Conrad, Joseph Lord Jim

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher

www.piper.de

 

Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Hoffer, mit Quellentexten, Anmerkungen und einem Nachwort

 

Neuauflage einer früherer Ausgabe

ISBN 978-3-492-97959-7

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Lord Jim«, 1899/1900 in »Blackwood’s Magazine«, als Buchausgabe London/Edinburgh 1900

© der deutschsprachigen Ausgabe: Haffmans Verlag AG, Zürich 1998

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Vorbemerkung des Autors

Als dieser Roman zum erstenmal in Buchform erschien, machte die Ansicht die Runde, die Pferde seien mit mir durchgegangen. Ein paar Kritiker beharrten darauf, daß der Autor die Kontrolle über sein als Kurzgeschichte begonnenes Werk verloren habe. Der eine oder andere unter ihnen entdeckte implizite Beweise für diese Tatsache und schien sich darüber zu amüsieren. Sie wiesen auf die Grenzen der Erzählform hin. Sie behaupteten, niemand könne erwarten, daß ein Mensch so lange erzählt und andere so lange zuhören. Sie hielten das für wenig glaubwürdig.

Nachdem ich ungefähr sechzehn Jahre lang darüber nachgedacht habe, haben sich bei mir diesbezüglich Zweifel eingestellt. Man weiß von Menschen, die – in den Tropen ebenso wie in den gemäßigten Zonen – halbe Nächte lang aufbleiben, um abwechselnd ihr »Garn zu spinnen«. Dies hier ist nur ein einziges Garn, und seine Unterbrechungen erlaubten ein gewisses Maß an Erholung – und was die Ausdauer der Zuhörer angeht, so wird man der Behauptung, die Geschichte sei tatsächlich interessant gewesen, wohl recht geben müssen. Das ist eine Grundvoraussetzung. Hätte ich nicht geglaubt, sie sei interessant, ich hätte sie niemals beginnen können. Was die rein physischen Möglichkeiten betrifft, so wissen wir alle, daß schon so manche Rede im Parlament eher sechs als drei Stunden gedauert hat, während man meiner Meinung nach weniger als drei Stunden benötigt, um jenen Teil des Buches, den Marlows Erzählung umfaßt, in einem durch laut vorzulesen. Abgesehen davon darf man davon ausgehen, daß – trotz meines konsequenten Verzichts auf dergleichen nebensächliche Details – in dieser Nacht Erfrischungen bereitgestanden haben müssen, ein Glas Mineralwasser vielleicht, das dem Erzähler wieder auf die Sprünge half.

Nun aber im Ernst – mein erster Gedanke war es tatsächlich gewesen, eine Kurzgeschichte zu schreiben, die sich ausschließlich mit der Pilgerschiff-Episode[1] befassen sollte – mit mehr nicht. Und das war ein legitimes Vorhaben. Nachdem ich allerdings ein paar Seiten geschrieben hatte, war ich aus irgendeinem Grund unzufrieden und legte sie für eine Weile weg. Und ich holte sie nicht mehr aus ihrer Schublade hervor, bis mich der verstorbene Mr. William Blackwood aufforderte, ihm wieder einmal etwas für sein Magazin[2] zu geben.

Erst da wurde mir bewußt, daß die Pilgerschiff-Episode einen guten Ausgangspunkt für eine freie und frei schweifende Erzählung bot; und daß sie zudem ein Ereignis darstellte, welches das »Lebensgefühl« eines einfachen und empfindsamen Menschen um einen kräftigen Farbton bereichern mochte. Doch waren all diese Vorgefühle und ersten Lebenszeichen erwachenden Geistes zu jener Zeit recht nebulös, und auch heute, nach so vielen Jahren, erscheinen sie mir um nichts klarer.

Die wenigen Blätter, die ich beiseite gelegt hatte, waren, was die Wahl des Themas anging, nicht ohne Gewicht. Trotzdem wurde das Ganze gründlich durchdacht und umgeschrieben. Als ich mich dahintersetzte, wußte ich, es würde ein langes Buch werden, obwohl ich nicht absehen konnte, daß es sich über dreizehn Nummern des ›Maga‹ hinziehen würde.

Man hat mich hin und wieder gefragt, ob mir dieses Buch unter allen nicht das liebste sei. Ich bin ein großer Feind von Vetternwirtschaft – im öffentlichen wie im privaten Leben, und das gilt auch für die heikle Frage der Beziehung zwischen dem Autor und seinen Werken. Ich gebe aus Prinzip keinem den Vorzug, aber ich finde, es ginge zu weit, wenn ich betrübt oder ärgerlich wäre, weil manche Leute meinem Lord Jim[3] den Vorzug geben. Ich sage nicht einmal, daß ich »es einfach nicht begreife …« Nein! Aber bei einer Gelegenheit war ich doch verwirrt und überrascht.

Ein Freund von mir, der gerade aus Italien zurückkam, hatte dort mit einer Dame gesprochen, der das Buch nicht gefiel. Ich fand das natürlich bedauerlich, was mich aber überraschte, war der Grund ihrer Abneigung. »Wissen Sie«, sagte sie, »das ist alles so morbide.«

Diese Feststellung gab meinen Gedanken Nahrung für eine Stunde peinlicher Gewissensprüfung. Letztlich gelangte ich zu dem Schluß, daß diese Dame – unter gebührender Berücksichtigung der Tatsache, daß das Thema den normalen Empfindungen einer Frau eher fremd ist – unmöglich Italienerin sein konnte. Ich frage mich: War sie überhaupt Europäerin? Wie auch immer – keinem romanischen Temperament hätte das überwache Bewußtsein des Ehrverlusts morbide erscheinen können. Ein solches Bewußtsein mag fehlgeleitet sein oder rechtschaffen oder als künstlich verworfen werden – und vielleicht ist mein Jim tatsächlich kein Durchschnittstyp, aber ich kann meinen Lesern versichern, er ist nicht das Produkt kalten und perversen Kalküls. Seine Gestalt ist auch keinem Nördlichen Nebel entsprungen. Ich sah sie eines schönen Sommermorgens in der alltäglichen Umgebung einer östlichen Reede[4] an mir vorübergehen – anziehend – bedeutungsvoll – schattenhaft – vollkommen lautlos. Und so soll es auch sein. Es lag an mir, mit dem Einfühlungsvermögen und der Anteilnahme, derer ich fähig war, die passenden Worte zu finden, die seiner Erscheinung entsprachen. Er war »einer von uns«.

