coverpage

Über dieses Buch:

Ihre Großmutter Therese bedeutet alles für Marie – schon immer war sie Mutter und beste Freundin in einem. Als Marie nach ihrem Studium nicht weiß, wo ihr Leben sie hinführt, kehrt sie zunächst in das schöne Haus in Blankenese zurück. Aber dann verstirbt Therese – und Maries Welt droht zu zerbrechen. Allein die Aufgabe, die Hinterlassenschaften ihrer Oma zu ordnen, hält sie aufrecht. Doch dabei stößt sie auf ein Geheimnis, das weit in die deutsche Vergangenheit zurückreicht – und das Marie zweifeln lässt, ob sie ihre Großmutter je wirklich gekannt hat …

Über die Autorin:

Verena Rabe, geboren und aufgewachsen in Hamburg, liebt es zu reisen. Besonders europäische Küsten haben es der Seglerin angetan. Für ihre Geschichten unternimmt sie lange Recherchereisen und lässt die Orte, die sie beschreibt, intensiv auf sich wirken. Sie hat Geschichte studiert und als Journalistin gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Bisher hat sie acht Romane veröffentlicht. Verena Rabe lebt mit ihrem Mann in Hamburg, hat zwei erwachsene Kinder und verbringt viel Zeit in Berlin, ihrer zweiten Heimat.

Bei dotbooks erscheinen außerdem Verena Rabes Romane »Ein Lied für die Ewigkeit«, »Charlottes Rückkehr«, »Und über uns das Blau des Himmels«, »Merles Suche« und »Die Melodie eines Sommers«.

***

Überarbeitete eBook-Neuausgabe September 2019

Copyright © der Originalausgabe 2004 Knaur Taschenbuch.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Ysbrand Cosijn / PushAnn / imageBROKER.com / Gimas / Vasya Kobelev

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-891-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Thereses Geheimnis« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Verena Rabe

Thereses Geheimnis

Roman

dotbooks.

Prolog

Das Mädchen rannte vor ihr her, der Rock des blau-weiß karierten Kleides wippte um ihre dürren Beine, die hellblonden Zöpfe hüpften.

Und sie selbst fühlte ihren festen, dünnen Körper und sah an sich herunter auf ein grünes Kleid. Ihre Füße steckten in Sandalen, schäbigen, abgenutzten braunen Sandalen, aber das machte ihr nichts aus, denn sie war glücklich, überhaupt etwas an den Füßen zu haben.

Sie schritt eine Straße hinunter, rechts und links mehrstöckige rote Backsteinhäuser, sie wohnte mit ihrer Tochter in einem dieser Häuser ganz oben unterm Dach.

Es war ein heller, freundlicher Morgen. Sie ging hinter ihrer Tochter her und freute sich über die Sonne und darüber, dass sie lebte und jung war.

»Anna, warte auf mich«, rief sie dem Mädchen zu, das stehen blieb, sich umdrehte und sie anstrahlte.

Kapitel 1

Hamburg, Ende November 1992

Therese Beeken schaltete den Fernseher aus. Gleich begannen die Nachrichten, und die sah sie aus Prinzip nicht an. Höchstens noch die Lokalnachrichten, denn da konnte sie fast sicher sein, dass es nie um Krieg ging. Von Kriegen wollte sie nichts wissen. Vor langer Zeit hatte sie ihren Bedarf daran für immer gedeckt.

Sie beschloss ins Bett zu gehen, obwohl sie noch nicht müde war. Morgen Abend werde ich endlich nicht fernsehen, dachte sie. Marie wird hier sein, und wir werden uns vielleicht ein Feuer im Kamin anzünden, und ich werde wieder reden und jemandem zuhören können. Endlich wieder dem warmen, dunklen Klang von Maries Stimme lauschen, der den Raum ausfüllen wird, in dem ich monatelang abends nur Selbstgespräche führte.

Sie stellte einen Teller mit Brotresten in den Kühlschrank. Die kann ich morgen zum Frühstück essen, dachte sie. Im unteren Fach bewahrte sie drei Kartoffeln in einer Porzellanschale auf, die waren gestern beim Mittagessen übriggeblieben, im Gemüsefach lag ein halber Apfel. Früher hatte sie immer gut abschätzen können, welche Mengen sie zubereiten musste. Aber seitdem sie nur für sich selbst kochte, gelang es ihr nicht mehr, und es blieb immer etwas übrig, das sie dann im Kühlschrank deponierte und manchmal nach Tagen in der hintersten Ecke verdorben wiederfand. Ab morgen kann ich endlich wieder für zwei kochen, dachte sie erleichtert.

