Inhaltsverzeichnis
Vorrede
Einleitung
Grundzüge einer Organ-Minderwertigkeitslehre
I. Heredität
II. Anamnestische Hinweise
III. Morphologische Kennzeichen
IV. Reflexanomalien als Minderwertigkeitszeichen
V. Mehrfache Organminderwertigkeiten
VI. Die Rolle des Zentralnervensystems in der Organ-Minderwertigkeitslehre — Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen
Biologische Gesichtspunkte in der Minderwertigkeitslehre
Anhang Zur Minderwertigkeit des Harnapparates. — Schicksale der Enuretiker und ihres Stammbaumes
Alfred Adler

Studie über Minderwertigkeit von Organen

Grundzüge einer Organ-Minderwertigkeitslehre, Anamnestische Hinweise, Morphologische Kennzeichen, Mehrfache Organminderwertigkeiten, Biologische Gesichtspunkte in der Minderwertigkeitslehre
e-artnow, 2017
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-5773-0

Vorrede

Inhaltsverzeichnis

Die Tendenz dieser Schrift geht dahin, der klinischen Medizin ein weiteres Forschungsprinzip anzugliedern. Aus der Geschlossenheit und der Bedeutung der ersten Ergebnisse schöpfe ich die Zuversicht, reichlich fruchtbares Gebiet betreten zu haben.

Zudem war es mir eine reizvolle Aufgabe, den erstarrten und gebundenen Krankheitsbegriff in voller Auflösung zu sehen, die menschliche Pathologie im Fluß beobachten zu können.

Manch wertvolles Stück unserer Wissenschaft ist mir zum Tragbalken meiner Organ-Minderwertigkeitslehre geworden. Nicht allen konnte ich, wie ich gerne gewollt hätte, an der zugehörigen Stelle gerecht werden. An dieser Arbeit haben außer den genannten Autoren Gedankenkreise Martius', Rosenbachs, Exners, Herings, Obersteiners, Haeckels, Schwalbes und mancher anderer einen großen Anteil.

Die vorliegende Arbeit soll als ein Anfang gelten. Vielleicht ist es mir in einiger Zeit gegönnt, den Anschluß an die klinische Medizin, an die Psychologie und Pädagogik durch Hervorhebung aller Vorarbeiten enger zu gestalten.

Einleitung

Inhaltsverzeichnis

Eine Betrachtung der Erkrankungen des Harnapparates kann in der weitläufigsten Weise angestellt werden, solange die Symptomatologie in Frage steht. Wie bei allen anderen Krankheiten ist auch in der Nierenpathologie die Lehre von den Symptomen auf reiner Empirie aufgebaut, ruht also auf sicherem Fundament und ist reich genug ausgestattet, um die Diagnostik der Nierenerkrankungen auf sichere Wege zu leiten. Der Rahmen verengt sich aber sofort, wenn sich die Betrachtung der Ätiologie zuwendet. Die Lehre von den Ursachen der Nierenerkrankungen liest sich wie eine kurzgefaßte Sammlung von Gemeinplätzen, in der Begriffe, wie Disposition, Erkältung, Gifte, Infektion, Kreislaufstörung immer wiederkehren und ihre Rolle spielen, wie bei anderen Organerkrankungen auch.

Daß mehrere dieser ursächlichen Momente selbst in hohem Grade einer Begriffsbestimmung bedürftig sind, soll nicht einmal besonders hervorgehoben werden. Schwerer fällt ins Gewicht, wie wenig feststehendes Material verfügbar ist, um die Frage nach der Krankheitslokalisation in der Niere zu erledigen. Am ehesten entspricht noch den Grundbegriffen der Pathologie die Hervorhebung von Miterkrankungen der Niere bei Vergiftung und Infektion sowie von konsekutiven Veränderungen bei Erkrankungen des Kreislaufapparates, von denen die Harnorgane wie andere Organe auch gemäß ihrer Relation zu den Krankheitsherden befallen werden.