Juni 1917

J. C.

 

 

 

 

Es ist gewiß, daß eine Meinung sehr viel gewinnt,

sobald ich weiß, daß irgend jemand

davon überzeugt ist, sie wahrhaft annimmt.

NOVALIS

 

Für Mr. und Mrs. G. F. W. Hope

in Dankbarkeit und Zuneigung

nach vielen Jahren

der Freundschaft

Erstes Kapitel

E R maß vielleicht ein, zwei Zoll weniger als sechs Fuß, besaß eine kräftige Statur und kam mit leicht vorgeneigten Schultern, vorgestrecktem Kopf und einem starren Blick aus gesenkten Augen, der an einen angreifenden Stier erinnerte, geradewegs auf einen zu. Seine Stimme war tief und laut, und die Art seines Auftretens zeugte von unbeugsamer Selbstbehauptung, die nichts Aggressives hatte. Sie schien eine Notwendigkeit und richtete sich offenbar ebenso sehr gegen ihn selbst wie gegen alle anderen. Er war makellos sauber, vom Hut bis zu den Schuhen in fleckenloses Weiß gekleidet, und in den vielen Häfen des Ostens, in denen er sich den Lebensunterhalt als Hafen-Kommis für Schiffsausrüster[5] verdiente, war er sehr beliebt.

Ein solcher Hafen-Kommis braucht keine Prüfung in irgendeinem Fach abzulegen, aber einerseits muß er über die Fähigkeit verfügen, abstrakt zu denken, andererseits seine Gedanken praktisch umsetzen können. Seine Arbeit besteht darin, mit Segel, Dampf oder Ruder alle konkurrierenden Anwerber bei jedem Schiff, das gerade vor Anker geht, aus dem Rennen zu schlagen, gutgelaunt dessen Kapitän zu begrüßen, ihm eine Karte aufzudrängen – die Geschäftskarte des Schiffsausrüsters – und ihn auf seinem ersten Besuch an Land ebenso zielsicher wie unaufdringlich zu einem riesigen, höhlenartigen Laden zu lotsen, der alles enthielt, was an Bord eines Schiffes gegessen und getrunken wird, und wo man alles bekommen kann, was ein Schiff seetüchtig macht und schön – angefangen von einem Satz Haken für die Ankerkette bis hin zu einem Heft Blattgold für die Schnitzereien am Heck – und wo der Kapitän von einem Schiffsausrüster, den er noch nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder willkommen geheißen wird. Es gibt da ein kühles Empfangszimmer, Armsessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, eine Kopie der Hafenvorschriften und einen so herzlichen Willkomm, daß einem Seemann das Salz einer dreimonatigen Fahrt aus der Seele schmilzt. Die derart geknüpfte Verbindung wird durch die täglichen Besuche des Hafen-Kommis aufrechterhalten, solange das Schiff im Hafen liegt. Dem Kapitän gegenüber ist er treu wie ein Freund und aufmerksam wie ein Sohn, er ist geduldig wie Hiob, selbstlos ergeben wie eine Frau und fröhlich wie ein Zechkumpan. Später dann wird die Rechnung zugeschickt. Es ist ein wunderschöner und zutiefst menschenfreundlicher Beruf. Deshalb ist ein guter Hafen-Kommis eine Seltenheit. Wenn ein Hafen-Kommis über die Fähigkeit der Abstraktion verfügt und dazu noch den Vorzug besitzt, auf See aufgewachsen zu sein, dann ist er seinem Brotgeber eine Stange Geld und ein gutes Stück Nachsicht wert. Jim hatte immer reichlich verdient und reichlich Nachsicht genossen – so reichlich, daß man damit die Treue eines Höllenfürsten hätte erkaufen können. Nichtsdestoweniger schmiß er die Arbeit manchmal in schwarzer Undankbarkeit hin und ging auf und davon. Seinen Brotgebern erschienen die Gründe, die er anführte, offenbar unzureichend. Sobald er ihnen den Rücken kehrte, sagten sie: »Verdammter Narr!« – und das war ihre Art, seine Überempfindlichkeit zu tadeln.

Für die im Hafengeschäft tätigen Weißen und für die Schiffskapitäne war er einfach Jim – mehr nicht. Er hatte natürlich noch einen anderen Namen, er war aber ängstlich darauf bedacht, daß keiner ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verbergen, sondern ein Faktum. Wenn dieses Faktum sein Inkognito lüftete, verließ er auf der Stelle den Hafen, in dem er sich gerade aufhielt, und zog in den nächsten – gewöhnlich weiter östlich gelegenen. Es mußten Seehäfen sein, denn er war ein von der See ins Exil geschickter Seemann und besaß die Fähigkeit der Abstraktion, die für keine andere Arbeit taugt als die eines Hafen-Kommis. Er trat den geordneten Rückzug an, in Richtung aufgehender Sonne, und das Faktum folgte ihm ebenso beiläufig wie unabänderlich auf dem Fuß. So lernte man ihn im Laufe der Jahre nach und nach in Bombay, in Kalkutta, in Rangoon, in Penang, in Batavia[6] kennen – und an jeder dieser Stationen war er einfach Jim, der Hafen-Kommis. Später, als ihn das schmerzhafte Bewußtsein des Unerträglichen für immer fort aus den Seehäfen und fort von den Weißen trieb und hinein in die jungfräulichen Urwälder, fügten die Malaien des Dschungeldorfes, das er als Versteck für sein beklagenswertes Talent ausersehen hatte, der einen Silbe seines Inkognitos ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan[7] Jim – was soviel hieß wie: Lord Jim.

Ursprünglich kam er aus einem Pfarrhaus.[8] Viele Kapitäne schmucker Handelsschiffe kommen aus solchen Heimstätten der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater besaß jene gewisse Kenntnis des Unerkennbaren, wie sie der Rechtschaffenheit von Kleinhäuslern förderlich ist, ohne gleichzeitig den Seelenfrieden derjenigen zu stören, denen eine unfehlbare Vorsehung ein Leben in Herrschaftshäusern ermöglicht hat. Die kleine, auf einem Hügel erbaute Kirche hatte die moosgraue Farbe eines Felsens, der hinter gezacktem Blattwerk hervorlugt. Jahrhundertelang hatte sie da gestanden, und wahrscheinlich erinnerten sich die Bäume ringsum noch der Grundsteinlegung. Unter ihr leuchtete, inmitten von Grasflächen, Blumenrabatten und Tannenbäumen, die Vorderseite des Pfarrhauses in warmem Rot, dahinter lag ein Obstgarten, links davon befanden sich der gepflasterte Hof eines Reitstalls sowie die schrägen Glasfronten von Gewächshäusern, die an einer Backsteinmauer entlangliefen. Die Familie hatte diese Pfründe schon seit Generationen, Jim aber war einer von fünf Söhnen, und nachdem seine Berufung zur See nach dem systematischen Studium unterhaltsamer Ferienlektüre offenbar geworden war, wurde er umgehend auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine« geschickt.

Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und wie man sich auf Oberbramrahen[9] bewegt. Er war allseits beliebt. Er war Drittbester beim Navigieren und Schlagmann im ersten Kutter. Er behielt stets einen klaren Kopf, besaß eine ausgezeichnete körperliche Konstitution und stellte sich in der Takelage sehr geschickt an. Seine Position war oben im Vortopp, und oft blickte er von dort oben in die Tiefe, mit der Verachtung eines Mannes, dem es bestimmt ist, inmitten von Gefahren glanzvoll zu bestehen, blickte hinunter auf die friedliche Versammlung von Dächern, die von der braunen Flut des Flusses in zwei Teile zerschnitten wurde, während am äußersten Rand dieser flachen Scheibe vereinzelte Fabrikschlote senkrecht in den rußigen Himmel stiegen, jeder einzelne schlank wie ein Bleistift und jeder ein rauchspeiender Vulkan. Er konnte die großen Schiffe auslaufen sehen, die breitbäuchigen Fähren, die ständig in Bewegung waren, die kleinen Boote, die tief unter ihm auf dem Wasser trieben, und in der Ferne das diesig schimmernde Meer und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt der Abenteuer.

Selbstvergessen inmitten des Gewirrs von zweihundert Stimmen, durchlebte er dann auf dem Unterdeck in Gedanken schon das Seemannsleben der leichten Literatur. Er stellte sich vor, wie er Leute von sinkenden Schiffen rettete, in einem Orkan Maste kappte, mit einem Tau durch die Brandung schwamm; oder er sah sich als einsamen Schiffbrüchigen, barfuß und selbst halbnackt auf nackten Klippen herumirren, auf der Suche nach Schalentieren, um den Hungertod abzuwenden. An tropischen Küsten bot er Wilden trotzig die Stirn, schlug auf hoher See Meutereien nieder und sprach verzweifelten Männern, die in einem kleinen Boot auf dem Ozean trieben, Mut zu – immer ein Musterbeispiel der Pflichterfüllung, immer der unerschrokkene Held, wie er im Buche steht.

»Da ist etwas passiert. Kommt mit.«

Er sprang auf. Die Jungen flogen in Schwärmen die Leitern hinauf. Oben war Hasten und Rufen zu hören, und als er durch die Luke geklettert war, blieb er wie angewurzelt stehen.

Es herrschte die Abenddämmerung eines Wintertags. Der Wind hatte seit Mittag aufgefrischt und den Verkehr auf dem Wasser zum Erliegen gebracht und blies nun mit der Stärke eines Orkans, in plötzlichen Böen, die wie die Salven schwerer Geschütze über das Meer hindröhnten. Der Regen stürzte klatschend in Bahnen herab und ließ dann wieder nach, und hin und wieder bot sich ihm flüchtig der furchterregende Anblick der tosenden Fluten, der hochgeschleuderten, am Ufer entlanghüpfenden Boote, der inmitten vorübertreibender Dunstschwaden reglos aufragenden Gebäude, der breiten, schwerfällig vor Anker stampfenden Fährboote, der riesigen Landungspontons, die sich, eingehüllt in Gischt, hoben und senkten. Und nach der nächsten Bö war alles wieder wie fortgeblasen. Sprühregen erfüllte die Luft. Der Sturm verfolgte verbissen sein Ziel, im Kreischen des Windes und im Aufruhr von Himmel und Erde lag wilde Entschlossenheit, die gegen ihn gerichtet schien, und ein heiliger Schrecken nahm ihm den Atem. Er stand still. Ihm war, als würde er herumgewirbelt.

Jemand rempelte ihn an. »Den Kutter bemannen!« Jungen hasteten an ihm vorüber. Ein Küstenfahrer hatte auf der Suche nach Zuflucht beim Einlaufen einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf dem Schiff hatte den Unfall bemerkt. Ein Haufen Jungen kletterte auf die Reling und drängte sich um die Davits[10]. »Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat’s gesehen.« Ein Stoß – er fiel taumelnd gegen den Besanmast[11] und kriegte ein Tau zu fassen. Ein Zittern lief durch das alte Schulschiff, das mit Ketten an seinen Ankerplatz festgemacht war, es hob und senkte sich, Bug voran, leicht vor dem Wind, und seine bescheidene Takelage summte in tiefem Brummbaß das atemberaubende Lied seiner Jugend auf See. »Boot abfieren!«[12] Das bemannte Boot sank vor seinen Augen schnell unter die Reling hinab, und er eilte hinzu. Er hörte ein Aufklatschen auf dem Wasser. »Loslassen. Talje[13] aushaken!« Er beugte sich vor. Schaum trieb in Schlieren längsseits über den kochenden Fluß. Man konnte den Kutter in der einfallenden Dunkelheit erkennen, wie er, kurz auf gleicher Höhe mit dem Schiff und unter dem Bann von Flut und Wind, hin und her geworfen wurde. Von Ferne drang eine gellende Stimme aus dem Boot an sein Ohr. »Haltet den Schlag, ihr Bälger! Haltet Schlag, wenn ihr jemanden retten wollt!« Und plötzlich hob sich der Bug des Bootes empor, und mit angehobenen Riemen setzte es über eine Welle hinweg und durchbrach so den Bann, den Wind und Flut heraufbeschworen hatten. Jim spürte, wie ihn jemand fest an der Schulter packte. »Zu spät, mein Junge.« Der Kapitän des Schiffs hielt Jim, der drauf und dran war, über Bord zu springen, mit einer Hand zurück, und der Junge sah zu ihm hoch, im Blick das schmerzliche Bewußtsein der Niederlage. Der Kapitän lächelte verständnisvoll. »Vielleicht hast du nächstes Mal mehr Glück. Das wird dich lehren, auf Zack zu sein.«