Die Treppenstufen in den ersten Stock fielen ihr heute schwer. Aber was erwartest du, sprach sie mit sich selbst, du bist 74. Sie musste an ihren ältesten Sohn Georg denken. »Mutti«, hatte er bei Friedrichs Beerdigung gesagt, »jetzt, wo Papa nicht mehr da ist, brauchst du doch kein großes Haus mehr«, und sie ärgerte sich über diese Bemerkung, denn eigentlich bedeutete sie: »Geh ins Altersheim und überlasse uns das Haus.«

»Darauf kannst du lange warten«, murmelte Therese vor sich hin, als sie das Schlafzimmer betrat und sich seufzend auf das neue Metallbett mit dem blauen Himmel setzte, das sie gleich nach Friedrichs Tod gekauft hatte, weil sie in dem Bett, in dem ihr Mann gestorben war, nicht mehr hatte schlafen können. Sie zog sich langsam aus und hängte Kleider über den stummen Diener; so hatte es ihr Friedrich vor langer Zeit beigebracht, und sie hatte sich zähneknirschend seinem Ordnungssinn angepasst, bis sie auch gar nicht mehr anders konnte, als alles an seinen Platz zurückzulegen.

»Du wärst stolz auf mich«, sagte sie laut in Richtung seines Fotos, das auf der Kommode stand. Sie mochte dieses Bild, denn Friedrich hatte den Mund zu einem kleinen Lächeln verzogen. Dadurch bekamen seine Augen einen weniger kritischen Ausdruck hinter der feinen Nickelbrille, und in seinem Blick erkannte sie die Güte, die er sonst fast immer hinter seiner Strenge und Autorität versteckt gehalten hatte. Am Anfang ihrer Beziehung ordnete er geduldig ihr Leben und fügte die losen Enden zusammen, und sie hatte sich als Dank bereitwillig in seine Vorstellung von Glück einbauen lassen.

Manchmal hast du es mir wirklich schwer gemacht, dich zu lieben, sagte Therese in Gedanken, bei dir musste immer alles so korrekt sein und seine Ordnung haben, und wehe, es war nicht genauso, wie du es dir vorstelltest. Und ich war weiß Gott keine gute Hausfrau, als du mich kennen lerntest. Ich musste es ja auch nicht sein, ich brauchte nur für mich zu sorgen, und das hatte ich ja längst aufgegeben, wie du weißt.

Wenn ich dich damals nicht kennengelernt hätte, seufzte sie und wagte nicht, sich auszumalen, wie alles geworden wäre, wenn er sie 1949 nicht unter seine Fittiche genommen hätte. Als sie sich in seine Hände gab, wusste sie, dass es für sie die einzige Möglichkeit war. Es ging nicht um Liebe oder Anziehung, sondern allein ums Überleben, und damals dachte sie, dass sie es ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffen würde.

Unzählige Male hatte sie sich mit ihrer Bitte an Gott gewandt, es Friedrich nicht merken zu lassen, dass sie ihn damals nicht anziehend fand, mit seinem schon schütteren Haar, obwohl er erst 34 war, und seinem stechenden Blick, wenn er seine Patientinnen ins Visier nahm, um herauszubekommen, was ihnen fehlte. Wenn er ihr die Hand auf die Stirn legte, versuchte sie nicht daran zu denken, wie kalt seine Finger waren und wie anders sie vor ihm berührt worden war.

Er sagte ihr, dass er sie vom ersten Moment an liebte. Sie war für ihn ein etwas zerzauster, aber sehr bunter Vogel gewesen, der bei ihm Schutz gesucht hatte, und er hatte ihr jede Hilfe zukommen lassen, hatte all ihre Bedingungen akzeptiert und sie in sein Leben geführt, nach Blankenese zu seinen Eltern in das weiße Haus am Strandweg.

Als sie dort als zukünftige Frau von Dr. Friedrich Beeken ankam, hatte sie geweint, denn sie konnte es nicht ertragen, dass hier nichts vom Krieg zu sehen war, keine Bombenschäden, keine Ruinen, keine notdürftig reparierten Häuser, sondern nur Sauberkeit und Ordnung.

Da, wo sie die letzten Jahre verbracht hatte, war es ganz anders gewesen, sie hatte den Eindruck gehabt, immer knietief durch Schutt zu waten und am Rande des Verrücktseins zu balancieren, auf der Suche nach etwas, das sie längst verloren hatte und nie wiederfinden würde.

