BONITA NORRIS

MISS
EVEREST

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Das Produkt ist eine digitale Aufbereitung der 1. Auflage 2018, ISBN 978-3-7701-6685-5

© Bonita Norris 2017

© für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Die englische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel

»The Girl Who Climbed Everest«

bei Hodder & Stoughton, London, erschienen.

Übersetzung: Ulrike Schimming

Redaktion: Thomas Bertram

Gestaltung: FAVORITBUERO, München

eISBN 978-3-6164-9106-6

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www.dumontreise.de

»Dieses Buch erzählt von all diesen Augenblicken,

den einzelnen Momenten, die einen Lebensweg für immer prägen.

Es erzählt von Schmerzen und dem Unbehagen, die

Komfortzone zu verlassen – und von den außergewöhnlichen

Dingen, die passieren, wenn man sich aufmacht. Es erzählt von

allem, was ich in den Bergen gelernt habe: wie man Ängste

überwindet, wie man durchhält, wenn man schon nicht mehr mag,
und dass dort so viel mehr auf einen wartet,
als man sich je vorstellen konnte. Ich glaube fest daran, dass man
durch harte Arbeit und den Glauben an sich selbst
seine Träume verwirklichen kann. Vertrau mir:
Wenn ich es kann, dann kann es jeder.«

INHALT

01940 Meter unterhalb des Gipfels

02Verrückt nach Laufen

0346 Sekunden, die alles veränderten

04Ein Vortrag mit Folgen

05Endlich Mitglied der Kletter-Community

06Der erste Achttausender

07Doch, das kannst du!

08»Leute wie wir steigen nicht auf den Everest«

09Der große Sagarmatha

10Im Base Camp

11Der Sonne entgegen

12Die letzten zehn Prozent

13Angekommen!

14Der Sturz

15»Mum, ich bin’s!«

16Heimkehr und Zweifel

17Endlich wieder zu Hause!

18Die zehn Lektionen des Everest

19Ama Dablam oder die zweite Chance

20Vor und zurück

21Neue Herausforderungen

EPILOG

DANKSAGUNG

BILDERSTRECKE

ÜBER DIE AUTORIN

Für meinen
geliebten Adrian
&
meine Eltern

01

940 Meter unterhalb des Gipfels

Mir hämmert das Herz in der Brust: 150 Schläge pro Minute. Zu spüren, wie es so gegen die Rippen pocht, versetzt mich in Panik. Ich versuche Luft in meine Lunge zu saugen. Mit dem Auf und Ab des Brustkorbs krümmt sich mein ganzer Körper, der so viel Sauerstoff wie möglich aufnehmen will. Ich verziehe das Gesicht. Den ganzen Tag schon müht sich mein Körper damit ab. Er ist erschöpft und wund, allein vom Atmen.

Dabei bewege ich mich nicht einmal. Ich liege auf meiner Isomatte in unserem Zelt im höchsten Camp am Mount Everest, fast 8000 Meter über dem Meeresspiegel. Links neben mir hat sich mein Teamkamerad Tom ausgestreckt, rechts ruhen Rick und unser Bergführer Kenton. Wir liegen mit den Köpfen jeweils an den Füßen der anderen, unsere Ellenbogen berühren sich. Niemand redet. Fast zwei Jahre Training und harte Schufterei habe ich gebraucht, um so weit zu kommen. Wenn alles nach Plan läuft, geht in etwa 15 Stunden mein größter Traum in Erfüllung: den höchsten Punkt der Erde zu erreichen.

Unser Zelt steht auf dem Südsattel des Everest-Südostgrats, 942 Meter unterhalb des Gipfels. Auf der anderen Seite unseres orangenen Kokons aus Stoff, nur einen Millimeter entfernt, erstreckt sich eine unwirtliche Welt – wunderschön und brutal zugleich. Unter uns zieht das Wolkenmeer dahin. Durch die eisige weiße Weite stechen in der Ferne die anderen Himalaya-Gipfel hervor wie schwebende Inseln. Das Dämmerlicht des Abends taucht die zerklüfteten Spitzen in einen erhabenen orangenen Schein. Diese Giganten des Himalaya gehören zu den höchsten Bergen der Welt – und doch blicken wir aus unserem Zelt auf sie hinab. Es ist überwältigend.

