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Susanna Herrmann

Mütterstreik

Und Tschüss!

© 2018 Susanna Herrmann

Umschlag, Illustration: Gabi Schnoobs
Lektorat, Korrektorat: Anja-Nadine Mayer
Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback978-3-7439-7178-3
Hardcover978-3-7439-7179-0
e-Book978-3-7439-7180-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Haben Sie sich auch schon mal gewünscht einfach alles stehen und liegen zu lassen und abzuhauen? Einfach die Sachen packen und raus, nur weg? Weg vom Ehealltag, weg von den anstrengenden Kindern und weg von nervigen Arbeitskollegen? Ja? Willkommen im Club!

1. Kapitel

Francis

Es gibt Tage, da fragt man sich: Ist es das, was ich will? Ist das mein Leben? Auch Francis stellte sich in letzter Zeit öfter diese Fragen. Heute war wieder einer dieser Tage.

Sie war unglaublich spät dran. Im Verlag war die Hölle los gewesen. Kein Wunder, es war Wahljahr. Fast im Minutentakt kamen neue Meldungen über Skandale, Fehltritte und Dementis von der politischen Bühne rein. Seit fast drei Jahren arbeitete sie im Verlag ihres Mannes wieder voll mit und hatte kaum noch Zeit für ihre eigentliche Bestimmung, Bücher zu schreiben. Anfangs fand sie es auch wirklich schön, einmal wöchentlich eine Kolumne für ihre Leserinnenfangemeinschaft zu schreiben, aber mittlerweile schrieb sie täglich – und kaum hatte sie ein paar Zeilen fertig, kam eine neue Meldung und sie musste alles wieder neu schreiben.

Politiker, ich mag sie einfach nicht. Kaum sagen sie A, meinen aber B und am Ende war es doch C. Furchtbar. Da soll einer noch durchblicken.

Schlecht gelaunt raste Francis in ihrer neongrünen A-Klasse die Straße entlang. Ihr Sohn Harry hatte bereits seit fünfzehn Minuten Trainingsende. Seit einem halben Jahr spielte er nun schon Basketball und fühlte sich wie Dirk Nowitzki. Sie sah bereits die Ampel auf gelb umspringen. Bitte, bitte warte noch mit Rot, betete sie gen Himmel. Aber nein, die rote Ampel zwang Francis zu einer halben Vollbremsung. Der Fahrer hinter ihr zeigte ihr einen Vogel. Das verbesserte nicht gerade ihre Laune. Kaum sprang die Ampel wieder auf Gelb, gab Francis Gas und ließ den Idioten im Rückspiegel verschwinden. Tja, Frau am Steuer, das gibt Feuer! Für einen Hauch einer Sekunde war sie zufrieden. Aber dann …

„Guten Tag. Die Autopapiere bitte! Wissen Sie, warum Sie angehalten wurden?“

Natürlich! Sie war zwar eine Frau, aber nicht doof. Polizei, dein Freund und Helfer – von wegen. Jetzt würde sie aber wirklich viel zu spät kommen. Harry sitzt sicher schon einsam und verlassen auf dem Bordstein und wartet vergebens auf seine Mutter, dachte sie.

Zweihundertfünfzig Euro und einen Punkt später – jetzt dachte sie nur noch: Frau am Steuer, das wird teuer! – bog sie in die Einbahnstraße vor der Turnhalle. Kein Harry weit und breit zu sehen. Toll. Die Turnhalle war bereits fest verschlossen. Jetzt bereute sie es, ihm noch kein Handy gekauft zu haben. Es war ein leidiges Thema. Alle in der Schule hätten ein Handy, nur er nicht. Überhaupt sei sie ja so gemein und gönne ihm aber auch gar nichts. Auch ihre zehnjährige Tochter Jane griff immer öfter das Thema auf. Darin waren sich die Geschwister einig, sie brauchten unbedingt ein Handy. Aber sie hatte in dem Alter auch noch kein Handy besessen. Harry war erst zwölf, Francis hatte sich ihr erstes Handy mit zwanzig selbst gekauft. Gut, es war auch eine andere Zeit, aber wenn er ein Handy hätte, würde sie ihn doch überhaupt nicht mehr unter Kontrolle haben. Wer weiß, was sich Kinder in diesem Alter alles hin und her simsten. Trotzdem würde sie nun wohl ihre Antihandyeinstellung überdenken müssen.