Als sie Friedrich in der Blankeneser Kirche ihr Jawort gab, war sie allein, niemand war für sie gekommen, ihre Eltern nicht, die waren schon tot, und auch keine Freundinnen, denn die hatte sie in den Jahren zuvor verloren. Sie stand vor dem Altar in einem weißen, bodenlangen Kleid, das ihr die Schneiderin ihrer Schwiegermutter genäht hatte und ihren schon runden Bauch verbarg. Sie war froh über den Schleier, der ihr Gesicht verdeckte, so konnte niemand ihre Tränen sehen, die ihr während der gesamten Zeremonie über die Wangen liefen. Dort an Friedrichs Seite war eigentlich nicht ihr Platz, sie wollte weglaufen, sich verstecken, allein sein, wenn sie schon nicht mit jemandem zusammen sein durfte, den sie wirklich liebte, aber sie tat es damals nicht, sondern riss sich zusammen, denn sie wusste, dies war ihre einzige Chance auf ein normales Leben. Und nichts anderes als das wünschte sie sich und dem Baby, das sie bald bekommen würde.

»O Friedrich, es war zuerst nicht leicht«, sagte Therese in Richtung des Bildes. »Deine Mutter akzeptierte mich nicht, für sie besaß ich zu sehr den Altonaer Stallgeruch. Erst nachdem sie starb, fühlte ich mich in deinem Haus wohl und nicht mehr kritisiert und ständig beobachtet. Und du hattest niemals Verständnis für meine Sorgen, immer gingen deine Patienten vor, für die hattest du immer Zeit, und manchmal, wenn du mir von ihnen erzähltest, wünschte ich mir, eine von ihnen zu sein, denn sie nahmst du ernst und hörtest ihnen zu.«

Dennoch habe ich ihn lieben gelernt, dachte sie, zwar nicht so, wie ich vorher geliebt hatte, aber das hatte ich ja auch nicht gewollt, weil es zu schmerzhaft gewesen war. Meine Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, ist im Krieg kaputtgegangen, Friedrich, und deine auch, das ahnte ich sehr schnell, auch wenn du es selbst nicht wahrhaben wolltest. Trotzdem haben wir eine gute Ehe geführt, und du wärst stolz auf mich, wenn du sehen könntest, wie sehr ich mich bemühe, unser Haus zu erhalten.

Therese zog ihr weißes Rüschennachthemd an, in dem sie sich vorkam wie eine Frau der Jahrhundertwende, und löste ihren Haarknoten. Beim Zähneputzen betrachtete sie sich im Spiegel. Sie erblickte eine weißhaarige Frau, die vorsichtig ihr Zahnfleisch massierte, um es nicht erneut zum Bluten zu bringen. Würde sie sich jemals daran gewöhnen, alt zu sein? Sie fühlte sich nicht alt. Sie kämmte ihre langen Haare, die ihr über die Schultern fielen, schloss die Augen, genoss die sanfte Massage und dachte an Maries Kinderhände, die ihr früher oft durch die Haare gefahren waren, so dass es auf der Kopfhaut prickelte.

Werde ich sie ein wenig länger in Hamburg halten können, fragte sich Therese. Sie hatte alles dafür getan, damit ihre Enkelin sich bei ihr wohl fühlen konnte. Im Nebenzimmer standen gelbe Astern auf dem Tisch, sie hatte Maries ehemaliges Kinderzimmer hergerichtet, eine Tagesdecke in Altrosa gekauft, die nicht so kindlich aussah wie die alte. Sie hatte Maries Stofftiere in eine Kiste gepackt und ihre gesmokten Kleider in den Schrank im Keller gehängt.

Endlich wird das Haus wiederbelebt, dachte Therese, als sie im Bett lag und sich darüber freute, dass nur die rechte Hüfte schmerzte.

***

Trägt sie ihren Ehering noch, fragte sich Marie Beeken, als sie auf ihr Gepäck am Hamburger Flughafen wartete. Immer hatte Oma Therese Ringe an den Fingern getragen. Nur wenn sie schwierige Gerichte zubereitete, lagen sie in einer kleinen Schale neben der Spüle. Sie überlegte sich, wie lange Opa Friedrich schon tot war. Fünf Monate? Sie hatte es vergessen. Bei seiner Beerdigung war sie noch gewesen. Mitten in der Examenszeit. Danach hatte sie in München ihr Magisterexamen bestanden, zwei Tage später ihre Wohnung aufgelöst und ihre paar Möbel in einem Kleintransporter nach Hamburg gefahren. Jetzt lagerten sie bei Oma Therese auf dem Dachboden. Damals war sie nur einige Tage in Hamburg gewesen und dann mit dem Vorsatz nach London aufgebrochen, nicht mehr zurückzukehren. Und nach drei Monaten war sie nun doch wieder hier.

Marie schob den Gepäckwagen durch die Absperrung. Sie entdeckte Thereses zimtfarbenen Mantel im Meer der blauen Blazermäntel sofort. Eine Frau mit weißen aufgesteckten Haaren und einem beigen Tuch im Ausschnitt winkte ihr zu. Marie erschrak wie jedes Mal, wenn sie ihre Großmutter längere Zeit nicht gesehen hatte, denn in ihrer Erinnerung war Therese immer noch eine 55-jährige Frau, deren rotbraune Haare nur einige graue Strähnen durchzogen, sie sah grüne Augen in einem wenig faltigen Gesicht, sie fühlte eine weiche Hand, die ihre Wange streichelte. Ihre Stimme hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren überhaupt nicht verändert, sie klang immer noch mädchenhaft hell, nicht hoch oder schrill, sondern sehr jung. Deshalb vergaß sie jedes Mal, wenn sie mit Therese telefonierte, wie alt ihre Großmutter schon war.