Hier, oberhalb des Wettergeschehens, befinden wir uns tatsächlich auf dem Dach der Welt. Es ist, als wären wir auf einem anderen Planeten. Während die Stunden verstreichen, bedrohen uns der heimtückische Sauerstoffmangel und die tödliche Kälte immer unerbittlicher. Wir sind noch nicht im All, wir sind irgendwo zwischen Himmel und Erde, unterhalb der Sterne, in himmlischen Gefilden. In diesem Reich der Götter herrschen die Natur und das Glück. Diesen Ort hat der Mensch noch nicht erobert und wird ihn auch nie erobern. Wer diese Welt betreten will, der muss bereit sein, sein Leben dafür zu opfern. Ihrer Gnade sind wir ausgeliefert.

Als wir vor ein paar Stunden in Camp 4 ankamen, stolperte ich über den losen Schotter und glaubte das Ende der Welt erreicht zu haben. Camp 4 ist das höchstgelegene und letzte Lager vor dem Gipfel, errichtet auf einem trostlosen Stückchen Erde. Ich konnte das orangene Zelt schon von unten sehen – seine Farbe wirkte matt, und das Flattern des Stoffes im Wind war das einzige Geräusch, das ich hörte. Meine Reflexe waren extrem verlangsamt. Alle meine Sinne schienen sich auszuschalten. Es hat mich eine gewaltige Anstrengung gekostet, an diesen Ort zu gelangen. Einen Monat bin ich zur »Todeszone« hinaufgeklettert, die jenseits der 7000 Meter beginnt. Mit jedem Schritt schwanden Sauerstoff und Wärme. Und immer geringer wurde die Chance, dass wir jemals nach Hause zurückkehren würden.

Im Zelt sackte ich zusammen und rang nach Luft. Ich riss mir die Sauerstoffmaske herunter. Das ist unvernünftig, aber jedes Mal, wenn ich einatmete, saugte sich die Maske an meinem Gesicht fest, und ich hatte das Gefühl, unter ihr zu ersticken. Als ich schließlich die kalte Luft tief einatmen konnte, selbst wenn sie kaum noch Sauerstoff enthielt, beruhigte mich das schlagartig.

Wir haben uns eingerichtet, die Isomatten ausgerollt, die Schlafsäcke herausgezogen und die Rucksäcke ans Ende des Zelts gestopft. Mit unseren Sauerstoffflaschen und -schläuchen drängten wir uns auf engstem Raum zusammen. Dann hieß es, die Bergstiefel ausziehen. Mit eiskalten Fingern fummelte ich an gefrorenen Schnürsenkeln herum. Die schweren Schalenschuhe loszuwerden erforderte einen tiefen Atemzug und eine fast übermenschliche Anstrengung.

Endlich, nachdem ich meine Füße von all den Schichten aus Gamaschen, Stiefeln und Socken befreit hatte, kroch ich in meinen Schlafsack und konnte ein paar wertvolle Minuten schlafen. Ich war so müde, dass mir jeder Knochen wehtat. Seit Tagen habe ich nicht richtig geschlafen. Das Adrenalin hielt mich wach.

Außerdem musste ich die ganze Zeit an unseren Zeitplan denken – die Uhr tickte. In vier Stunden würden wir aufbrechen. Mir blieben 20 Minuten, um ein wenig zu schlafen, bevor ich meine Checkliste durchgehen und mich für unseren Gipfelversuch fertig machen musste.

Während ich hier liege, spüre ich den Berg unter mir. Mein erschöpfter Körper ist ungefähr zehn Kilogramm leichter als vor sechs Wochen, als ich am Flughafen Gatwick gestartet bin. Wirbel und Becken stehen hervor und liegen auf Eis und Fels. Keine Fettschicht schützt sie mehr. Ich will mich umdrehen, aber ich habe nicht genug Platz. Tom neben mir schnarcht bereits. Rick liegt einfach nur da und gibt keinen Laut von sich. Wir sind unter einem Berg aus Daunenschlafsäcken begraben. Unser Atem kondensiert in der Luft. Alles wird feucht, und es ist stickig.

Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft, während ich so still daliege. Wenigstens für ein paar Augenblicke muss ich mich nicht darauf konzentrieren, Karabiner einzuhaken, Seile zu wickeln oder meine Sauerstoffzufuhr zu regulieren. Ohne diese »Ablenkungen« tauchen die Dinge wieder auf, die beständig an mir nagen. In solch ruhigen Momenten ist es immer besonders schlimm, denn dann beginnt der Kampf mit meinen Gedanken.

Ich denke an meine Familie. Sie ist zu Hause, weit weg vom Western Cwm (»Kuhm« gesprochen und auch »Tal des Schweigens« genannt) und dem Khumbu-Eisbruch, Tausende Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Planeten und acht Kilometer unter mir.