Ein schriller Freudenruf begrüßte den Kutter. Er kehrte tanzend zurück, halb mit Wasser vollgelaufen und mit zwei erschöpften Männern an Bord, die vom Wasser auf den Bodenplanken hin und her geschwemmt wurden. Der Aufruhr und die Gefahr von Wind und Meer schienen Jim nunmehr verächtlich und steigerten noch sein Bedauern, daß er sich von ihrer leeren Drohung hatte einschüchtern lassen. Jetzt wußte er, was er davon zu halten hatte. Es war ihm, als kümmerte ihn der Sturm überhaupt nicht. Er würde größeren Gefahren die Stirn bieten. Ja, das würde er – und besser als jeder andere. Kein Funke Angst war zurückgeblieben. Dennoch verbrachte er den Abend in nachdenklichem Grübeln, während der Bugmann des Kutters – ein Junge mit dem Gesicht eines Mädchens und großen grauen Augen – der Held auf dem Unterdeck war. Eifrige Frager scharten sich um ihn. Er erzählte: »Ich sah bloß seinen Kopf auf- und untertauchen und stieß meinen Bootshaken ins Wasser. Er erwischte ihn an der Hose, und als ich fürchtete, ich würde gleich über Bord gehen, wäre es auch um ein Haar passiert, hätte nicht der alte Symons die Ruderpinne fahren lassen und mich an den Beinen erwischt – und dabei wär auch das Boot beinahe gekentert. Der alte Symons ist ein Prachtkerl. Nehm’s ihm überhaupt nicht übel, wenn er uns anknurrt. Hat mich unentwegt beschimpft, während er mich am Bein festhielt, aber das war bloß seine Art, mir zu sagen, ich solle den Bootshaken nicht loslassen. Der alte Symons kann sich furchtbar aufregen – stimmt’s? Nein – nicht der kleine Blonde – der andere, der Große mit dem Bart. Als wir ihn reinholten, stöhnte er: ›Oh, mein Bein! Oh, mein Bein!‹ und verdrehte dabei die Augen. Stellt euch das einmal vor – so ein Riesenkerl und fällt in Ohnmacht wie n kleines Mädchen. Würde auch nur einer von euch, Jungs, in Ohnmacht fallen, weil er eins mit dem Bootshaken abgekriegt hat? – Ich nicht. Er ging so tief in seinen Fuß hinein.« Er zeigte den Bootshaken, den er zu diesem Zweck mit nach unten gebracht hatte, und löste eine Sensation aus. »Nein, Unsinn! Es hat ihn nicht das Fleisch gehalten – die Hosen waren’s! ’ne Menge Blut, natürlich.«

Für Jim war das elende Angeberei. Und der Sturm hatte diese Darbietung von Heldentum, das so wenig echt war wie die vorgegaukelten Schrecken, noch unterstützt. Er war wütend über den Aufruhr von Himmel und Erde, weil er ihn überrumpelt und so in seiner selbstlosen Bereitschaft, das Leben aufs Spiel zu setzen, unfairerweise behindert hatte. Abgesehen davon war er aber eher froh, nicht in den Kutter gestiegen zu sein, weil schon eine mindere Ruhmestat ausgereicht hatte. Er hatte sein Wissen um mehr bereichert als diejenigen, welche die Arbeit geleistet hatten. Eines stand für ihn fest – wenn alle anderen zurückschreckten, dann, ja dann wäre er der einzige, der wüßte, wie man mit den Drohgebärden von Wind und See umzugehen hatte. Er wußte, was er davon zu halten hatte. Wenn man es leidenschaftslos betrachtete, schien es erbärmlich. Er konnte in sich keine Spur von Erregung entdecken, und die letzte Auswirkung eines überwältigenden Ereignisses war, daß er – unbemerkt und abseits der lärmenden Horde der Jungen – in der neuerlichen Gewißheit seines Hungers nach Abenteuern und im Bewußtsein seines sich mannigfach bewährenden Mutes innerlich jubilierte.

Zweites Kapitel

N ACH zwei Jahren Ausbildung ging er zur See, und als er jene seiner Vorstellung schon so vertraute Welt betrat, stellte er fest, daß sie sonderbar arm an Abenteuern war. Er machte viele Reisen. Er kannte die Magie des monotonen Lebens zwischen Himmel und Wasser: Er mußte die Kritik der Männer ertragen, die hohen Anforderungen der See und die nüchterne Strenge des täglichen Broterwerbs – dessen einziger Lohn allerdings die bedingungslose Liebe zur Arbeit ist. Dieser Lohn blieb ihm versagt. Und doch konnte er nicht zurück, denn es gibt nichts Verlockenderes und Ernüchternderes und nichts, was einen mehr zum Sklaven macht, als das Leben zur See. Außerdem waren seine Aussichten gut. Er hatte das Benehmen eines Gentleman, war verläßlich und anpassungsfähig und kannte seine Pflichten genau; und so wurde er beizeiten, wenn auch noch sehr jung, Erster Offizier auf einem schmucken Schiff, ohne je von jenen Ereignissen auf See auf die Probe gestellt worden zu sein, die den inneren Wert eines Mannes sichtbar machen, die Kanten seiner Persönlichkeit und die Faser des Stoffs, aus dem er gemacht ist, die den Grad seiner Charakterfestigkeit ebenso offenbaren wie die innere Berechtigung seiner Ansprüche – vor den anderen und vor sich selbst.

Nur noch ein einziges Mal während dieser ganzen Zeit gewährte ihm die See einen flüchtigen Blick auf den großen Ernst ihres Zorns. Diese Wahrheit wird nicht so oft offenbar, wie man vielleicht glaubt. Die Gefährlichkeit von Abenteuern und Stürmen kennt viele Nuancen, und nur selten läßt sich von der bloßen Fassade der Fakten die Absicht roher, finsterer Gewalt ablesen – jenes undefinierbare Etwas, welches das Hirn und das Herz eines Mannes dazu zwingt zu erkennen, daß das komplizierte Geflecht von Zufällen oder die tobenden Elemente mit einer gehässigen, gegen ihn gerichteten Absicht über ihn herfallen, mit unbändiger Gewalt, mit zügelloser Grausamkeit, daß sie ihm seine Hoffnung und seine Furcht, die Qual seiner Erschöpfung und sein Verlangen nach Ruhe schier aus der Seele reißen wollen, sie alles, was er gesehen, geliebt, genossen oder gehaßt hat, zerschmettern, zerstören und vernichten wollen, all das Unbezahlbare, Unverzichtbare – den Sonnenschein, die Erinnerungen, die Zukunft –, sie die ganze prachtvolle Welt seinem Blick entreißen wollen, durch einen ebenso einfachen wie grausamen Gewaltakt – seinen Tod.