Weniger klar liegen die Verhältnisse in bezug auf jene Fälle, die man als „genuine" oder „primäre" Erkrankungen der Niere zu bezeichnen gezwungen ist. Eine große Reihe von Krankheiten fällt unter diesen Namen. Sie alle haben das Gemeinsame, daß die letzte Ursache ihrer pathologischen Gestaltung nicht über das Nierenorgan hinaus verfolgt werden kann und daß eine entferntere oder gar exogene Ätiologie — schon dem Namen nach — ausgeschlossen erscheint. Hierher sind zu rechnen, wenn man alle anderen unterscheidenden Merkmale beiseite läßt: genuine Schrumpfniere, Nierengeschwülste, lokalisierte Lues und Tuberkulose, zystische Degeneration, Nephrolithiasis, Nephralgie hématurique, renale Hämaturie, Wanderniere, Aplasie und Hypoplasie und analoge Erkrankungen im Nierenbecken und Ureter. Wäre noch hinzuzufügen, daß auch der genetische Entwicklungsgang bei den Sekundärerkrankungen durchaus nicht mit dem Hinweis auf die causa movens als erschöpft anzusehen ist, daß vielmehr auch in diesen Fällen die Auswahl der Niere auf vorläufig unerklärten Wegen sich vollzieht.

Sieht man von einem Erklärungsversuch ab, der sich nur auf rein lokale, in der Niere gelegene Krankheitsursachen beschränkt, so kann man die Auffassungen über Krankheitslokalisation in den Nieren übersichtlich in drei Gruppen zusammenfassen, von denen sich jede sowohl auf sekundäre als auf primäre Erkrankungen bezieht. Die eine Hypothese sucht unter Hinweis auf die „nephrotoxische" Wirkung mancher Gifte die Wahl der Niere zum Krankheitsherd erklärlich zu machen. Ihre Stärke ist das Experiment sowie eine Anzahl von Erfahrungstatsachen, die den Gedanken an eine speziell die Nieren schädigende Noxe, wie bei Scarlatina, Diphtherie und anderen Infektionen nahelegen. Dagegen ist sie auf eine größere Reihe von Nierenaffektionen nicht anwendbar, läßt eine Erklärung für das Freibleiben der Niere bei Auftreten von „Nierengiften" nicht zu und sollte nur mit Vorsicht vom Tierexperiment aus verallgemeinert werden. Jedenfalls ist uns ein Gift, das regelmäßig die Nieren und zugleich nur die Nieren schädigt, vorläufig nicht bekannt. Eine zweite Auffassung erblickt in der exponierten Stellung der Niere als Exkretionsorgan, das ununterbrochen von Abfallsstoffen des Körpers durchflossen wird, die Ursache der meisten Nierenerkrankungen. Diese Hypothese soll als zureichende Erklärung für die meisten der Nierenaffektionen genügen. Sicherlich ist ihre Anwendbarkeit eine größere und ihre Tragweite steht außer Frage, da sie nicht nur mit echten Toxinen, sondern auch mit der Vermehrung von Abfallsprodukten und mit gesteigerten äußeren Anforderungen an die Nieren rechnet. Wir sind aber auch mit dieser Auffassung nicht in der Lage, befriedigende Aufschlüsse zu geben. Auch sie läßt uns im Stiche, wenn wir die Frage aufwerfen, warum bei Vorhandensein der Prämissen, bei Anwesenheit von Bakterien im Blute, von Toxinen und Giften, bei chronischen Stoffwechselanomalien, bei Alkoholismus, Schwangerschaft, Erkältung die Nieren so häufig gesund gefunden werden. Sie versagt auch beim Erklärungsversuch einseitiger Erkrankung der Nieren, wie im Falle von Tuberkulose, Lues und Geschwülsten. — Diese und andere Unzulänglichkeiten zwingen zu einer dritten Anschauung, die auch in dieser Arbeit, wie ich glaube, mit guten Gründen verfochten werden soll, einer Auffassung, nach welcher den meisten Nierenerkrankungen eine ursprüngliche Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates zugrunde liegt.