Mein Zuhause ist ein zitronengelbes Haus in Wokingham in Berkshire, umgeben von einem 2000 Quadratmeter großen Garten mit riesigen Eichen. Dort habe ich gelebt, seit ich dreizehn war. In meiner Jugend bin ich im Garten immer gegen mich selbst angetreten: Wie schnell konnte ich vom hinteren Zaun an den Apfelbäumen vorbei um den Teich und das Haus herumrennen, Mums Auto ausweichen, über das Gras schlittern, mit einer Vorwärtsrolle über die Brombeeren springen und an den Rosen entlang zum Ende des Vorgartens sprinten?

Mein Zuhause ist aber auch meine Familie: mein Dad, meine Geschwister, meine Mum, mein Stiefvater und zwei Katzen, Bubbles und Tinkerbell. Als ich für meine allererste Himalaya-Expedition packte, zum Mount Manaslu, dem achthöchsten Gipfel der Erde, war ich gerade mal 21 Jahre alt. Die Katzen belagerten während der Vorbereitungen ständig meinen 150-Liter-Rucksack. Sie rollten sich darin immer zum Schlafen ein.

Manchmal schlief Bubbles nachts auch bei mir im Bett. Meine Mum hat mir deshalb für den Everest eine Wärmflasche mit einem Überzug aus flauschigem Leopardenfell-Imitat geschenkt, damit ich dort damit kuscheln konnte statt mit meiner Katze.

Bislang hatte ich in den Bergen die schönsten Momente erlebt, wenn ich mich im Base Camp zum Schlafen hinlegte und der Gletscher unter mir knackte. Ich befand mich an einem magischen Ort, aber die weiche Wärmflasche erinnerte mich an Bubbles und mein Zuhause.

Diese Wärmflasche habe ich jetzt nicht dabei. Sie war für den Aufstieg einfach zu schwer. Hier oben benutze ich stattdessen meine Plastiktrinkflasche. Ich fülle heißes Wasser hinein, stopfe sie in einen Socken und wärme mich damit – auch wenn es definitiv nicht das Gleiche ist, wie mit Bubbles zu schmusen.

Mir wird bewusst, wie einsam es hier ist, wie kalt und leer. Ich sehne mich nach zu Hause. Ich vermisse die Wärme. Und den Sommer. Als Teenager hatte ich immer meine Decke im Garten ausgebreitet und den ganzen Tag in der Sonne gelegen, Bücher gelesen und die vorbeiziehenden Wolken beobachtet. Im Augenblick würde ich alles dafür geben, nur um in meinem Garten in der Sonne zu liegen statt auf dem kalten harten Eis in der Todeszone des Everest. Ob ich wohl jemals wieder an einem Sommertag im Gras liegen werde? Wenn man etwas so Extremes unternimmt und der Grenze zwischen Leben und Tod so nahe kommt, ändert sich die Perspektive. Plötzlich sehnt man sich nach den einfachsten Dingen – nach einer sanften Brise auf der Haut, frischer Luft, dem Himmel. Man ist glücklich, am Leben zu sein.

Je mehr ich an zu Hause denke, desto mehr vermisse ich es. Seit sechs Wochen habe ich die Stimme meiner Mum nicht mehr gehört. Sie fehlt mir so sehr. Was, wenn ich sie nie wiedersehe? Die nächsten 24 Stunden werden die gefährlichsten meines Lebens. Sollte ich Mum mit Toms Satellitentelefon kurz anrufen und mich von ihr verabschieden?

Die Leere, die sich in meinem Bauch ausbreitet, habe ich schon einmal gespürt. Dieses verzweifelte Heimweh, das sogar körperlich schmerzt, wenn man einfach alles dafür geben würde, nur um im eigenen Bett aufzuwachen oder den kleinen Bruder umarmen zu können. Im Jahr 2009, auf meiner ersten Himalaya-Expedition, verspürte ich zum ersten Mal solch schlimmes Heimweh. Ich war 21 Jahre alt und hatte mich noch nie derart gefürchtet oder war so weit von meiner Komfortzone entfernt gewesen.

Der Manaslu ist ein beeindruckender Berg, flankiert von riesigen Gletschern und Lawinenhängen, in einer der entlegensten Regionen Nepals. Wenn damals etwas schiefgegangen wäre, hätte kaum eine Chance auf Rettung bestanden. Das war wirklich ein Sprung ins kalte Wasser.