Auch auf dem Heimweg wurde ihre Laune nicht besser. Sie bog in die Einfahrt ein und sah schon, Sohnemann war zu Hause. Die Sporttasche auf dem Boden vor der Haustür fallengelassen, war er sicher bei Leo nebenan Fußball spielen. Konnte dieses Kind nicht wenigstens erst mal seine Sachen reinstellen? Bepackt wie ein Esel öffnete sie die Tür und versuchte den Hausflur zu betreten. Es blieb beim Versuch. Auch ihre Tochter Jane war zu Hause. Es bot sich Francis ein Blick des alltäglichen Chaos. Schuhe, Jacken, Taschen, Beutel, alles lag achtlos auf dem Boden herum und erschwerte das Betreten des Hauses, ohne sich den Fuß zu brechen.

„Jaaannnne!!!“

Verdammt, jeden Tag das Gleiche. Verlangte sie denn wirklich zu viel? Sie hatten doch einen Schuhschrank, einen Garderobenschrank und sogar Kleiderhaken. Warum wurden diese tollen Einrichtungsgegenstände nicht benutzt? Noch immer stand sie im Hausflur, bepackt mit Einkaufstüten, Sporttasche und ihrer Handtasche, den Autoschlüssel zwischen die Zähne geklemmt. Man sollte glauben, das Kind würde reagieren, wenn man es rief, aber nein, Fehlanzeige.

Wütend ließ sie die Tüten fallen, schmiss den Schlüssel in die Schale auf der Kommode und bahnte sich den Weg durch den Flur. Francis rannte förmlich die Treppe hinauf und riss die Tür zum Zimmer ihrer Tochter auf. Friedlich lag diese auf ihrem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren, und las irgendeine Mädchenzeitschrift.

„Jane, ich hatte dich gerufen!“, fauchte Francis sie an.

Jane blickte ihre Mutter kurz mit ihren rehbraunen Augen an und nahm die Kopfhörer ab. „Was ist?“

„Ich hatte dich gerufen, geh runter und beseitige das Chaos im Flur. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du möchtest deine Sachen wegräumen. Das kann doch nicht so schwer sein, seine Jacke an den Haken zu hängen!“

Sie zog die Kopfhörer wieder über die Ohren und brummte: „Mach ich dann.“

War das zu fassen? Francis war kurz vorm Überlaufen. „Nicht dann, sofort!“ Jetzt hatte sie doch geschrien, dabei hatte sich Francis erst gestern vorgenommen ruhiger zu werden.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder hinunter, um den Einkauf wegzuräumen. Auch ihre Tüten standen noch immer im Hausflur. Der Anrufbeantworter blickte: „Hey Schatz, ich bin’s, die Pressekonferenz hat doch länger gedauert, komme etwas später, fangt schon mal an zu essen.“

Na toll. Das war schon der dritte Abend in dieser Woche, an dem Marc „später“ kam, und es war erst Mittwoch.

„Sag mal, Ma, warum hast du mich denn nicht vom Training abgeholt? Ich hab die ganze Zeit auf dich gewartet.“ Harry kam in die Küche geschlurft.

