scheint fast, als hielte dich ein rechter Groll gegen mich davon ab, eine eigene Meinung einzuholen.“ Rowilan hatte amüsiert und souverän klingen wollen, um Derona für sich zu gewinnen. Diese schien sich aber nun verspottet zu fühlen. Mit funkensprühendem Blick sah sie zu ihm auf, versuchte, sich mit Gewalt seines Griffs zu entziehen, bevor sie zischte: „Nun, ich schätze das Wort meines Vaters. Und dieser nennt Euch einen aufgeblasenen Wichtigtuer. Einen, der die eben gleichen leeren Worte spricht wie die nordischen Schamanen, die früher von unseren Opfern zehrten, ohne je den wahren Willen der Götter zu vollführen.“

Für einen Herzschlag erstarrten sie beide. Der Nachhall ihrer Worte echote in Rowilans Ohren, dass ihm in seiner Fassungslosigkeit jede Entgegnung entfiel. Es war Derona, die sich als erste gewahr wurde, in welche Gefahr sie ihre Familie nun durch ihre Gedankenlosigkeit gebracht hatte. Doch obwohl eine Stimme in Rowilans Kopf aufschrie vor heillosem Zorn, nahm dieser nicht von ihm Besitz. Stattdessen entkam seiner Kehle ein so ungläubiges Lachen ob dieser Dreistigkeit, dass selbst die Umstehenden sich zu ihnen umblickten – ohne jedoch, dass Rowilan sich ihrer bewusst wurde.

Derona war in Erwartung seiner Wut in seinem Griff erstarrt. Was der Schamane dann jedoch tat, schien keiner von ihnen erwartet zu haben. Behutsam, ja beinahe liebevoll, griff Rowilan die rechte Hand der jungen Frau und legte deren Handfläche flach unterhalb seiner rechten Brust ab. Die frische Tätowierung, die man ihm dort nach Beendigung des Rituals gestochen hatte, schmerzte erbärmlich unter ihrer Berührung. Dieses Gefühl jedoch verflog in der Intensität des Moments.

Rowilan fühlte sie noch, die Berührung der Göttin, an eben jener Stelle, wo nun Deronas Hand lag. Ganz langsam legte er nun die eigene darüber. Er hatte keine Worte dafür, was in seinem Innersten geschah. Eine unbeschreibliche Wärme flutete seinen Körper, während er der jungen Frau in die Augen blickte. Und sie seinem Blick standhielt. Ganz leise nur, dass niemand der Umstehenden ihn hätte verstehen können, raunte Rowilan: „Ich bin kein Lügner. Die Götter haben zu mir gesprochen und eine von ihnen hat mich in ihren Dienst berufen. Es ist mir gleich, welche Geschichten andere Menschen zusammenspinnen, seien es Fremde, ein Fürst oder dein Vater. Ich selbst kenne die Wahrheit. Und ich kann sehen, du spürst sie auch, genau hier.“

Derona schwieg. Rowilan zählte die Herzschläge nicht, da sie ihm so zwiegespalten in die Augen sah. Einen anderen Menschen hätte der Schamane für seine Dreistigkeit bitter bestrafen können. Doch wusste er, dass sie es nicht getan hatte, um ihn zu demütigen. Sie war eine Jägerin, die den Gewinn ihrer Beute abwog. Und soeben hatte es den Eindruck, als erwache in ihr die Neugierde an dieser Jagd.

Rowilans Worte hatten sie nicht beunruhigt. Der Schamane war im Selben fasziniert und beängstigt ob dieser inneren Kraft, die in ihren Augen verborgen lag. Sie sah ihn nicht an, wie andere Menschen es taten. In jenem Augenblick, da es nur die Sterne, die Flammen und der Funkenregen der Lagerfeuer waren, die die Nacht erhellten, blickte sie durch alle Panzer, mit welchen der Schamane sich gegen die Außenwelt wappnete, und sah hinein in seine Seele. Und noch tiefer. Überrascht beobachtete Rowilan, wie, gleich von einer fremden Macht beschworen, die Erinnerung an das Ritual vor sein inneres Auge zurückkehrte. Die Emotionen schwemmten wie eine Wasserflut über ihn hinweg, seiner eigenen Kontrolle entzogen, für einen Herzschlag nur, bis sie sich ebenso schnell zurückzogen und er verstand, was geschehen war. Was Derona getan hatte.

Sie liest aus meinen Erinnerungen.

In diesem Moment verschwamm das Bild mit den Gefühlen der Gegenwart. Rowilan glaubte, die Emotionen würden ihn ertränken, die über ihm zusammenschlugen. Derona, ihre Wärme, die Wärme ihrer Gegenwart, ihrer Seele, die der seinen so nah gewesen war wie keine je vor ihr. Er spürte es noch. Spürte, wie sie binnen eines Herzschlages einen Teil seines Wesens erweckt hatte, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass es ihn gab.