Daß ein derartiger Zustand für viele Fälle anzunehmen ist und in der Nierenpathologie seine Rolle spielt, ist wohl allgemein anerkannt. Die Erscheinung genuiner Nierenerkrankungen kann durch die Annahme hypothetischer Stoffwechselgifte nicht zureichend erklärt werden. Vor allem ist es der pathologische Befund sowie der klinische Verlauf, die beide dem Bilde einer chronischen Vergiftung widersprechen. Fast mit der gleichen Schärfe wird diese Annahme durch die oft lange Dauer und durch das häufig hereditäre Auftreten widerlegt. Ebenso sind die Pubertätsalbuminurie, die renale Hämophilie, die Zystenniere, die Schwangerschaftsniere, die orthostatische Albuminurie und die mit chronischer Obstipation verbundene Albuminurie Hinweise, denen man sich kaum entziehen kann. Eine der mächtigsten Stützen aber für die den Nierenerkrankungen zugrunde liegende Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates ist die in der Nierenpathologie so häufig zu beobachtende Heredität. Höchstens kommt noch in Frage, ob einzelne dieser Albuminurien als Krankheiten zu nehmen sind. Die Schwierigkeiten in der Entscheidung dieser Frage sollen nicht geleugnet werden. Denn der Übergang von leichten Anomalien der Harnbeschaffenheit zu schweren Erkrankungsformen der Nieren ist noch nicht häufig genug beobachtet worden. Aber selbst langjähriger Stillstand der Erscheinungen oder Besserung, sei sie unter ärztlicher Behandlung oder ohne eine solche erfolgt, hat keinerlei Beweiskraft. Es kann nämlich mit Recht hervorgehoben werden, daß die Annahme einer Minderwertigkeit der Niere als Grundlage der Nierenerkrankungen, vom Standpunkte der Pathologie aus betrachtet, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, daß der Übergang von Bildungs- oder Funktionsanomalie in Krankheit in der kürzesten Frist bewerkstelligt sein kann und es in vielen Fällen fraglich wird, wo für uns das Krankheitsbild beginnt. Die „physiologischen" Albuminurien spielen da die gleiche Rolle wie etwa die Zystenniere, die sich förmlich über Nacht als schwerer Krankheitsfall darstellen kann, nachdem sie längere Zeit symptomlos bestanden hat.

Durch eine derartige Betrachtung vom Standpunkte einer Minderwertigkeitslehre aus gelangen die oben gekennzeichneten Affektionen des Harnapparates erst an den ihnen gebührenden Platz in der Pathologie. Ihre Bedeutung im Rahmen der Nierenpathologie tritt durch den Nachweis einer ursprünglichen Minderwertigkeit klarer zutage. Gleichzeitig erweist es sich als notwendig, die Untersuchung auf konstitutionelle Organanomalien als der Grundlage vieler, vielleicht der meisten Erkrankungen eindringlicher zu führen, so daß unter Umständen aus der Minderwertigkeitslehre die Diagnostik eine starke Unterstützung beziehen kann. Der Wert dieser Anschauungsweise erstreckt sich aber auch auf die Lehre von den Symptomen und auf die experimentelle Pathologie. Auf letztere, indem sie ein- für allemal den Unterschied von minderwertigen und vollwertigen Organen festsetzt und so die schrankenlose Übertragung von Ergebnissen des Tierexperimentes auf den Menschen, von Erfahrungen am Gesunden auf den Kranken hindert. Auf erstere, indem sie eine innigere Verknüpfung vom empirisch gefundenen Symptom zum erkrankten Organ herzustellen sucht und für Symptome einer mehrfachen Organerkrankung die zugehörigen Organe verantwortlich macht. — Eine besondere Betonung wird die persönliche Prophylaxe erfahren in allen jenen Fällen, wo es gelingt, eine Organminderwertigkeit zu erschließen, ohne daß bereits Anzeichen einer Erkrankung nachzuweisen wären. Ähnlich wie schon heute, wenn Erkrankungen der Eltern den Verdacht bezüglich der Nachkommen erwecken. — Für die Therapie wird grundsätzlich festzustellen sein, ob das minderwertige Organ noch durch irgend ein Regime zu genügender Funktion, eventuell sogar zu einem Bildungszuschuß angeregt werden soll und kann, eine Frage, die bei jugendlichen Personen häufig zu bejahen, bei älteren Kranken nicht selten zu verneinen sein wird. Die Beantwortung dieser Frage wird aber zumeist einen tieferen Einblick in das Wesen der vorliegenden Minderwertigkeit und in seine Bedeutung für den betreffenden Patienten erheischen. Sieht man sich veranlaßt, eine aktive Kur, das Training, zu verwerfen, so treten die Gesetze eines schonenden Heilplanes, Ruhe, Entlastung, in ihre Rechte. — Für die Stellung der Prognose endlich, quoad vitam oder sanationem, ist durch die Minderwertigkeitslehre gleichfalls eine wertvolle Hilfe gewährleistet. Von dem nunmehr geforderten Standpunkt aus wird nicht bloß die Summe der sich bietenden Erscheinungen, sozusagen die Phase des Kampfes, in Erwägung zu ziehen sein, sondern auch die Wertung des Organes festzustellen und das Verhältnis dieses Wertes zur krankheitserregenden Kraft ins Auge zu fassen sein.