Sie konnte nicht reagieren. Ihr Blick fiel auf die total verdreckten Turnschuhe und die Spur, die er bereits quer durch die Küche gezogen hatte. Ihr Puls war mittlerweile auf hundertachtzig. „Ich war in einer allgemeinen Verkehrskontrolle. Kann ja mal passieren. Aber wie ich sehe, bist du ja zu Hause angekommen. Deine Schuhe, Harry!“

Sich keiner Schuld bewusst, lief er zum Kühlschrank und holte sich eine Milch raus. „Na glücklicherweise hab ich den Bus noch gekriegt, sonst würde ich immer noch vor der Turnhalle blöd rumsitzen.“

Jetzt baute sich Francis vor ihm auf. „Harry, deine Schuhe!“

„Schon gut, reg dich ab.“

Dann verließ er die Küche. Die Milch hatte er offen auf dem Tisch stehen lassen. Hinsetzen, durchatmen, bis zehn zählen …

Sie blickte auf das große Familienfoto im Flur. Jane mit ihren langen dunklen Haaren, ihren rehbraunen Augen und den schmalen Gesichtszügen – man sah, dass sie ihre Tochter war. Harry mit seinen kurzen dunklen Locken und blauen Augen sah aus wie sein Vater. Und Marc, der sie im Arm hielt. Das Foto hatte sie sich letztes Jahr zu Weihnachten gewünscht. Sie hatte es tatsächlich geschafft, einen gemeinsamen Termin beim Fotografen zu finden. Eine glückliche Familie. Aber waren sie das wirklich? Gerade fühlte sich das nicht so an. Francis saß in ihrer Küche und fühlte sich allein und völlig überfordert. Dieses Gefühl begleitete sie nun schon seit Wochen.

Es war schon spät, als sie endlich auf ihrer Couch Ruhe fand. Sie hatte sich ein Glas Rotwein eingeschenkt und das Buch, das sie seit Wochen versuchte zu lesen, zur Hand genommen. Es war bereits Oktober, die Tage wurden kürzer und die Nächte waren kühl. Bald würde der Frost kommen und der Matsch, der Schnee, die Dunkelheit. Francis war ein Kind des Sommers. Den grauen Herbst und den dunklen Winter mochte sie nicht. Obwohl, auf die Vorweihnachtszeit freute sie sich ein bisschen. In diesem Jahr hatte sie sich fest vorgenommen nicht so viel zu arbeiten, mit ihren beiden besten Freundinnen Meike und Susi Glühwein trinken zu gehen und vielleicht noch einen Wellnesstag einzuschieben. Auch die beiden mussten zu Hause dringend mal raus. Meike hatte zwar nur noch ihren Jüngsten zu Hause, die beiden Großen gingen bereits ihre eigenen Wege, aber seit einem halben Jahr hatte sich ihre Schwiegermutter bei Meike eingenistet. Angeblich nur vorübergehend, bis das Haus verkauft war und Ralf eine nette Wohnung im betreuten Wohnen gefunden hatte. Seit der Schwiegervater im vergangenen Jahr gestorben war, suchte die taffe Rentnerin nun Unterhaltung beim Rest der Familie. Als Francis ihre Freundin Meike letzte Woche gesehen hatte, sah sie schlecht aus. Sie hatte dunkle Augenringe und war zudem schlecht gelaunt. Francis machte sich Sorgen um ihre Freundin.

Tja, und Susi … Sie war eigentlich glücklich. Sie hatte ihren Traummann in Peter gefunden und eine wundervolle kleine, mittlerweile sechsjährige Tochter. Rosalie war kein einfaches Kind, aber Francis fand, dass Susi das als Mutter ganz gut machte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, unterschwellig nagte irgendetwas an ihrer Freundin. Vielleicht trauerte Susi doch ihrem unbeschwerten Singleleben nach.

Francis hatte es tatsächlich geschafft, ein Kapitel des Buches vollständig zu lesen, ohne dabei einzuschlafen. Sie hörte, wie der Schlüssel in die Haustür gesteckt wurde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es wieder fast Mitternacht war. Betont leise betrat Marc den Hausflur. Er gab sich Mühe, trotzdem hörte Francis, wie er den Schlüssel neben die Schale auf die Kommode legte, wie er seine Jacke ebenfalls auf die Kommode warf und seinen Aktenkoffer mitten im Flur abstellte. Sie wusste, dass er seine Schuhe einfach dort stehen ließ, wo er sie ausgezogen hatte, und dass er auch nicht mehr seine Jacke an den Haken hängen würde. Er schlich leise durch das Wohnzimmer in Richtung Küche. Sie stellte ihr Rotweinglas hörbar auf dem Glastisch ab.