Jeder Tag auf dem Manaslu war mir wie der schlimmste meines Lebens vorgekommen – doch der nächste Tag wurde noch schlimmer. Ich war die Unerfahrenste in unserem Team. Alles machte mir Angst, und ich fürchtete mich davor, jeden nur möglichen Anfängerfehler zu begehen. Dabei hielt ich mich eigentlich für eine ziemlich gute Kletterin, aber der Manaslu zeigte mir, dass das nicht stimmte. Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel physisches und psychisches Durchhaltevermögen würde aufbringen müssen. Auch die gefährlichen Momente, in denen ich die Nerven behalten musste, hatte ich mir einfach nicht vorstellen können.

Jeden einzelnen Tag dachte ich daran aufzugeben. Jeden einzelnen Tag wollte ich nach Hause. Es gab Zeiten, da hätte ich gern die Augen geschlossen und gebetet, dass ich wieder zu Hause wäre. Doch hätte ich sie dann wieder geöffnet, hätte ich nur hohe Eiswände über mir gesehen, der Wind hätte meine Wangen krebsrot werden lassen, und ich hätte gewusst, dass ich noch viele Stunden klettern musste, bevor ich mich in einem Zelt in den Schlafsack würde kuscheln können. Ich war unendlich weit weg von zu Hause. Diese Erkenntnis war fast nicht zu ertragen.

Noch nie war ich so niedergeschlagen oder verängstigt gewesen. Die ganze Zeit verfluchte ich mich selbst, dass ich so dumm gewesen war, mich als Erste für diese Tour anzumelden. Ich redete mir ein, dass ich keine Bergsteigerin war. Ich schwor, mich nie wieder in die Nähe eines Berges zu begeben.

Und doch bin ich jetzt wieder da, dieses Mal auf dem Everest, und fühle mich genauso wie damals. Warum tue ich das? Warum habe ich meine Lektion nicht gelernt?

Der Grund, warum ich nun auf dem Everest stehe, war ein einziger Augenblick am Manaslu. Nachdem ich den schlimmsten Klettertag überstanden hatte, lösten wir uns endlich aus dem Schatten der Eiswände und fanden uns hoch über den Wolken wieder. Dort oben, auf dem Gipfel, fiel die Anspannung von mir ab. Die Sonne schien, und soweit das Auge reichte, wurde der tiefblaue Himmel nur von den kilometerweit entfernten weißen Himalaya-Gipfeln durchbrochen. Ich kletterte allein, meine Teamkameraden waren weit vor mir. Und so kam es mir vor, als hätte ich den ganzen Himalaya nur für mich.

Ich beeilte mich, ich wollte nicht zu weit zurückfallen. Meine Schritte knirschten auf dem harten Schnee, das Atmen fiel mir wegen des Sauerstoffmangels immer schwerer. Ich versuchte mich zu konzentrieren und einen Rhythmus zu finden. Plötzlich umpeitschte mich eine Windbö und wirbelte den Pulverschnee in die Höhe. Milliarden kleiner Eiskristalle tanzten im Sonnenlicht um mich herum. Während sie sanft wieder zur Erde schwebten, glitzerten sie wie Feenstaub. Ich schwöre, ich konnte sie voller Energie läuten hören.

Mich durch diese Eiskristalle zu bewegen war wie in Magie zu baden. Ich musste lächeln. Ein Gefühl puren Glücks stieg in mir auf. Meine Lebensgeister erwachten. Ich war so glücklich, dass ich nicht aufgegeben hatte, als ich mich am meisten danach gesehnt hatte. Ich war so glücklich, dass ich den Mut aufgebracht hatte, die häusliche Bequemlichkeit zu verlassen und mich auf diesen Berg hinaufzukämpfen. Hätte ich es nicht getan, hätte ich nie etwas so Seltenes und Schönes gesehen. Ich hätte nie gespürt, wie diese zarten Kristalle auf meinen Wangen schmolzen, als würde der Berg mir irgendwie zu verstehen geben, dass alles gut ausginge.

In diesem Moment, glaube ich, wurde ich erwachsen. Ich ließ mein ängstliches Teenager-Ich hinter mir und wurde zur Frau und Bergsteigerin. Mir wurde klar, dass ich zu viel mehr fähig war, als ich anfangs gedacht hatte, und dass ich kurz vor dem Moment des Aufgebens noch so viel mehr aus mir herausholen konnte. Ich erlebte diese großartigen Dinge, die nur geschehen, wenn man seine Komfortzone verlässt.