Diese Auseinandersetzungen dürften dartun, daß die Lehre von der Minderwertigkeit der Organe Probleme in Angriff nimmt, die zu den wichtigsten der Pathologie gehören. Daß sie für sich den Anspruch erheben darf, kraft der ihr zugrunde liegenden Bedingungen als wertvolle heuristische Methode angesehen zu werden, soll im folgenden nachzuweisen versucht werden.

Grundzüge einer Organ-Minderwertigkeitslehre

Inhaltsverzeichnis

Nachdem wir im obigen versucht haben, die große Bedeutung der Minderwertigkeitslehre in der Nierenpathologie zu skizzieren, zu der wir im Nachtrag noch einige spezielle Belege bringen werden, sehen wir uns veranlaßt, das Gebiet unserer Untersuchung zu erweitern und den gesamten Kreis der Organe in Betracht zu ziehen. Es muß dies um so eher gestattet sein, als einerseits jene Argumentation, die uns zur Behauptung einer Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates als einer der Grundlagen der Nierenpathologie Veranlassung gegeben hat, auf alle anderen Organerkrankungen Anwendung finden kann, andrerseits die pathologischen Erscheinungen der kranken Niere sich in ähnlicher Weise in der gesamten Pathologie nachweisen lassen. Die chronischen Veränderungen des Parenchyms, die pathologische Gestaltung des Stützgewebes, zystische Entartung, Konkrementbildung, Lokalisation von entzündlichen und neoplastischen Geschwülsten, Mißbildung, Aplasie, Hypoplasie im ganzen Apparat oder einzelnen seiner Teile kehren bei allen oder einigen der Organerkrankungen wieder und immer erscheint die Lehre von der Minderwertigkeit berufen, die sonst unzureichende Ätiologie zu ergänzen. Wir finden analoge Veränderungen in der Leber, im Pankreas, in der Thyreoidea, am Genitaltrakt, an Teilen des Verdauungstraktes, des Atmungs- und Kreislaufapparates und im Zentralnervensystem. Eine große Reihe dieser Erkrankungen zeichnet sich durch die bei den Nierenkrankheiten hervorgehobenen Charaktere, durch Heredität, chronischen Verlauf, typische Lokalisation innerhalb des Organes oder unzureichende, weder durch Gifte noch durch Bakterien gestützte Ätiologie aus, fügt sich aber zwanglos in den Rahmen der Minderwertigkeitslehre. So die Pathologie der Schilddrüse, deren Ätiologie sich als vollkommen unzureichend erweist, die aber allen bisher genannten Bedingungen der Minderwertigkeitslehre, insbesondere der der Heredität entspricht. Die pathologischen Veränderungen der Leber zeigen makroskopisch wie mikroskopisch fast in jedem Falle der Nierenpathologie analoge Erscheinungen, wobei uns in erster Linie natürlich die primären Erkrankungen interessieren. Es erscheint uns weiter überflüssig, darauf einzeln hinzuweisen, handelt es sich doch um ein in der allgemeinen Pathologie genügend klar hingestelltes Problem, wie sich bestimmte Veränderungen in jedem einzelnen Organ wiederfinden lassen. Nur der Mangel einer zureichenden Ätiologie soll in diesem