Als sie Therese begrüßte, musste sie sich zu ihr hinunterbeugen, das war eigenartig, sonst war Marie es immer, zu der sich die meisten Frauen hinunterbeugten. Sie wurde von weichen Armen umfangen und an die Hügel großer Brüste gedrückt, fühlte dann feuchte Lippen auf ihrer Wange und Finger, die ihr durch die Haare strichen.

»Marie, schön, dass du endlich da bist«, sagte Therese an ihrer Schulter. Marie roch dasselbe Parfüm wie als kleines Mädchen, wenn sie sich an ihre Großmutter geschmiegt hatte, um sich trösten zu lassen. Früher hatte sie gedacht, Großmütter würden von Natur aus so riechen, heute wusste sie, dass es Chanel 5 war und dass Therese es immer in einem Zerstäuber in ihrer Handtasche mitnahm, wenn sie aus dem Haus ging. Sie schämte sich, dass sie vergessen hatte, eine Flasche im Dutyfreeshop zu besorgen.

»Du bist ja dünn geworden, Marie, und was ist mit deinen Haaren?«, hörte sie Therese sagen und fühlte sich plötzlich wieder wie mit sechzehn, als sie zum ersten Mal allein zum Friseur gegangen war und ihre Oma zwei Tage nicht mit ihr gesprochen hatte, weil sie sich blonde Strähnen hatte färben lassen.

Es würde schwer werden, ihrer Großmutter begreiflich zu machen, dass sie in den vergangenen Jahren erwachsen geworden war.

»Komm, Oma, lass uns gehen«, sagte sie und hakte sich bei Therese unter. Nur mühsam konnten sie alles Gepäck in Thereses Golf verstauen. Maries Schultermuskeln verspannten sich, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie wäre am liebsten selbst gefahren, weil sie der vorsichtige Fahrstil ihrer Großmutter wahnsinnig machte, aber sie wollte Therese nicht verärgern, und so versuchte sie nicht darauf zu achten, dass sich hinter ihnen schon nach zwei Kilometern die Autos stauten, weil Therese mitten auf der vierspurigen Straße fuhr und niemanden überholen ließ, obwohl der Tacho nur 50 km/h anzeigte. Oma wird erst wieder ansprechbar sein, wenn sie die Elbe sieht und in die sicheren Elbvororte eingefahren ist, dachte Marie. Sie wusste, dass ihre Großmutter allen anderen Autofahrern misstraute. Früher war sie mit Marie in den Elbvororten oft Umwege gefahren, um nicht auf großen Straßen unterwegs sein zu müssen.

Marie schloss die Augen, blendete das Geräusch des abrupten Schaltens aus, konzentrierte sich auf ihren Atem und dämmerte vor sich hin, wie sie es in den vergangenen Tagen oft getan hatte, um sich nicht fragen zu müssen, was jetzt aus ihr werden sollte, ohne Geld, ohne Job, ohne Freund.

Vor vier Wochen schien alles perfekt gewesen zu sein, aber das war jetzt eine Ewigkeit her. Damals gab es für sie noch Pete und die gemeinsamen Wochenenden, an denen er sie kreuz und quer durch London schleppte. Er führte sie in Cafés und Restaurants, die er vorher drei Jahre lang mit Heather besucht hatte, aber das wusste Marie damals noch nicht. Sie freute sich schon morgens darauf, ihn abends zu treffen, wenn er Zeit für sie hatte. Dann kaufte sie auf dem Weg in seine Wohnung jedes Mal Wein, Käse, Brot und Salat in ihrem Lieblingsshop an der Kensington High Street und unterhielt sich mit dem indischen Besitzer, der sie für eine Engländerin hielt, was ihr ungemein schmeichelte. Meistens erwartete Pete sie schon mit einem Drink in der Hand und brannte darauf, ihr die neuesten Anekdoten von seinen Sprachenschülern zu erzählen. Sie war im August auch eine seiner Schülerinnen gewesen, bis er ihr beim Bier im Pub anvertraute, dass ihn gerade seine Freundin Heather verlassen hatte, und Marie ihm noch zuhörte, lange nachdem die anderen Sprachenschüler gegangen waren und keine tube mehr fuhr. Damals landete sie in seiner Wohnung und ging mit ihm noch in derselben Nacht ins Bett, obwohl sie wusste, dass diese Heather in seinem Kopf herumspukte. Er hatte einen sehnigen, muskulösen Körper, dem sie überhaupt nicht anmerkte, dass er 14 Jahre älter war als sie. Unter seinen Händen und Küssen fühlte sie sich begehrenswert, er nahm sich Zeit, sie langsam zu reizen, das war etwas anderes als die verhaltenen Spielchen mit ihren gleichaltrigen Kommilitonen, Pete konzentrierte sich in dieser Nacht ganz auf sie, bis sie ekstatische Geräusche von sich gab, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie diese überhaupt in ihrem Repertoire besaß. In der Nacht darauf ließ er sich von ihr streicheln und gab sich ihr ohne jeglichen Kontrollanspruch hin, so wie es nach ihrer Meinung nur Männer können, die sich sonst überlegen fühlen. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, schliefen sie miteinander. Marie hoffte, diese berauschenden Nächte würden Petes Erinnerung an Heather auslöschen, und es schien auch zwei Monate so zu sein, aber dann tauchte sie wieder auf, beanspruchte wie selbstverständlich den Platz in Petes Bett und stellte ihre Collagenfeuchtigkeitscremes wieder in seinen Badezimmerschrank. Und Pete machte kurzerhand mit Marie Schluss, obwohl sie geplant hatten, Anfang Dezember nach Brighton zu fahren, um ein paar Tage ungestört nur im Bett verbringen zu können.