Schließlich erreichten wir den Vorgipfel des Manaslu etwa zehn Meter unterhalb des eigentlichen Gipfels, und ich war einer der jüngsten Menschen, die ihn je bestiegen hatten. Ich hatte durchgehalten und war nie dankbarer dafür gewesen. Dieser Moment auf dem Manaslu ist der Grund, warum ich jetzt hier bin, in der Todeszone des Mount Everest, Stunden bevor wir unser Zelt wieder verlassen und uns in tiefster Dunkelheit zum höchsten Punkt der Erde aufmachen.

Ich öffne die Augen und blinzle über meinen Schlafsack hinweg. Der Wind zerrt an den Zeltwänden, als wollte er uns aufrütteln – er schlägt und walkt den Stoff durch, als wollte er uns davon abhalten, wieder nach draußen zu treten.

Kenton, unser Bergführer, hockt vor einem kleinen Gaskocher mit einem Topf darauf und schmilzt einen Eisklumpen zu Wasser. Es wird Zeit zum »Kochen«, wie wir es nennen, denn das Schmelzen des Eises für vier Leute dauert Stunden. Und wir müssen Flüssigkeit aufnehmen. Kocht das Wasser, vermischen wir es mit Suppenpulver, Tee oder Fruchtaromen. Außerdem müssen wir genug Wasser für jeden Kletterer kochen, damit jeder mindestens einen Liter für den Gipfelaufstieg mitnehmen kann. 15 Stunden am Berg mit nur einem Liter Wasser. Die meisten Leute kommen nach ihrer Gipfelbesteigung zurück und haben nur ein paar Schlucke getrunken.

»Suppe?« Kenton reicht mir eine Plastikflasche mit etwas kochendem Wasser und aufgelöster Instantbrühe. Ich kippe die salzige Flüssigkeit hinunter und sehe dann, dass Kenton angewidert das Gesicht verzieht.

»Was?«

»Ich habe gerade gemerkt, dass das meine Pinkelflasche ist. Sorry!«

Das ist wieder mal typisch Kenton.

Nach dem Schluck Suppe zwinge ich mich, etwas zu essen. Selbst das ist in der Todeszone unglaublich schwierig. Man hat das Gefühl, man müsste mit jedem Bissen den nächsten Berg erklimmen. Aber ich muss etwas essen, denn diese Energie wird mich am Leben erhalten. Ich schaffe ein bisschen Salami und zwei Schmelzkäseecken. Etwas anderes bekomme ich nicht hinunter. Und meine Teamkameraden auch nicht.

Der Countdown läuft. Wir haben drei Stunden Zeit, bevor wir das Zelt um 21 Uhr verlassen. Wir wollen in der Nacht aufsteigen und bei Sonnenaufgang den Gipfel des Mount Everest erreichen.

Sobald man sich in der Todeszone befindet, gibt es keine Pausen mehr. In jeder Sekunde, die man auf über 8000 Metern verbringt, leidet der Körper unter Sauerstoffmangel. Die Tatsache, dass ich nur wenig essen kann, ist das erste Anzeichen – der Magen hat den Betrieb eingestellt. Im Vergleich zu Gehirn und Herz sieht mein Körper ihn nicht als lebenswichtiges Organ an, also hört er als Erstes auf zu funktionieren. Man stirbt auf Raten, und das ist schrecklich. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Schlafen ist keine Option mehr. Wir müssen so schnell wie möglich auf den Gipfel und dann ganz rasch wieder fort von hier.

Drei Stunden, nur um sich für den Gipfelaufstieg anzuziehen, scheint eine lange Zeit zu sein, aber alles dauert auf dieser Höhe so viel länger. Denn das Hirn ist wie vernebelt, die Reaktionen sind stark verlangsamt, und der Körper ist unendlich müde. Ich ziehe Thermal-Leggins und Merino-Shirt an, darüber ein Fleece und schließlich meinen Daunenanzug. Dieser Einteiler hat 900 britische Pfund gekostet und ist damit das teuerste Kleidungsstück, das ich je besessen habe. Er ist mit Daunen von sibirischen Gänsen gefüllt, die in der kältesten Region der Erde leben. Daher sind ihre Daunen am besten für die Speicherung der Körperwärme geeignet. Sie werden mich am Leben erhalten, selbst bei Temperaturen von bis zu 40 Grad minus.