Erschrocken sah Marc sie an: „Oh Liebling, du bist noch wach?“

Er kam zu ihr rüber und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ist noch etwas zu essen da?“

Kein Hallo. Kein: Wie war dein Tag? Kein Gespräch.

„Es steht noch alles da, du kannst dir den Rest warm machen.“

Er lächelte kurz und verschwand in der Küche. Sie hörte, wie die Tür der Mikrowelle auf-, zu- und wieder aufging. Sie hörte, wie die Kühlschranktür auf- und wieder zuging. Sie hörte, wie das Geschirr klapperte und er den Stuhl vom Tisch wegschob.

„Ich geh schon hoch ins Bett, bin müde. Kommst du?“ Dann war er auch schon verschwunden.

Francis stöhnte beim Anblick der Küche. Sie schloss die Mikrowelle, räumte das Geschirr in die Spülmaschine, rückte den Stuhl wieder an den Tisch und wischte abschließend den Tisch noch mal ab. Sie atmete einmal tief durch und folgte ihrem Mann ins Schlafzimmer. Er lag bereits im Bett und atmete schwer. Marc war eingeschlafen. Sie ging noch einmal kurz ins Bad, um ihre Zähne zu putzen. Er hatte es nicht einmal geschafft, seine Sachen in den Wäschekorb zu legen. Immerhin, sie lagen im Bad verstreut und nicht vor dem Bett. Sie war zu müde, um sich aufzuregen. Und trotzdem schwirrten ihr die Gedanken durch den Kopf.

Erst gestern hatte sie sich mit Jane furchtbar gestritten. Eigentlich ging es immer um das Gleiche. Francis wünschte sich doch nur, dass alle ein bisschen mithalfen im Haushalt. Aber ihre Tochter war ja sogar zu faul, die frisch gewaschenen und zusammengelegten Sachen in ihren Schrank zu räumen. Sie lagen eben auf dem mit Zeitschriften und sonstigem Teeniezeugs übersäten Fußboden herum. Und als Francis eine angeschimmelte Scheibe Brot im Fensterbrett entdeckte, war sie völlig ausgerastet. Aber das hatte ihre Tochter nicht wirklich gestört. Sie schrie zurück, sie solle sie gefälligst in Ruhe lassen, es sei ja schließlich ihr Zimmer, und dann hatte sie einfach ihrer Mutter die Tür vor der Nase zugeknallt. Francis hatte gar nicht so schnell Luft holen können.

Was machte sie als Mutter nur falsch? Diese Frage stellte sie sich mittlerweile täglich. Und was sagte Marc dazu? „Sie ist eben in der Pubertät. Das geht vorbei.“ Und dann war er mit dem Thema durch.

Francis war todmüde und wälzte sich hin und her. Ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, war: So geht das nicht weiter. Ich kann nicht mehr!

Meike

Meike schob nun schon seit einer Stunde den halb gefüllten Einkaufswagen vor sich her. Sie hatte sich vorgenommen heute Marcus’ Lieblingsessen zu kochen. Ihr Ältester studierte bereits seit zwei Jahren Jura und kehrte heute von seinem Auslandssemester in Frankreich zurück. Ihre Einkaufsliste hatte sie bereits abgearbeitet und nun lief sie einfach noch ein wenig umher. Sie merkte nicht, dass sie an den Cornflakes bereits das dritte Mal vorbeigelaufen war. Ihre Gedanken kreisten um die letzten Wochen.