Zu Beginn einer Woche, von der sein schottischer Kapitän später zu sagen pflegte: »Mann, es ist für mich ’n apsolutes Wuunder, wie das Schiff das überstanden hat!«, wurde Jim von einer herabfallenden Spiere halb erschlagen[14], und er verbrachte viele Tage ausgestreckt auf dem Rücken, halb ohnmächtig, kaputt, hoffnungslos und gepeinigt – als läge er auf dem tiefsten Grund einer bodenlosen Unrast. Es war ihm einerlei, wie das Ende sein würde, und in wachen Augenblicken überbewertete er seine Gleichgültigkeit. Wenn man die Gefahr nicht sieht, ist sie auf ebenso fragwürdige Weise verschwommen wie der menschliche Gedanke. Die Furcht wird schattenhaft, und die Einbildungskraft, der Feind des Menschen und der Vater aller Schrecken, fällt, weil nicht angeregt, in sich zusammen und schlummert in der Stumpfheit ausgebrannter Gefühle ein. Jim sah nichts als das Chaos seiner schlingernden Kabine. Er lag da, zerschlagen, inmitten eines kleinen Trümmerhaufens, und war insgeheim froh, nicht an Deck zu müssen. Doch dann und wann wurde er von einem unkontrollierbaren Anfall körperlicher Angst geschüttelt, so daß er sich unter seinen Decken krümmte und nach Atem rang, und dann erfüllte ihn die hirnlose Grausamkeit eines Lebens, das der Marter solcher Empfindungen ausgesetzt ist, mit dem verzweifelten Verlangen zu entkommen, koste es, was es wolle. Dann wurde das Wetter wieder schön, und er dachte nicht mehr darüber nach.

Seine Lähmung hielt allerdings an, und als das Schiff einen Hafen des Ostens anlief, mußte er ins Hospital. Seine Genesung zögerte sich hinaus, und so ließ man ihn zurück.

Auf der Station für Weiße lagen nur noch zwei weitere Patienten: der Zahlmeister eines Kanonenboots, der sich das Bein gebrochen hatte, als er durch eine Luke gefallen war, und eine Art Eisenbahnunternehmer aus einer benachbarten Provinz, der von einer mysteriösen tropischen Krankheit befallen war, den Arzt für einen Esel hielt und zügellos im heimlichen Genuß von Wundermitteln schwelgte, die sein Diener, ein Tamile, in nimmermüder Ergebenheit einschmuggelte. Sie erzählten einander ihre Lebensgeschichten, spielten ein wenig Karten oder verbrachten die Tage gähnend, im Pyjama in die Liegestühle gefläzt, ohne ein Wort zu reden. Das Hospital stand auf einem Hügel, und eine sanfte Brise, die durch die immer weit geöffneten Fenster hereinwehte, trug die Milde des Himmels, die Mattigkeit der Erde, den verzaubernden Hauch östlicher Meere in das kahle Zimmer. Sie trug Düfte herein, eine Ahnung unendlichen Friedens, das Geschenk nie endender Träume. Tag für Tag ließ Jim seinen Blick über die dicht bewachsenen Gärten schweifen, hinweg über die Dächer der Stadt, über das Blattwerk der Palmen, die an der Küste wuchsen, bis hin zu jener Reede, der Hauptverkehrsader zum Osten – der von grünverhangenen Inseln gesprenkelten, vom festlichen Sonnenlicht überfluteten Reede, die mit ihren Spielzeugschiffen und dem prächtigen Treiben einem feiertäglichen Prunkzug glich, und darüber die ewig gleichbleibende Heiterkeit des östlichen Himmels, und vor ihm, bis hin zum Horizont, der heitere Friede östlicher Gewässer.

Sobald er nur wieder ohne Stock gehen konnte, stieg er hinab in die Stadt, um sich nach einer Gelegenheit zur Heimreise umzusehen. Es bot sich zur Zeit nichts an, und während er wartete, suchte er im Hafen naturgemäß die Gesellschaft von Kollegen. Davon gab es zwei Sorten. Einige – sehr wenige, die man nur selten zu Gesicht bekam – führten ein geheimnisvolles Leben und hatten sich eine nicht umzubringende Energie bewahrt, das Temperament von Seeräubern und die Augen von Träumern. Sie lebten in einem verrückten Labyrinth aus Plänen, Hoffnungen, Gefahren, Vorhaben, jenseits aller Zivilisation, in den unerforschlichen Regionen des Meeres, und der Tod war das einzige Ereignis in ihrer bizarren Existenz, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten würde. Die Mehrzahl waren Männer, die – so wie er – durch einen Unfall hierher verschlagen worden und als Offiziere von Küstenfahrern hängengeblieben waren. Es graute ihnen jetzt vor dem Heimatdienst – mit seinen härteren Bedingungen, seiner strengeren Pflichtauffassung und den Unwägbarkeiten einer stürmischen See. Sie hatten sich an den immerwährenden Frieden des östlichen Meeres und östlichen Himmels gewöhnt. Sie liebten kurze Passagen, gute Deckstühle, große Eingeborenenmannschaften und die Auszeichnung, Weiße zu sein. Es schauderte sie beim Gedanken an Schwerarbeit, sie führten ein gefährlich bequemes Leben, stets knapp vor der Entlassung, im Dienst von Chinesen, Arabern, Mischlingen – und wären selbst in die Dienste des Teufels getreten, hätte er es ihnen nur angenehm genug gemacht. Sie redeten unentwegt über glückliche Wendungen, wie der Soundso an der chinesischen Küste Kapitän auf einem Schiff geworden war – ein leichter Job; wie dieser einen angenehmen Posten irgendwo in Japan bekommen hatte und wie gut es jenem in der siamesischen Marine erging; und in allem, was sie sagten – in allen ihren Handlungen, ihren Mienen, ihrem Äußeren, ihren Persönlichkeiten konnte man den schwachen Punkt entdecken, die faule Stelle, ihre Entschlossenheit, sich ruhig und unbehelligt durch das Leben zu faulenzen.

Wenn Jim sie als Seeleute betrachtete, dann schien ihm zunächst, daß diese Schwätzer wesenloser waren als so mancher Schatten. Aber mit der Zeit faszinierte ihn der Anblick dieser Männer immer stärker, die sich bei so wenig Risiko und Mühe offenbar so gut durchs Leben schlugen. Allmählich bildete sich neben dem ursprünglichen und tiefen Gefühl der Verachtung ein anderes Gefühl heraus, und nachdem er über Nacht den Gedanken heimzufahren aufgegeben hatte, nahm er auf der Patna [15] den Posten eines Ersten Offiziers an.