Zum Glück sind draußen heute nur 25 Grad minus, und es weht kaum ein Wind. Denn nicht die Temperatur setzt einem am meisten zu, sondern der eisige Wind. Bläst er mit 20 Kilometern pro Stunde, kann die Temperatur auf 43 Grad minus sinken. Im Jahr 2004 hat man eine Windgeschwindigkeit von 280 Kilometern pro Stunde auf dem Gipfel gemessen. Ich bete, dass unsere Wettervorhersage richtig ist und wir nicht von starken Windböen vom Berg gefegt werden.

Insgesamt trage ich nur drei Schichten Kleidung. Das hört sich vielleicht riskant an, aber der Daunenanzug wird mich nur dann richtig wärmen, wenn meine Körperwärme ihn auch erreicht und in den Daunen eingeschlossen wird. Es gibt genug Horrorgeschichten aus der Vergangenheit, bei denen unerfahrene Kletterer beinahe erfroren wären, weil sie eine wasserdichte Jacke unter dem Daunenanzug trugen – oder eine »Hardshell«, wie wir das nennen. Sie glaubten, dass die Extra-Schicht sie wärmer halten würde, doch genau das Gegenteil trat ein: Sie ließ die Körperwärme nicht zu der Daunenschicht durch, sodass sich der Anzug nicht aufwärmte und jenes warme Mikroklima erzeugte, das uns hier oben am Leben erhält.

Ich kenne viele Tricks, die ich mit der Zeit herausgefunden oder durch Fehler erlernt habe. So stecke ich meine Handwärmer in meine Sauerstoffmaske, sodass die Chemikalien mit dem Sauerstoff reagieren können und sich aufheizen. Denn hier oben in der sauerstoffarmen Todeszone funktionieren nicht mal die Handwärmer richtig. Ersatzbatterien stopfe ich in meinen Sport-BH, in die Nähe des Herzens. Dort hält meine Körpertemperatur sie warm, und ich habe sie im Notfall gleich zur Hand.

Ich hake Punkt für Punkt meine Liste ab. Gewisse Dinge muss ich in einer bestimmten Zeit erledigen: das Wasser zur rechten Zeit kochen, zur Toilette gehen und die Sauerstoffflasche wechseln. Die Minuten und Stunden verrinnen. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass mit jedem erledigten Punkt der Moment näherrückt, an dem ich das Zelt verlassen muss.

Ich fühle mich stark und schwach zugleich. Es kommt mir vor, als bewegte ich mich in Zeitlupe. Alles ist unglaublich anstrengend. Ich muss mich hinlegen und eine Pause einlegen, nachdem ich mir eine Socke angezogen habe. Meine Schmerzgrenze ist erreicht, und schon die kleinsten Kleinigkeiten machen mich nervös. Als ich die Thermal-Leggins anziehe, bemerke ich meine trockene, schuppige Haut. Der Großteil meines Körpers hat seit Tagen keine frische Luft mehr bekommen und ist seit Wochen nicht richtig gewaschen worden.

Ich gehe die Checkliste weiter durch. Habe ich alles? Habe ich die Ersatzteile? Komme ich im Notfall schnell an alles heran? Mein Hirn ist benebelt. Ich erinnere mich nicht mehr an die Dinge, die ich gerade eben noch getan habe. Einfache Rechenaufgaben schaffe ich nicht. Ich überprüfe die Sauerstoffanzeige, um zu berechnen, wie lange die Flasche reichen wird, aber selbst diese Rechnung ist fast zu viel für mich. Zwei Liter pro Minute aus einer komprimierten 720-Liter-Flasche reichen für … sechs Stunden?

Ich brauche einen Moment, um meinen Herzschlag zu beruhigen, dann ziehe ich endlich die Stiefel an. Ich habe einen Innen- und einen Außenschuh, und sie ordentlich anzuziehen kostet mich pro Schuh fünf Minuten, denn alle paar Sekunden muss ich mich ausruhen. Die Stiefel haben Schnürsenkel und Reißverschlüsse, und sie müssen sorgfältig verschlossen werden: Schnüre ich die Stiefel zu eng, kann das Blut nicht richtig zirkulieren, sitzen sie zu locker, bekomme ich Blasen und kann nicht richtig laufen. Meine Finger scheinen meinem Gehirn nicht zu gehorchen. Sie sind ebenfalls eiskalt, und während ich an den Schnürsenkeln ziehe, schneidet mir die Reibung in die kalte Haut. Der scharfe Schmerz treibt meinen Herzschlag in ungeahnte Höhen.