Nachdem Pete Schluss gemacht hatte, ging Marie zum Friseur, ließ sich ihre Haare kurz schneiden und färbte sie sich schwarz, als Ausdruck ihrer Trauer. Sie bildete sich nicht ein, Pete geliebt zu haben, aber mit ihm hatte sie den besten Sex ihres Lebens erlebt.

Und nach einem Tag als Single ließ sie der Redaktionsleiter von Springer Foreign News, wo sie als Praktikantin arbeitete, in sein Büro kommen. Jetzt bietet er mir endlich einen festen Job an, es ist nicht alles verloren, dachte sie und kritzelte noch schnell den Entwurf eines Postkartentextes auf ein Blatt Papier:

»Bin jetzt fest bei Springer Foreign News. Besucht mich doch mal, Kuss Marie.« Sie würde gleich nachher zehn Karten kaufen und sie ihren Studienfreunden nach München schicken.

»Mit uns wird das leider nichts, Frau Beeken«, sagte der Ressortleiter kurz. »Wir bekommen jetzt Schüler der Springer-Journalistenschule, da können wir Sie nicht mehr gebrauchen.«

Diese Worte trafen sie wie ein Fausthieb in die Magengrube, denn gerade diese Schule hatte sie vor einiger Zeit abgelehnt. Jetzt ist alles vorbei, dachte sie, und nichts rechtfertigt mehr meine Anwesenheit in dieser wahnsinnig teuren Stadt.

Also nahm sie Thereses Vorschlag an, erst einmal wieder nach Hamburg zurückzukommen. Genauso habe ich mir mein Leben nach dem Examen vorgestellt, dachte Marie bitter, alle großen deutschen Journalistenschulen haben mich abgelehnt und ich fahre mit Oma in die Elbvororte zurück, um bei ihr zu wohnen, weil ich kein Geld mehr habe und auch sonst nicht weiß, wohin.

»Guck doch mal aus dem Fenster. Ist die Elbe nicht herrlich?«, riss Thereses Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie hielten gerade am Teufelsbrücker Fähranleger, es regnete in Strömen, und das Schwarzgrau der Elbe zeichnete sich nur schwach von dem Schiefergrau des Himmels ab. Ein blaues Containerschiff fuhr elbabwärts vorbei. Marie kurbelte das Fenster hinunter. Sie sog den Geruch des Elbwassers ein, diese Mixtur aus Schlick, Dieselöl, Seewasser, Fisch, brackigem Grund, beobachtete schweigend, wie das Schiff langsam an ihnen vorüberglitt, und wusste auf einmal, dass sie diesen Anblick in den vergangenen fünf Jahren vermisst hatte.

Wieder nach Blankenese zu fahren war für sie wie eine Reise in die

Vergangenheit. Fischhändler, Einrichtungshaus und Jeansladen und daneben der Secondhandshop, in dem sie mit fünfzehn eine lila Pluderhose gekauft hatte, die sie tapfer trug, obwohl alle behaupteten, sie sähe darin zu dick aus. Nichts hatte sich hier verändert in den vergangenen Monaten, ja, sogar in den vergangenen fünf Jahren nicht, da war sich Marie sicher.