Rowilan fühlte sie, er fühlte den Moment, da sie in seine Seele gegriffen hatte. Eine Berührung im Geiste, die Raum geschaffen hatte, um ein ganzes Leben darin zu gebären. Ein Leben, das es nie gegeben hatte. Ein auslaugender Durst, den sie nicht mehr hatte stillen können. Die Leere in Rowilan brannte schlimmer als jede Wunde. Sie hatte ihn zurückgerufen, den Schmerz, der ihn zu zerreißen drohte. Rowilan hatte sich ihm in jenem Moment ausgeliefert, da Traum mit kalter Wirklichkeit verschmolz, und die Realität die Wärme aller Erinnerungen in ein Glühen verwandelte, das ihn langsam von innen heraus verbrannte.

Der Schamane kämpfte sich aus seinen Decken, sprang aus dem Bett. Rowilan verlor die Kontrolle, er wusste es. Das qualvolle Stechen, das seinen Arm entlang jagte, als er mit aller Gewalt gegen den Türbalken schlug, versiegte in der Macht seiner Gefühle. Mit einem Mal schien die Enge seines Hauses den Fürsten zu ersticken, sodass er barfuß durch die Tür in die regennasse Nacht hinausjagte. Rowilan sah nicht, wohin er rannte. Es gab nichts, an das er denken konnte, außer den Schmerz. Und die Gewissheit, dass er ihn zerreißen würde, wenn er ihm nicht endlich ein Ende setzen konnte.

Er musste atmen, ganz langsam. Rowilan hatte kein Gefühl, wie viel Zeit seit dem Abend vergangen war. Doch dieser Traum, die Erinnerung und der Kummer hatten ihn so ausgelaugt, als ob er nie geschlafen hätte.

Atmen. Nur atmen.

Einen kurzen Moment schloss Rowilan die Augen, um sich zu sammeln. Nachdem er schließlich in sein Haus zurückgekehrt war, versuchte er in seiner Bettstatt neuen Schlaf zu finden, doch die Ruhe kehrte nicht wieder. Dutzende Male wälzte er sich sinnlos von einer Seite zur anderen, bevor er den Kampf aufgab, über seine Schlafkleider Füßlinge, Gürtel und Mantel streifte und erneut hinaus in die Dunkelheit floh.

Der Regen war stärker geworden. Über dem Horizont schien als erste Ahnung die Morgendämmerung zu hängen. Je mehr Rowilan jedoch versuchte, einen genauen Zeitpunkt abzuschätzen, desto mehr schien es ihm eine Täuschung des Wetterleuchtens.

Ziellos streifte der Fürst durch seine schlafende Siedlung, die Wälle entlang, die mit Palisaden so verstärkt waren, dass sie einem Angriff ebenso gut standhalten würden wie die Verteidigungsanlagen ihres alten Dorfes. Die Wachposten, die selbst zu dieser Nachtzeit noch ihren Dienst verrichteten, machte er nur als schwarze Silhouetten vor dem Himmel aus. Sie verrieten sich einzig durch ihre langsamen Bewegungen und ließen Rowilan genug Raum, ihren Weg zu meiden.

Der Fürst wollte mit niemandem sprechen. Seine Gedanken kreisten wie vom Sturm getragen zwischen Bildern der Gegenwart und der Vergangenheit, auf der Flucht vor dem Schmerz, der ihn abermals einholen wollte. Ein trauriges Lächeln huschte über Rowilans Gesicht, als er sich die letzten Worte ins Gedächtnis rief, die seine Verlobte ihm damals bei ihrer ersten Begegnung an den Kopf geworfen hatte. Ihre Eltern hatten niemals eine hohe Meinung von ihm gehabt. Ihr Vater Utilain noch weniger als ihre Mutter Moribe.

Rowilan war dabei gewesen, als Deronas Mutter im vergangenen Jahr verstorben war. Über viele Jahre hatte sie dahinvegetiert, die Gedanken der Wirklichkeit entrückt, die ihr so viel Kummer bereitet hatte. Als Aigonn Rowilan dazugerufen hatte, um ihr Leben zu retten, war ihm klar gewesen, dass die Götter Moribe endlich hatten erlösen wollen. Nichts hatte er für sie tun können, jene Frau, die seine Schwiegermutter hätte werden sollen. Selbst im Augenblick ihres Todes hatte sie nur ihren Sohn Aigonn erkannt, nicht aber ihn, Rowilan, den einstigen Auserwählten ihrer Tochter. Dabei hatten ihre letzten Worte sogar Derona gegolten …

„Derona hat es gewusst. Sie wusste, wer die Tochter des Sängers ermordet hat. Sie selber hat es ihr gezeigt, aber Derona wollte es mir nicht sagen. Sie hat gesagt, dass es niemand wissen darf.“

Plötzlich hielt Rowilan inne. Jene Worte, die Moribe ihrem Sohn im Sterben noch anvertraut hatte, echoten leise in seinem Hinterkopf, während sich ihm erst jetzt ihre wahre Bedeutung erschloss.

Derona, seine Derona, hatte zu ihren Lebzeiten erfahren, wer Haelinon, die Tochter des Moorsängers, ermordet hatte. Sie hatte es gewusst, weil Haelinons Geist zu ihr gesprochen hatte.