Plötzlich ist es 20.45 Uhr, und meine Angst wird unkontrollierbar. In einer Gipfelnacht am Everest sind schon viele bessere Bergsteiger als ich ums Leben gekommen. Der Berg ist umwoben von Geschichten und Geistern. Werde auch ich so enden? Mir kommen all die Bücher in den Sinn, die über Katastrophen am Everest geschrieben wurden, und all die Filme darüber. Was, wenn eines Tages irgendjemand über die heutige Nacht schreiben wird?

Ich denke an Rob Hall, der unterhalb des Hillary Step starb, weil er einfach nicht mehr die Kraft aufbrachte, sich noch weiter zu bewegen und die wenigen Meter auf den Südgipfel zu klettern. Er starb, weil er nicht mehr die Kraft hatte aufzustehen. Das könnte mir auch passieren. Ich könnte am Berg erfrieren.

Zudem habe ich Angst vor der Höhenkrankheit und dass sich meine Lunge mit Wasser füllt, bis ich ertrinke. Ich habe Angst, dass mir so kalt wird, dass meine Gliedmaßen erfrieren. Es gibt so vieles, das ich nicht kontrollieren kann. Steinschläge. Schlechtes Wetter. Ich bekomme Wahnvorstellungen, dass ich ins Leere falle und mir das Seil durch die Finger rutscht.

Ich habe Angst vor dem Schmerz. Allein den Fuß vom Boden zu heben schmerzt beinahe unerträglich. Ich halte den Gedanken kaum aus, dass ich meinen Körper schon wieder solchen Qualen aussetze. In diesem Moment kommt es mir völlig unmöglich vor. Wir haben eine 15-Stunden-Tour vor uns – das erscheint mir momentan völlig unbegreiflich. So lange können wir dort draußen doch bestimmt nicht überleben, oder?

Das warme Zelt ist so gemütlich, seine Wände schützen mich vor der unwirtlichen Außenwelt. Ich stelle mir die Welt jenseits des Zeltes vor. Es ist eine der extremsten Umgebungen auf diesem Planeten. Sie ist gnadenlos. Dunkelheit und Kälte umfangen mich immer fester. Alles, was mich schützt, sind ein Daunenanzug und eine Sauerstoffmaske. Ich sollte lieber hier drinnen bleiben. Die Verlockung des Zeltes ist immens, fast mit Händen zu greifen. Meine Instinkte raten mir dringend, dort zu bleiben, wo es sicher ist.

Panik steigt in mir auf. Eingepackt in meinen dicken Daunenanzug, mit Schutzbrille, Sauerstoffmaske und Stiefeln, sitze ich in der Falle. Schweißperlen rinnen mir über die Stirn. Ich fühle mich schwerfällig und möchte mir am liebsten alles vom Leib reißen. Mein dürrer Körper unter dem ganzen Gewicht scheint viel zu schwach zu sein, um all das zu tragen. Ich will hier nicht sein. Ich möchte irgendwo anders sein, aber nicht hier.

Es ist 20.55 Uhr. Meine Teamkameraden gehen die letzten Punkte durch, und dann verlassen Tom, Rick und Kenton, wie unförmige Astronauten in ihren steifen Raumanzügen und mit ihren Masken, einer nach dem anderen das Zelt und tauchen ein in die Dunkelheit. Sie erwarten, dass ich ihnen sofort folge, aber jetzt, allein im Zelt, habe ich fürchterliche Angst vor dem, was vor mir liegt. Wenn ich rausgehe, werde ich es dann jemals zurück schaffen? Die Angst lähmt mich, mein Körper verweigert den Dienst.

Ich kenne dieses Gefühl. Es hat mich in der Vergangenheit unzählige Male umgehauen. Ich will nicht rausgehen, aber ich weiß, dass sich alles von selbst ergeben wird, sobald ich aus dem Zelt trete. Ich werde das tun, was ich mir antrainiert habe.

Das ist es, sage ich mir selbst. Dafür hast du zwei Jahre gearbeitet, zwei Jahre voller Träume und Hoffnungen – also mach endlich!

Aber ich schaffe es nicht, das Zelt zu verlassen.

Ich suche nach einem Weg, mich selbst zum Losgehen zu überreden. Meine Teamkameraden werden ungeduldig. Ich höre sie draußen, ihre dumpfen Stimmen, gedämpft von den Plastikmasken auf ihren Gesichtern. Denk an nichts anderes, sage ich mir. Du musst nur einen Schritt aus dem Zelt machen. Wenn es dir draußen nicht gefällt, kannst du wieder zurückgehen. Nur einen Schritt – mehr nicht. Das ist kein großes Ding. Das schaffst du.