Die Patna war einer der dort verkehrenden Dampfer, alt wie die Hügel selbst, schmal wie ein Windhund und schlimmer vom Rost zerfressen als ein alter, ausrangierter Wassertank. Sie gehörte einem Chinesen, war von einem Araber gechartert worden und hatte einen sozusagen fahnenflüchtigen Deutschen aus Neusüdwales zum Kapitän, der ganz erpicht darauf war, sein Vaterland öffentlich zu beschimpfen, aber andererseits – offenbar nach dem Vorbild von Bismarcks siegreicher Politik – all jene brutal schikanierte, vor denen er keine Angst hatte, und der neben einer purpurroten Nase und einem roten Schnurrbart ein »Blut-und-Eisen«-Gehabe zur Schau trug. Nachdem die Patna außen neu gestrichen und innen geweißt worden war und nun längsseits eines hölzernen Landestegs unter Dampf lag, wurden an die achthundert Pilger an Bord getrieben.

Sie strömten über drei Laufstege an Bord, strömten herein, getrieben vom Glauben und der Hoffnung auf das Paradies, strömten herein unter dem steten Trampeln und Schlurfen ihrer nackten Füße, ohne ein Wort, ohne ein Murmeln, ohne sich umzusehen. Und nachdem sie alle beengenden Geländer hinter sich hatten, verteilten sie sich überall auf dem Deck, fluteten vor und zurück, fluteten durch die gähnenden Luken abwärts, um die Tiefen des Schiffsinneren zu füllen, wie Wasser, das eine Zisterne füllt, wie Wasser, das in Ritzen und Spalten dringt, wie Wasser, dessen Spiegel lautlos immer höher steigt, bis es den Rand erreicht. Achthundert Männer und Frauen, erfüllt von Glaube und Hoffnung, voll Liebe und Erinnerung, von Norden und Süden herkommend und aus dem äußersten Osten, hatten sich hier versammelt, nachdem sie – von dem einen mächtigen Verlangen aufrechtgehalten – über Dschungelpfade getrampelt und Flüsse hinuntergefahren waren, in Praus[16] die Untiefen in Küstennähe überquert hatten und in kleinen Kanus von Insel zu Insel geschippert waren, nachdem sie Leiden auf sich genommen und Wundersames erlebt hatten und von unbekannten Ängsten heimgesucht worden waren. Sie kamen aus einsamen Hütten in der Wildnis, aus menschenreichen Kampongs[17], aus Ufer Siedlungen am Meer. Weil sie dem Ruf einer Idee gefolgt waren, hatten sie ihre Wälder zurückgelassen, ihre Rodungen, den Schutz ihrer Herrscher, ihren Reichtum, ihre Armut, die Stätten ihrer Jugend und die Gräber ihrer Väter. Sie kamen mit Staub bedeckt, mit Schweiß, mit Schmutz, in Lumpen – die starken Männer an der Spitze ganzer Familienclans, die abgemagerten alten Männer, die ohne Hoffnung auf Heimkehr vorwärts drängten, junge Burschen, in den furchtlosen Augen Neugier, scheue kleine Mädchen mit wirrem langem Haar, und die furchtsamen, vermummten Frauen, welche die schlafenden, in die losen Zipfel verdreckter Kopftücher gehüllten Säuglinge – diese ahnungslosen Wallfahrer einer strapaziösen Religion – fest an ihre Brust preßten.

»Sieh tir tiese Rindviecher an!« sagte der deutsche Kapitän zu seinem frischgebackenen Ersten Offizier.

Der Anführer dieser Wallfahrt, ein Araber, kam als letzter. Er kam gemessenen Schritts an Bord und wirkte in seinem weißen Gewand und dem großen Turban stattlich und würdevoll. Ein Trupp Diener, beladen mit seinem Gepäck, folgte ihm nach. Die Patna legte ab und verließ achteraus die Anlegestelle.

Sie steuerte zwischen zwei kleinen Inseln hindurch[18], ließ die Ankerplätze für Segelschiffe links liegen, zog einen Halbkreis und glitt im Schatten eines Hügels dahin, um schließlich dicht an gischtumsprühten Riffen entlangzufahren. Der Araber, der aufrecht auf dem Achterdeck stand, deklamierte laut das Gebet für Reisende auf hoher See. Er betete zum Allerhöchsten, Er möge dieser Fahrt gnädig sein, und erflehte Seinen Segen für des Menschen Mühe und Plage und für seine geheimen Herzenswünsche; dazu stampfte der Dampfer in der Dämmerung durch die ruhigen Wasser der Meerenge, während weit hinten ein von Ungläubigen auf Schraubpfählen errichteter Leuchtturm dem Pilgerschiff mit seinem Feuerauge zuzuzwinkern schien, so als spottete er seiner frommen Mission.

Die Patna ließ die Meerenge hinter sich, durchquerte die Bucht und setzte ihren Weg durch den Ein-Grad-Kanal fort. Sie hielt unter einem heiteren Himmel geradewegs auf das Rote Meer zu, unter einem sengenden, wolkenlosen Himmel, eingetaucht in gleißenden Sonnenschein, der alle Gedanken tötete, auf das Herz drückte und jede Regung von Tatkraft und Energie ersterben ließ. Und unter der tückischen Herrlichkeit dieses Himmels lag die tiefe, blaue See ruhig da, glatt, ohne den leisesten Wellenschlag, ohne das kleinste Kräuseln – zähflüssig, abgestanden, tot. Mit leisem Zischen überquerte die Patna diese glänzende, blanke Fläche, entrollte auf dem Himmel ein schwarzes Band aus Rauch, hinterließ auf dem Wasser ein weißes Band aus Schaum, das sogleich wieder verschwand, wie eine geisterhafte Spur, die ein Geisterschiff über eine leblose See zieht.