Was war passiert? Ihr Schwiegervater Helmut war im vergangenen Sommer plötzlich verstorben. Ihre Schwiegereltern hatten ein kleines Häuschen im Schwarzwald und ein bisschen Grundstück drumherum. Helmut war ein sehr ruhiger, friedlicher Zeitgenosse, anders seine Frau Helga. Sie hatte, wie man so schön sagt, Haare auf den Zähnen. Das war nicht weiter schlimm, solange Meike sie nur einmal im Jahr besuchen musste. Ein paar Tage im Jahr konnte sie damit leben, herumkommandiert zu werden und in den Augen ihrer Schwiegermutter eh alles falsch zu machen. Doch dann war Helmut plötzlich nicht mehr da. Helga konnte das Haus und das Grundstück nicht allein unterhalten und pflegen. Sie war mittlerweile eine alte Dame Ende siebzig und weigerte sich allein in dem großen Haus zu bleiben. Ralf war ihr einziger Sohn.

„Nur für ein paar Wochen, bis wir ein betreutes Wohnen in unserer Nähe gefunden haben“, hatte Ralf gesagt. Er würde schon schnell was finden. Als Immobilienmakler verfüge er doch über die besten Kontakte.

Meike hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt. Aber sie hatte sich Mut zugeredet. Nur ein paar Wochen, das würde sie schon überstehen. Aus den paar Wochen waren mittlerweile sechs Monate geworden und sie hatte nicht das Gefühl, dass sich Ralf ernsthaft bemühte seine Mutter woanders unterzubringen. Im Gegenteil, er schien die Anwesenheit seiner Mutter zu genießen. Helga hatte den Haushalt und vor allem die Küche fest unter ihre Fittiche genommen. Von wegen altersschwach! Sie kochte jeden Abend die Lieblingsgerichte ihres „kleinen Jungen“ und der Kinder. Von Meikes gesunder Ernährung war nichts mehr übrig geblieben. Dafür hatte Ralf mittlerweile fünf Kilo zugenommen. Für Meike blieb nur die freudvolle Aufgabe, das Chaos, das Helga täglich in der Küche veranstaltete, zu beseitigen.

Wenn es nur beim Kochen geblieben wäre, hätte Meike ja vielleicht noch damit leben können – aber nein! Helga machte ihre Betten, vergriff sich an ihrer Wäsche und hatte auch das „unordentliche“ Wohnzimmer nach ihrem Geschmack umgeräumt. Meike fühlte sich nur noch als Gast in ihrem eigenen Haus und niemanden außer ihr selbst schien das zu stören.

„Kann ich Ihnen helfen, junge Frau?“ Ein Angestellter des Supermarktes stellte sich ihr in den Weg. Erschrocken sah sie den jungen Mann an.

„Nein, danke“, stammelte sie etwas verlegen. Es hatte keinen Sinn, irgendwann musste sie ja wieder nach Hause. Schweren Herzens verließ sie den Supermarkt, um nach Hause in die Höhle des Löwen zurückzukehren. Schließlich würde heute Marcus nach Hause kommen und sie wollte für ihn Königsberger Klopse machen. Marcus war nun ganze neun Monate weg gewesen und sie freute sich sehr, ihn wieder an ihre mütterliche Brust zu drücken.

Sie konnte sich natürlich eine Arbeit suchen, aber wer würde eine Frau Anfang vierzig, die zwar studiert hatte und als Jahrgangsbeste sogar ihr Studium verkürzt hatte, aber keinerlei berufliche Erfahrung vorweisen konnte, nehmen? Noch im Abschlussjahr ihres Studiums hatte sie Ralf kennengelernt und war eine Woche vor der Diplomverleihung schwanger geworden. Sie war zwar Diplombiologin, aber ohne jemals als solche tätig gewesen zu sein. Nach Marcus kam Alexander und danach wurde sie mit Björn schwanger. Sie blieb zu Hause, kümmerte sich um die Kinder und hielt Ralf den Rücken frei. Es machte ihr auch nichts aus. Sie engagierte sich in sämtlichen Fördervereinen, egal ob Kita, Sport oder Schule, und managte das gesamte Familienleben. Eigentlich hatte sie immer zu tun. Bei drei Kindern wurde es nicht langweilig. Aber seit Helga eingezogen war, wünschte sie sich, morgens das Haus verlassen zu können und erst spät abends zurückzukehren. Sie beneidete ihren Mann um seine Arbeit und die Kinder um ihre Schule.