Endlich hielten sie unten am Strandweg. Marie sprang aus dem Auto, lief über die Straße und den Strand auf den Leuchtturm zu. Ihre Füße versanken im schweren, nassen Sand, und der Regen tropfte ihr in den Kragen, aber das störte sie nicht, denn sie hörte den Wellen zu, die an die Uferbefestigung platschten, sah die Regentropfen auf der Wasseroberfläche zerplatzen und wischte die Tränen, die ihr plötzlich die Wangen hinunterliefen, nicht weg. Ja, hier war sie zu Hause gewesen, und das könnte sie wieder sein. Vielleicht ist es ein neuer Anfang und es ist doch nicht alles so hoffnungslos, dachte sie.

***

Was soll ich bloß mit ihr anfangen, fragte sich Therese, als sie ihrer Enkeltochter beim Abendbrot gegenübersaß. Marie kaute schon seit einer Ewigkeit auf einer Brotkante herum und aß sonst nur Salat. Therese musterte sie verstohlen. Sie sah wie das hässliche Entlein aus, mit diesen fransigen und viel zu kurzen, schwarz gefärbten Haaren. Das passte nicht zu der Marie, die sie kannte. Aber die saß auch nicht hier beim Abendbrot, sondern eine Frau, deren Blicke abschätzend durch das Zimmer schweiften und an nichts hängenblieben. Und die rauchte und ihre Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, genauso wie Maries Mutter es getan hatte. Elke hatte den Rauch immer hastig in die Luft geblasen, die Kippe auf ihren Tellerrand gelegt und Therese beim Essen niemals angesehen.

Marie hat in den vergangenen Tagen noch kein einziges Mal gelächelt, stellte Therese fest, und das kränkte sie genauso wie die Tatsache, dass Marie ihr Haus jetzt mit den Augen einer Besucherin sah. Wenn sie den abschätzenden Blicken ihrer Enkeltochter folgte, bemerkte auch sie die dunklen Flecken in den Ecken an der Decke, wie altmodisch ihre weiß lackierten Küchenschränke waren und dass die Arbeitsfläche tiefe Kratzer hatte. Aber vielleicht war es ja gar nicht das, was ihre Enkeltochter wahrnahm.

Nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte, als sie Marie vorschlug, wieder nach Hamburg zurückzukehren. Wie konnte ich nur so naiv sein zu glauben, dass wir wieder so zusammenleben würden wie früher, als sie noch hier wohnte, dachte Therese. Eigentlich hatte sie ihrer Enkeltochter anbieten wollen, die Wohnung im zweiten Stock für sie renovieren zu lassen, aber daran war wirklich nicht zu denken. Die Vorstellung erschien Therese jetzt absurd.

Wie konnte ich überhaupt annehmen, dass Maries Rückkehr mehr als nur eine Notlösung für sie ist, dachte Therese. Meinetwegen ist sie nicht zurückgekommen. Und sie macht nichts. Sie sitzt hier den ganzen Tag herum und hat schlechte Laune. Noch voriges Jahr, als Marie in den Semesterferien für ein paar Tage nach Hamburg gekommen war, hatten sie so viel zusammen unternommen, waren in die Stadt gegangen, hatten irgendwo etwas gegessen, und sie kaufte Marie die Kleider und Schuhe, die sie sich nicht leisten konnte. Trug sie jetzt eigentlich immer diese schrecklichen schwarzen Jeans?

»Sag mal, ich habe dir doch dieses blaue Kleid geschenkt, als du voriges Jahr in Hamburg warst. Passt es dir nicht mehr, weil du so dünn geworden bist? Sollen wir es ändern lassen?«

»Oma, du brauchst dich nicht um meine Kleider zu kümmern.«

»Ich dachte doch nur, vielleicht hätte ich dir helfen können. Im Kino läuft ein guter Film, Hear my Song, der spielt in Irland. Es geht um einen Opernsänger. Das wäre doch was für dich, oder? Ich würde gerne heute Abend mit dir hingehen.«

»Ich muss mich um meine Bewerbungen kümmern.«

»Natürlich, es war ja auch nur eine Idee. Vielleicht ein andermal.«

»Ja, vielleicht.«

So waren alle Gespräche in den vergangenen Tagen verlaufen. Es hatte keinen Sinn. Marie stand jetzt wortlos auf und verließ die Küche.

Therese räumte die Geschirrspülmaschine ein und ärgerte sich darüber, dass ihre Enkeltochter noch nicht einmal Hilfe angeboten hatte. Ähnelt sie ihrer Mutter mehr, als ich befürchtet habe, fragte sich Therese. Wie oft hatte Elke nach dem Essen so das Zimmer verlassen, ohne ein Wort des Danks oder eine Bemerkung, dass es ihr geschmeckt hatte. Damals saß ihre Tochter monatelang schweigend am Tisch und beobachtete sie mit feindseliger Miene. Therese hatte darunter gelitten, aber nicht gewusst, was sie tun sollte. Friedrich war zu beschäftigt gewesen und hatte sich auch niemals richtig für Elke interessiert, was sie ihm nicht übelnahm.