Als wollte sie auf ihrer Kreisbahn Schritt halten mit dem immer weiter vordringenden Pilgerschiff, stieg die Sonne jeden Morgen in einer lautlosen Feuergarbe in immergleicher Entfernung hinter dem Schiff auf, holte es gegen Mittag ein, um die frommen Vorsätze der Menschen in die Glut ihrer Strahlen zu tauchen, zog Abend für Abend an ihm vorbei und versank geheimnisvoll in der See – in immer gleichbleibender Entfernung von seinem vorwärtsstrebendem Bug. Die fünf Weißen an Bord hatten mittschiffs Quartier bezogen, getrennt von der menschlichen Fracht. Die Sonnensegel spannten ein weißes Dach von vorn bis achtern über das Deck, und einzig ein fernes Summen, ein leises Raunen trauriger Stimmen verriet die Gegenwart der Menschenmassen auf der gleißenden Fläche des Ozeans. So waren diese Tage: still, heiß, drückend – und einer nach dem anderen wurden sie Vergangenheit, als fielen sie in einen tiefen Schlund, der sich für immer im Kielwasser des Schiffes aufgetan hatte, und das Schiff hielt unbeirrbar und einsam unter einer Bahn aus Rauch seinen Kurs, schwarz und schwelend auf der glitzernden, endlosen Weite, wie von einem Feuerstrahl in Brand gesetzt, den ein erbarmungsloser Himmel her abgeschleudert hatte.

Die Nächte breiteten sich wie ein Segen über das Schiff.

Drittes Kapitel

E INE wunderbare Stille erfüllte die Welt, und die Sterne und ihr ruhig heiteres Licht schienen die Gewißheit ewiger Sicherheit über der Erde auszubreiten. Die Sichel des Neumonds leuchtete tief im Westen und erinnerten an einen zarten, von einem Goldbarren wegfliegenden Span, und das Arabische Meer, das für das Auge glatt und kühl wie eine Eisdecke dalag, spannte seine vollkommene Fläche bis hin zum vollkommenen Rund eines dunklen Horizonts. Die Schiffsschraube drehte sich ohne Unterlaß, als gehörte ihr monotoner Umlauf zum Konstruktionsplan eines wohlbehüteten Universums; und rechts und links der Patna hielten zwei tiefe Furchen, deren stete, dunkle Bahn durch die schimmernde Wasserglätte lief, zwischen ihren geraden, auseinanderstiebenden Wellenkämmen ein paar weiße, mit leisem Zischen zerplatzende Schaumstrudel fest, ein paar winzige Wellen und Wellenkräusel, ein paar Wirbel, die, sofort nachdem das Schiff vorbeigezogen war, achteraus die Oberfläche der See aufwallen ließen, sich unter leisem Schmatzen wieder glätteten und mit dem schweigenden Rund von Wasser und Himmel verschmolzen, dessen Mittelpunkt unveränderlich der schwarze Punkt des Schiffsrumpfs blieb.

Oben auf der Schiffsbrücke stand Jim, durchdrungen von der großen Gewißheit grenzenloser Sicherheit[19], grenzenlosen Friedens, die von dem stillen Antlitz der Natur abzulesen waren wie die Gewißheit fürsorglicher Liebe von der innigen Zärtlichkeit im Antlitz einer Mutter. Ausgeliefert an die Weisheit und den Mut der weißen Männer und im Vertrauen auf die Kraft ihres Unglaubens und auf den Eisenpanzer ihres rauchenden Schiffs, schliefen unter dem Baldachin der Sonnensegel die Wallfahrer einer strapaziösen Religion auf Matten, Decken, nackten Planken, auf jedem Deck, in jedem finsteren Winkel; verpackt in ausgebleichte Gewänder, eingemummt in schmutzige Lumpen, ruhten sie, ihre Gesichter in die Armbeugen gepreßt, ihre Köpfe auf kleinen Bündeln: die Männer, die Frauen, die Kinder; Alte neben Jungen, Hinfällige neben Kraftmenschen – alle gleich vor dem Schlaf, dem Bruder des Todes.

Ein Luftzug, der von der Fahrtgeschwindigkeit des Schiffes herrührte, wehte gleichmäßig durch das lange Dunkel zwischen den hohen Schiffswänden und strich über die Reihen auf den Boden hingestreckter Körper. Vereinzelt hingen da und dort, dicht unter den Stangen der Sonnensegel, ein paar schwach glimmende Kugellaternen, deren trüber, unter den ständigen Vibrationen des Schiffes leise mitbebender Lichtkreis auf ein hochgerecktes Kinn fiel, auf ein Paar geschlossener Augenlider, eine silberberingte schwarze Hand, auf ein in Lumpen gehülltes, abgemagertes Glied, einen nach hinten fallenden Kopf, einen nackten Fuß, eine Kehle, entblößt, als recke sie sich gleichsam dem Messer entgegen. Die Wohlhabenderen hatten für ihre Familien schützende Kojen aus schweren Kisten und staubigen Matten gebaut; die Armen ruhten Seite an Seite, unter dem Kopf die ganze, zu Bündeln zusammengeschnürte Habe; die einsamen Greise schliefen auf ihren Gebetsteppichen – mit angezogenen Beinen, die Hände über den Ohren und den Ellbogen zu beiden Seiten des Gesichts; ein Vater döste, die Schultern hochgezogen, das Kinn auf die Knie gestützt, döste neben einem Jungen, der, das Haar zersaust und einen Arm gebieterisch von sich gestreckt, auf dem Rücken schlief; eine Frau, von Kopf bis Fuß in ein weißes Laken gehüllt wie ein Leichnam, barg in jeder Achselhöhle ein nacktes Kind; die Besitztümer des Arabers, die achtern aufgestapelt worden waren, bildeten ein mächtiges Gebirge, über dessen unförmigen Konturen eine Ladelampe schwankte, und hinter diesem Gebirge ein Chaos aus undeutlichen Formen: blitzende, dickbäuchige Kupferkessel, der Fußteil eines Liegestuhls, Speerspitzen, die Scheide eines alten Schwerts, die an einem Haufen Kissen lehnte, der Schnabel einer zinnernen Kaffeekanne. Das Patentlog[20] an der Heckreling zeigte mit regelmäßigem Klingeln jede von dieser Glaubensmission zurückgelegte Meile an. Über die Masse der Schlafenden strich manchmal ein kaum hörbares, geduldiges Seufzen, ein leises Stöhnen aus unruhigen Träumen; dann wieder zerriß kurzes, metallisches Getöse, das jäh aus dem Schiffsbauch drang, brutal die Luft, das schmerzhafte Kratzen einer Schaufel, das wütende Schlagen einer Feuerungstür – so als erfüllte leidenschaftlicher Zorn die Brust der Männer, die dort unten mit geheimnisvollen Dingen hantierten, während der schlanke hohe Rumpf des Dampfers gleichmäßig weiterzog und seine reglosen, kahlen Masten beharrlich die große Stille der Wasser unter der unnahbaren Heiterkeit des Himmels zerteilten.