„Na, da bist du ja endlich!“ Helga stand bereits ungeduldig an der Tür. Es roch nach Essen.

Meikes Miene verfinsterte sich schlagartig. Sie hatte doch heute Morgen beim Frühstück laut und deutlich gesagt, dass sie heute kochen würde! Aber wann hatte Helga ihr je zugehört? Es roch nach Kraut. Meike drehte sich der Magen um. Sie hasste den Geruch von angebratenem Kraut.

„Ich habe Kohlrouladen gemacht, die mag doch Marcus so gern“, verkündete ihre Schwiegermutter stolz.

„Seit wann denn das?“, murmelte Meike vor sich hin. Sie trug die Einkaufstüten in die Küche und begann wortlos den Einkauf wegzuräumen.

„Kannst du nicht mal den Müll rausbringen, ich hab schließlich schon gekocht, ich kann ja hier nicht alles allein machen!“

Helga hatte einen Befehlston drauf, dem Meike kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Wenn doch nur ihr Mann mal hören würde, wie Helga mit ihr umsprang. Aber immer wenn sie das Thema ansprach, reagierte Ralf zurückweisend. „Sie hat doch niemanden außer uns. Wir sind ihre Familie, wir müssen füreinander da sein.“ Ja toll, das ist ja alles schön und gut, aber kann das nicht in getrennten Wohnungen sein? Von ihr aus konnte ja Helga jeden Sonntag zum Mittagessen vorbeikommen, aber hatte sie denn gleich hier einziehen müssen? Und heute wollte sie kochen! Sie hatte es sich fest vorgenommen. Also suchte sich Meike ein noch nicht vereinnahmtes Plätzchen in der Küche und begann ihr Essen zuzubereiten. Sie überhörte einfach die Kommentare und Anweisungen ihrer Schwiegermutter. Und als sie endlich Ralfs Auto vorfahren hörte, verbesserte sich ihre Laune. Endlich kehrte ihr „Baby“ nach Hause zurück. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihr Kind in die Arme zu schließen.

Allerdings war Helga schneller. Sie ließ alles stehen und liegen und rannte mit den Worten: „Meike, deck doch schon mal den Tisch, das Kind ist da!“ Marcus entgegen. Mein Kind!, dachte Meike wütend. Sie nahm sich fest vor, noch heute Abend mit Ralf zu sprechen. So konnte das einfach nicht mehr weitergehen! Diese Frau vereinnahmte ihre ganze Familie!

Das Abendessen verlief dann eher ruhig. Bis auf eine Ausnahme: Helga! Sie erzählte und erzählte und erzählte. Marcus hatte keine Chance, irgendetwas über seinen Aufenthalt in Frankreich zu erzählen. Aber er aß die Königsberger Klopse zu Meikes Freude mit viel Genuss. Für Alexander und Björn hatte Oma natürlich extra Eierkuchen gebacken. Ordentlich Nutella drauf und Oma war die Beste.

Als Meike sich allein in der Küche dem Abwasch widmete, kam ihr Großer zu ihr und half ihr ein bisschen. „Ist nicht leicht mit Oma, was?“

Sie nickte stumm. Er sah, dass es seiner Mutter nicht gut ging und schien sie zu verstehen. Aber auch er würde am Montag in seine Studentenwohnung zurückkehren und sie wieder allein lassen.