Aber jedenfalls ist Marie nicht mit neunzehn schwanger geworden wie ihre Mutter, dachte Therese, als sie den Tisch abwischte. Zumindest das ist an mir vorübergegangen. Ich hätte es auch nicht noch einmal ertragen.

Damals flehte sie Elke an, ihr Kind nicht abzutreiben. Und Elke hatte Marie geboren und war unter der Bedingung in die Dachwohnung gezogen, dass sich Therese nicht einmischte. Das hielt sie auch durch, räumte aber heimlich auf, wenn Elke nicht da war, und füllte den Kühlschrank. Es ging gut – bis zu einem Sonntag kurz vor Maries zweitem Geburtstag.

Therese war in der Kirche gewesen, und noch durch die Predigt beschwingt stieg sie die Treppen zu Elkes Reich hinauf. Elke lag halb nackt auf dem Sofa, zuerst dachte sie, ihre Tochter sei tot, und beugte sich über sie, doch dann bemerkte sie, dass sie aus halb geöffnetem Mund atmete. Sie roch eine Alkoholfahne, es war erst elf Uhr morgens. Marie saß stumm auf dem Boden und schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. Als Therese sie hochnahm, bemerkte sie, dass Marie seit gestern keine neue Windel mehr bekommen hatte.

»Jetzt reicht’s«, schrie sie, die sonst niemals laut wurde, raffte Maries Sachen zusammen und brachte sie nach unten.

Friedrich stellte seiner Tochter am selben Abend ein Ultimatum. »Entweder du hörst auf, hier Drogen zu nehmen, oder du verlässt das Haus. Aber dann bleibt Marie hier.« Elke ging und kam nur noch sporadisch wieder. Um ihre Marie kümmerte sie sich nicht mehr.

Therese war immer der Ansicht gewesen, schlafende Hunde sollte man nicht wecken, und deshalb sprach sie nie wieder über diesen Vorfall. Es war schon schwer genug für Marie, ohne Vater aufzuwachsen. Elke hatte den Namen des Erzeugers niemals preisgegeben, aber Therese hatte eine Vermutung, die sie allerdings nie jemandem mitteilte, denn sie wusste, dass dieser Mann verheiratet war und Kinder hatte, und sie wollte nicht auch noch eine weitere Familie zerstören. Es schien ihr besser, Marie nichts von ihrer Vermutung zu erzählen.

Ich werde Marie in Ruhe lassen, nahm sich Therese vor. Vielleicht hat sie auch nur Liebeskummer. Diese verdammten Engländer, dachte sie. Sie mochte diese Menschen und das Land nicht, obwohl sie niemals dort gewesen war.

Später, allein in ihrem Zimmer, schämte sich Therese dafür, ihre Enkeltochter nicht in den Arm genommen zu haben. Warum gelangen ihr diese Gesten seit neuestem nicht mehr? Früher war es so einfach gewesen, Trost zu spenden.

Wie oft hatten Marie und ihre Freundinnen in der Küche gesessen und sich ihren Kummer von der Seele geredet? Sie gingen nicht zu ihren eigenen Müttern, sondern sie kamen zu ihr, das hatte sie genossen, und sie hatte gerne Ratschläge gegeben. Aber seit einigen Monaten interessierten sie die Lebensgeschichten anderer Menschen nicht mehr, als ob ihr Mitgefühl mit Friedrichs krebszerfressenem Leichnam zu Grabe getragen worden wäre.

Sie suchte in der Nachttischschublade nach ihren Baldriantabletten und nahm drei aus der Schachtel, denn sie fühlte, so viel würde sie brauchen, um sich zu beruhigen. Dann schaltete sie das Licht aus und genoss es zu liegen. Unten hörte sie den Fernseher laufen. Therese schloss die Augen. Heute Nacht würde sie endlich einmal keine Angst haben, weil noch jemand in dem viel zu großen Haus war, auch wenn Marie sich nicht darüber zu freuen schien, wieder im Strandweg zu wohnen.

Sie wusste, dass sie ihre Gedanken loslassen konnte, ihre Gefühle würden sie heute Nacht nicht mit einer Welle von Tränen überschwemmen, sie würde es aushalten können, dass sie nach Friedrichs Tod den Vorhang der Verdrängung zerrissen hatte und nun all die Gefühle und Erinnerungen auf sie einstürzten, die sie mit der Heirat versprochen hatte für immer hinter sich zu lassen und nie wieder an ihnen zu rühren.