Jim ging zwischen Backbord und Steuerbord auf und ab, und in dem tiefen Schweigen erschienen ihm seine Schritte überlaut – als würde ihr Echo von den wachsamen Sternen zurückgeworfen: Seine Augen schweiften an der Linie des Horizonts entlang, schienen hungrig in das Unerreichbare zu blicken und sahen nicht den Schatten des kommenden Ereignisses. Der einzige Schatten über dem Meer war der Schatten des schwarzen Rauchs, dessen mächtiges Band schwer aus dem Schornstein hervorqualmte und dessen Ende sich ständig in der Luft auflöste. Zwei schweigende, beinahe reglose Malaien steuerten das Schiff; sie standen rechts und links vom Steuerrad, dessen Messingrand dann und wann im Oval des Lichtscheins aufblitzte, das aus dem Kompaßhäuschen fiel. Hin und wieder tauchte in dem beleuchteten Teil eine Hand auf, die abwechselnd einmal in die sich drehenden Speichen griff, dann wieder losließ; und die Glieder der Steuerketten knirschten in den Vertiefungen der Ruderreepen. Jim warf einen Blick auf den Kompaß, dann wieder sah er hinaus auf den unerreichbar fernen Horizont, streckte und dehnte sich lässig, bis seine Gelenke in überschwenglichem Wohlbehagen knackten, und, übermütig vom unbezwingbaren Anblick dieses Friedens, fühlte er, daß ihm – bis ans Ende seiner Tage – nichts mehr etwas würde anhaben können, komme, was da wolle. Von Zeit zu Zeit warf er einen gleichgültigen Blick auf eine Seekarte, die mit vier Reißnägeln auf einen niedrigen, dreibeinigen Tisch hinter dem Kasten mit dem Übertragungsmechanismus des Steuerrads geheftet war. Das Blatt, das die Wassertiefe anzeigte, schimmerte unter dem Licht einer Blendlaterne, die an einem Ständer festgebunden war – eine Oberfläche, so eben und glatt wie die glitzernde Oberfläche des Wassers. Parallel-Lineale und ein Schiffszirkel lagen darauf; die Position vom vergangenen Mittag war mit einem kleinen schwarzen Kreuz markiert, und die schnurgerade Bleistiftlinie, die mit festem Strich bis Perim[21] gezogen war, zeigte den Kurs des Schiffes an – den Weg der Seelen zur heiligen Stätte, das Versprechen der Erlösung, den Lohn ewigen Lebens –, während der Bleistift, dessen harte Spitze die Küste von Somalia berührte, rund und still dalag wie eine nackte Spiere, die im Becken eines künstlichen Hafens schwimmt. »Wie ruhig sie fährt«, dachte Jim voll Staunen und einer gewissen Dankbarkeit für diesen Himmel des Friedens und der Ruhe. Zu solchen Zeiten waren seine Gedanken erfüllt von kühnen Heldentaten: Er liebte solche Träume und den Erfolg imaginärer Unternehmungen. Sie waren der beste Teil seines Lebens, seine geheimnisvolle Wahrheit, sein reales, verborgenes Wesen. Sie waren unglaublich männlich, besaßen den Zauber des Unbestimmten und zogen an ihm mit heroischen Schritten vorbei; sie entführten seine Seele und machten sie trunken vom göttlichen Wunderelixier grenzenlosen Selbstvertrauens. Es gab nichts, dem er nicht trotzen konnte. Der Gedanke daran tat ihm so wohl, daß er lächelte, während sein Blick gewohnheitsmäßig nach vorne gerichtet war; blickte er aber einmal zufällig zurück, dann sah er den weißen Streifen des Kielwassers, den das Schiff so schnurgerade durch das Meer zog, wie die schwarze Bleistiftlinie auf der Karte eingezeichnet war.

Die Aschenkübel machten einen Riesenlärm, wenn sie in den Lüftungsschächten des Feuerungsraums hoch und nieder rasselten, und dieses blecherne Geklapper erinnerte ihn daran, daß seine Wache zu Ende ging. Er seufzte zufrieden – aber auch voll Bedauern, denn nun hieß es Abschied nehmen von der heiteren Ruhe, die seine Gedanken so frei umherschweifen ließ. Er war auch ein wenig schläfrig und fühlte eine angenehme Mattigkeit durch seine Glieder fließen, als hätte sich das ganze Blut in seinem Körper in warme Milch verwandelt. Sein Kapitän war geräuschlos heraufgekommen; er war im Pyjama, und seine Pyjamajacke stand weit offen. Halbwach, das Gesicht rot, das linke Auge halb geschlossen, beugte er seinen großen Kopf über die Karte und starrte aus dem stumpfen, glasigen rechten Auge darauf; dabei kratzte er träge seine Brust. Der Anblick des nackten Fleisches war irgendwie obszön. Der entblößte Brustkorb glänzte weich und ölig, als hätte er im Schlaf Fett ausgeschwitzt. Er gab einen fachmännischen Kommentar ab, und der Klang seiner Stimme, rauh und tonlos, erinnerte an das Raspeln einer Feile, mit der man das Ende einer Planke bearbeitet. Das faltige Doppelkinn hing wie ein Sack herab, den er sich umgebunden hatte. Jim fuhr zusammen, und seine Antwort war respektvoll – aber so, als sähe er die ekelhafte, fleischige Gestalt zum erstenmal in einem entlarvenden Licht, brannte sie sich ihm für immer in die Erinnerung ein: als Inbegriff alles Niederträchtigen und Gemeinen, das in der Welt, die wir lieben, lauert, in unserem Herzen, in das wir unsere Hoffnung auf Erlösung setzen, in den Menschen unserer Umgebung, in den Bildern, die in unsere Augen drängen, den Klängen, die an unsere Ohren drängen, und in der Luft, die in unsere Lungen dringt.

Der schmale goldene Span des Mondes glitt langsam abwärts, verlor sich über der dunkler werdenden Wasserfläche, und die Unendlichkeit jenseits des Himmels schien sich mit dem Aufglänzen der Sterne, mit dem sich verdunkelnden, halb durchsichtigen Kristalldom, der sich über der Scheibe der undurchsichtigen See wölbte, näher zur Erde herabzuneigen. Das Schiff glitt so ruhig dahin, daß seine Bewegung für die menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar war, als wäre es ein überbevölkerter Planet, der jenseits unzähliger Sonnen die dunklen Räume des Äthers durchlief, in den entsetzlichen, stillen, einsamen Fernen, die auf den Lebensatem zukünftiger Schöpfungen warten. »Heiß ist gar kein Ausdruck für da unten«, sagte eine Stimme.

Schnaps[22] Patna Patna[23]