Ralf hatte sich mit vorgeschobener Müdigkeit bereits verabschiedet. Er wollte nicht mit ihr über Helga reden. Sie war seine Mutter, seine liebe Mama. Jedes Mal, wenn Meike einen Versuch unternahm, mit ihm darüber zu reden, hatte er Ausflüchte und Ausreden. Er würde sie nie wegschicken, das wurde Meike immer bewusster. Und sie war nicht die Frau, die auf den Tisch haute und ihr Leben zurückfordern würde. Sie wurde so erzogen, sich unterzuordnen. Das war schon immer so gewesen. Sie war die Ruhige, die Vernünftige. Und ihr Mann sah nicht, dass sie daran zu zerbrechen drohte. Selbst ihr zwischenzeitlich wieder gutes Sexleben war seit dem Einzug von Helga gänzlich eingeschlafen. Kein Wunder. Helga stand ja auch schon mal mitten in der Nacht in ihrem Schlafzimmer und meckerte laut los, die Lampe im Badezimmer würde flackern. Und natürlich stand Ralf sofort auf, um das Problem zu beheben. Dass Meike danach nicht mehr einschlafen konnte, interessierte niemanden.

Sie hatte es so satt! Das erste Mal in ihrem Leben formte sich der eine Gedanke, der sich seit langem in ihrem Unterbewusstsein nährte: Ich kann, nein, ich will nicht mehr!

Susi

„Nein, ich will aber nicht!“

Susi kochte. Dieses Kind brachte sie an den Rand ihrer Kräfte. Wie konnte ein sechsjähriges Kind nur so einen Sturkopf haben! Susi war mit ihrer Tochter einkaufen. Sie hatte so einen Wachstumsschub bekommen, dass keine Hose mehr passte. Aber jetzt wollte ihre Tochter einfach keine Hosen anprobieren. Sie weigerte sich, das zu tun, was ihre Mutter wollte.

„Dann gehst du eben in Unterwäsche in die Kita“, schnaubte Susi ihre Tochter an und verließ mit der schreienden Rosalie den Laden.

„Tante Anna ist viel lieber als du“, plärrte das Kind lautstark.

Ja, das hörte sie ständig. Rosalie wurde von der lesbischen Schwester ihres Lebensgefährten verhätschelt und verwöhnt. Susi mochte Anna wirklich, aber es ging ihr in letzter Zeit immer mehr auf die Nerven, dass das Kind von ihr das bekam, was sie eigentlich nicht bekommen sollte. Wollte Rosalie vor dem Abendessen Süßigkeiten naschen, zwinkerte die Kleine ihre Tante einmal mit ihren großen braunen Augen an und sie bekam von ihr einen Lolli. Susi schickte Rosalie ins Bett, Tante Anna holte sie wieder raus, sobald sie nach ihr rief. Rosalie wollte fernsehen, Anna machte die Kiste an. Anna untergrub ihre mütterliche Autorität völlig und Peter schien das überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil, er machte mit. Sagte sie nein, sagte er ja. Es war zum Verrücktwerden! Peter und sie stritten ständig deswegen. Rosalie sei doch Annas Ein und Alles. Sie könne doch keine Kinder bekommen, Susi müsse doch Verständnis haben. Schließlich seien seine Eltern beide tot und könnten das Kind ja nicht verwöhnen.

Das war ja alles gut und schön, aber es war ihr Kind und sie wollte, dass das Kind Regeln lernte und nicht alles bekam, was es wollte. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken: Vielleicht bin ich einfach nicht für das Familienleben gemacht …

Rosalie hörte auch zu Hause nicht auf zu schreien. Peter würde erst spät nach Hause kommen, wenn sie das nervige Kind ins Bett brachte. Pünktlich zum Gutenachtkuss war der liebe Papa wieder zu Hause. Dann las er ihr eine Geschichte vor und war der Held des Tages. Von dem ganzen Stress bekam er nichts mit. Und wenn Susi ihm die Ereignisse des Tages schilderte, tat er es mit einem Lächeln ab. Sie hatte es so satt!