Zusammenhange hervorgehoben werden. Das Problem dagegen, das in dieser Schrift aufgeworfen und zu lösen versucht wird, hat vielmehr die Frage zum Inhalt, welche Gründe sind dafür maßgebend, daß gewisse Erkrankungen gerade ein bestimmtes Organ befallen? Die von uns angenommene Lösung, die eine primäre Minderwertigkeit dieses Organes als Grundlage der Erkrankung ansieht, steht mit den Meinungen und Forschungen vieler Autoren in Einklang. Vielleicht dürfen wir in dieser Frage bloß in Anspruch nehmen, die Lehre von der Minderwertigkeit der Organe umfassender in Angriff genommen und ihre Bedeutung für wesentlicher angesehen zu haben. Größerer Widerspruch dürfte sich aber gegen die weitere Behauptung erheben, daß auch andere, nicht als genuin angesehene Erkrankungen, wie Infektionskrankheiten und „zufällige“ Erkrankungen des Entgegenkommens einer Organminderwertigkeit oft bedürfen oder wenigstens in ihrem Verlaufe davon abhängig sind. Eine noch größere Anzahl von Krankheiten wären hier zu nennen. So die Tuberkulose, die sich wohl stets im minderwertigen Organ lokalisiert, eine Behauptung, durch deren endgültigen Nachweis viele der schwebenden Fragen, die Heredität, Eintrittspforten und Wege der Infektion, Immunität und Therapie betreffend, einer Lösung näher gebracht wären. Desgleichen fallen die Ansiedlung der Löfflerschen Bazillen und anderer Mikroorganismen am Rachenring, der Fränkl-Weichselbaumschen Diplokokken in der Lunge, der Typhus-, Cholera- und Dysenterieerreger an bestimmten Stellen des Darms und manche anderen Infektionen in diese Betrachtung. Dabei soll die Rolle der Bakterieninvasion nicht geleugnet werden. Aber besonders seit der Nachweis vieler pathogener Mikroorganismen bei Gesunden gelingt, erscheint die Annahme einer Minderwertigkeit der erkrankten Organe gesichert. Freilich wird man in diesen Fällen oft nur undeutliche Zeichen der Minderwertigkeit zu erwarten haben, ja für viele dieser Erkrankungen muß die Affektion selbst und ihr Verlauf vorläufig als Beweis der Minderwertigkeit angesehen werden. Dies führt uns dazu, für diese weitverbreiteten Erkrankungen die Auffassung von einer „absoluten“ Minderwertigkeit fallen zu lassen und den Begriff einer „relativen“ Minderwertigkeit einzuführen, die sich, sei es zeitweilig oder nur gewissen Krankheitsursachen gegenüber geltend macht. Bezüglich der Tuberkulose freilich scheinen die Beweise einer primären Minderwertigkeit der Lunge oder anderer befallener Organe reichlicher vorhanden zu sein. Schon das hereditäre Auftreten erleichtert diese Annahme. Desgleichen die oft typische Lokalisation in Lunge, Niere, Gelenken und Gehirn. Tatsächlich liegen Hinweise vor auf Befunde, die gewisse Wachstumshemmungen anschuldigen, wie von Fränkl, Schick und Sorgo, Befunde, die wir ohne weiteres mit den von uns später hervorgehobenen Degenerationszeichen in eine Reihe stellen können.