***

24. Juli 1943, Altona

Therese spürte die Wärme schon im Schlaf. Sie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Als sie sich endlich entschloss, die Augen zu öffnen, schien die Sonne durch das Dachfenster in die Kammer. Sie lauschte in die Stille, aber sie hörte nichts, außer dem Glockenläuten der Trinitatiskirche. Anna schlief also noch, was für sie bedeutete, dass sie in Ruhe aufstehen konnte. Sie schlich barfuß in die Küche, öffnete das kleine Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte über die Dächer der anderen Mietshäuser fast bis zur Elbe. Therese bildete sich ein, das Wasser riechen zu können, wenn sie die Augen schloss.

Plötzlich konnte sie ihren Appetit auf Bohnenkaffee, den sie sonst so gut zügelte, nicht mehr ignorieren. Sie fischte die Dose mit den Bohnen hinter den anderen hervor und schraubte sie langsam auf. Der Duft stieg ihr in die Nase, sie hoffte, dass Anna nicht jetzt aufwachen würde, denn sie wollte dieses kleine Glück allein genießen. Es war so selten, dass sie sich eine Tasse echten Kaffee gönnte. Meistens tauschte sie ihn gegen Milch und Kuchen für das Kind ein, wenn so etwas einmal aufzutreiben war.

Vorsichtig mahlte sie die Bohnen und bemühte sich, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Während sie das Gas anzündete, überlegte sie, wo sie den Zucker versteckt hatte. Sie suchte in dem anderen Küchenschrank, fand die Zuckerdose, aber sie war leer, und sie musste den Kaffee wieder ungesüßt trinken. Sie würde sich nie daran gewöhnen. Aber sie hatte wenigstens noch etwas Milch, um den bitteren Geschmack nicht ganz so heftig zu spüren. Sie setzte sich an den wackeligen, blank gescheuerten Küchentisch.

Therese wusste, dass sie anfangen würde zu weinen, wenn sie sich erlaubte, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Deshalb konzentrierte sie sich auf den Tag, der vor ihr lag. Es würde wieder sehr heiß werden. Es wäre unerträglich, hier oben in der Wohnung zu bleiben. Sie wollte sich heute frei nehmen, auch wenn sich die Kleider neben ihrer Nähmaschine stapelten, die sie noch bis Anfang der Woche ändern musste. Aber das kann ich ja auch heute Nacht machen, wenn Anna schläft, dachte sie. Heute wollte sie etwas Besonderes unternehmen. An die Elbe gehen, baden, sich sonnen.

Therese zog die Küchentischschublade auf und betrachtete die Marken, die sie in den vergangenen Wochen gesammelt hatte. Vielleicht konnte sie ihrer Tochter davon sogar ein Stück Kuchen kaufen.

Sie hörte das Tapsen von Annas Füßen auf dem Flur. »Mama, wo bist du?«

»Ich bin in der Küche«, antwortete sie und bedauerte, dass ihre Ruhe jetzt vorbei war. Ihre beinahe fünfjährige Tochter würde sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, bis sie sie ins Bett legte und in den Schlaf sang. Anna kam in die Küche. Ihre Haare standen zerzaust vom Kopf ab, das Nachthemd war verrutscht, sie hatte nackte Füße. »Komm, setz dich auf meinen Schoß«, sagte Therese und streckte die Arme aus. Anna kuschelte sich an ihren Bauch. Therese spürte den noch schlafwarmen Körper und roch an ihrem Haar. Wie sehr sie diese kleinen Momente liebte. Mit ihrer Tochter so dicht bei sich fühlte sie sich geborgen, vergaß, dass sie schon so lange allein war und niemanden mehr hatte, bei dem sie selbst sich anlehnen konnte. Sie wusste, dass es nicht richtig war, Geborgenheit von einem Kind zu bekommen, aber sie konnte nicht anders. Wenn sie schlecht träumte, krabbelte Therese manchmal nachts zu ihrer Tochter ins Bett und kuschelte sich an den kleinen Leib, bis die Angst nachließ. Wenn Anna wüsste, wie sehr ich ihre Nähe brauche, würde sie erschrecken, dachte Therese manchmal schuldbewusst, aber sie konnte es nicht ändern. Dieser kleine zutrauliche Körper spendete ihr Trost. Wie sehr hatte sie sich noch ein Kind gewünscht. Es war nicht mehr dazu gekommen.

»Was machen wir heute, Mama, kann ich mit Robert in den Park gehen? Er bekommt dort vielleicht eine Limonade, hat seine Mutter gesagt.«

»Nein, heute nicht. Ich weiß was Besseres. Wir fahren mit der Bahn nach Blankenese und gehen an den Strand.«

»Aber ich habe es ihm doch schon versprochen.«

»Nein, es geht nicht. Außerdem kannst du wieder Sandburgen bauen, und vielleicht bekommst du auch noch einen Kuchen.«

»Das ist toll. Gehen wir gleich los?«

»Zieh dich erst mal an. Dein blau-weiß kariertes Kleid liegt schon auf dem Bett.«