Bezüglich des Diabetes, der Epilepsie, der Neugebilde, des chronischen Alkoholismus, der Fettsucht, des Kretinismus und einigen anderen Erkrankungen behalte ich mir vor, nach Durchsicht eines größeren Materiales deren Stellung zur Lehre von der Organminderwertigkeit zu präzisieren. Eine kleine Beobachtungsreihe hat mir nahegelegt, auch diese Affektionen als auf der Grundlage der Organminderwertigkeit aufgebaut zu betrachten.

Die Rolle des Zufalls bei Erkrankungen minderwertiger Organe ist sicherlich nicht so groß, als gemeiniglich angenommen wird. Wenigstens begegnet man Fällen, die so sonderbar anmuten, daß eine größere Reihe von ihnen imstande ist, einem die Ansicht aufzuzwingen, ihre Determination sei anders und strikter gegeben als durch den Zufall. Einen dieser Fälle will ich im folgenden vorlegen. Ladislaus F., 8 Jahre alt, erlitt im August des Jahres 1905 eine Verletzung durch eine Schreibfeder im äußeren oberen Quadranten des linken Augapfels, die durch die Conjunctiva bulbi bis in die Sklera reichte. Patient war einem mit der Feder herumfuchtelnden Kollegen zu nahe gekommen, ohne daß einem der beiden Knaben ein Verschulden aus Böswilligkeit oder besonderer Unachtsamkeit nachgewiesen werden konnte. Die Wunde heilte unter geringer Reaktion. Im Oktober des Jahres 1905 stellte sich der Knabe wieder vor mit einem in der Kornea des linken Auges eingekeilten Kohlensplitter, der ihm bei einem Windstoß ins Auge geflogen war. Nach Extraktion des Fremdkörpers trat in kurzer Zeit Heilung ein. Im Januar des Jahres 1906 erlitt Patient abermals einen Stich ins linke Auge, der ihm ebenso wie beim ersten Male von einem Schulkollegen mit einer gebrauchten Schreibfeder zugefügt wurde, etwa 1 cm unterhalb und einwärts von der ersten Stichverletzung. Auch diese Verletzung heilte wie die erste in kurzer Zeit mit Hinterlassung einer tintig tingierten Narbe. Man könnte meinen, das sei ein böser Zufall. Ich konnte folgendes ermitteln: Der Großvater mütterlicherseits litt an einer diabetischen Iritis und stand lange Zeit in augenärztlicher Behandlung. Die Mutter zeigte einen Strabismus convergens, desgleichen der jüngere Bruder des Patienten, der beiderseits an Hypermetropie und herabgesetzter Sehschärfe litt, nicht genau nachweisbar wegen Unaufmerksamkeit und geringer Intelligenz des Knaben. Ein Bruder der Mutter war von häufigen Rezidiven einer Conjunctivitis ekzematosa geplagt und zeigte Strabismus convergens. Unser Patient besaß volle Sehschärfe, einen geringen Grad von Hypermetropie, zeigte aber Mangel des Konjunktivalreflexes auf beiden Augen.

Ich will nicht allzu viel aus diesem Falle folgern. Immerhin scheint mir festzustehen, daß man bei diesem Knaben eine Minderwertigkeit des Sehorgans annehmen muß, ziemlich sicher nachweisbar durch die Heredität, die verschiedenen Erkrankungsformen seiner Angehörigen, teils entzündlicher, teils funktioneller Natur, dem Ausfall der eigenen Reflexfunktion der Konjunktiva und der mangelhaften Behütung des Auges durch seinen Träger, ein Umstand, der mir mit der mangelnden Reflexaktion in einem gewissen, übrigens nicht ganz geklärten Zusammenhang zu stehen scheint. An diesem Punkt muß ich noch hinzufügen, daß bei genügenden psychischen Vorbedingungen die oben geschilderte Minderwertigkeit des Auges wettgemacht werden kann, und zwar durch Mehrleistungen der Psyche. Der Knabe kann „durch Schaden klug“ werden und durch psychische Mehrleistung den teilweisen organischen Defekt decken. Der Übergang aus der Organminderwertigkeit in psychische Mehrleistung wird in solchen Fällen greifbar. Es kann aber auch keiner Frage unterliegen, daß in der Art der psychischen Kompensation die Spuren der auslösenden Organminderwertigkeit unverwischbar bleiben, daß beispielsweise im vorliegenden Falle der Schutz des Auges mehr in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken und damit der visuelle Charakter des Individuums eine besondere Verstärkung erfahren müßte. Doch davon später.

Unterdes sei es uns gestattet, über das Wesen der Organminderwertigkeit, das schon im vorliegenden stellenweise beleuchtet erscheint, im Zusammenhange folgendes nachzutragen: Wir müssen bloß zum Zwecke einer einfacheren Übersichtlichkeit zwei Formen namhaft machen, in denen sich die Minderwertigkeit eines Organes ausdrückt, die morphologische und die funktionelle Minderwertigkeit. Beide sind in der überwiegenden Anzahl der Fälle gleichzeitig vorhanden. Als dritte Form, auf welche ich in dieser Studie weniger Gewicht lege, möchte ich die „relative“ Minderwertigkeit bezeichnen, die sich bloß durch den Krankheitsfall deklariert und erst bei gesteigerten Ansprüchen oder planmäßigen Probeversuchen kenntlich wird.

1. Morphologische Minderwertigkeit