Nur einen kleinen Schritt muss ich tun, dann darf ich aufgeben. Nur einen Schritt, dann ist alles vorbei, wenn ich es denn will. Ich konzentriere mich auf die Zeltöffnung und die Tintenschwärze dahinter. Du musst nur einen Schritt machen. Hab Vertrauen.

Und dabei ziehe ich mich zur Öffnung und stehe im nächsten Moment draußen. Ich fühle mich wacklig auf den Beinen. Ein Schwall beißender Kälte fährt mir in die Knochen. Die Nacht ist totenstill. Ich wende mich zu Kenton. Seine Stirnlampe blendet mich.

»Gehen wir«, sagt er hinter seiner Maske.

Und schon setzen wir uns in Bewegung.

Der härteste Teil liegt hinter mir. Jetzt muss ich nur noch klettern.

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02

Verrückt nach Laufen

»Dann entscheidest du, ob du ein Läufer sein
willst oder ein sehr guter Läufer.«

Die Menschen sind meist fassungslos, wenn sie hören, dass ich keine zwei Jahre vor meiner Expedition zum Mount Everest noch nie einen Berg bestiegen habe. Nicht einen einzigen schneebedeckten Gipfel.

Ich wurde 1987 geboren und wuchs in Wokingham, Berkshire auf, wo es überhaupt keine Berge gibt. Der höchste Punkt in Wokingham liegt 74 Meter über dem Meeresspiegel.

Meine Kindheit und Jugend könnte ich leicht allzu sehr verklären, aber ich werde versuchen, es nicht zu tun, denn alles in allem verliefen sie in recht gewöhnlichen Bahnen. Mein jüngerer Bruder Harry und ich wurden sehr geliebt, in allem unterstützt und hatten sehr viel Glück. Wir waren privilegiert nicht im Sinne von Reichtum, sondern weil wir großartige Eltern hatten, die alles für uns taten. Wir gingen auf die örtliche Gesamtschule und verbrachten die Sommerferien in Frankreich, Spanien oder in der Türkei. Meiner Ansicht nach haben wir die beste Erziehung der Welt genossen. Ich wusste, dass wir Glück hatten, und ich hätte um nichts auf der Welt tauschen wollen.

Als ich fünf war, ließen unsere Eltern sich scheiden. Harry war damals drei. Sie hatten mit neunzehn geheiratet und bekamen mich, als mein Dad Patrick 26 und meine Mum Jacqui 24  Jahre alt waren.

Mum hatte drei Geschwister und war die Tochter eines Eiscreme-Verkäufers. Oben auf Großvaters Lieferwagen war eine Plastikkuh montiert, und es war Mum jedes Mal peinlich, wenn er sie damit von Treffen mit ihren Freunden abholte. Seit Mum zwölf war, arbeitete sie als Model. Sie fuhr allein zu Castings nach London und stimmte ihre Jobs auf den Schulunterricht ab – oder auch nicht, wie sich später herausstellte. Sie verdiente ihr ganzes Geld selbst und war stolz auf ihre Unabhängigkeit.

Dad war das vierte von sechs Kindern und verbrachte seine frühe Kindheit in Aden, Jemen, weil mein anderer Großvater dort stationiert war. Als mein Vater acht wurde, zog seine Familie nach Bracknell, einen Nachbarort von Wokingham. Mit 14 Jahren verließ er seine Familie und arbeitete als Maurer. Bereits vier Jahre später leitete er seine eigene Baufirma.

Er und Mum lernten sich in einem Pub in Bracknell kennen und heirateten wenig später in der dortigen Kirche. Sie waren zwölf Jahre verheiratet, bevor sie sich trennten. Mum und Dad haben meinem Bruder und mir stets die positiven Seiten ihrer Trennung vor Augen gehalten: zweimal Weihnachten und Geburtstag feiern, zwei Zimmer für jeden, zweimal Sommerferien. Das war ihre Art, uns zu beruhigen, und es hat funktioniert. Ich saß nie zwischen den Stühlen oder musste mich zwischen den beiden entscheiden. Sie waren wirklich großartig und gaben uns Kindern immer das Beste. Die Scheidung meiner Eltern hat mich daher nicht aus der Bahn geworfen. Wir waren und sind noch immer eine glückliche Familie, die fest zusammenhält.

Nach der Trennung meiner Eltern lernte Mum Rob kennen. Rob war erst siebenundzwanzig, als er die Rolle des Stiefvaters für zwei komplett verrückte Kids übernahm. Seine Freunde rieten ihm bei einem Bier im Pub, besser die Beine in die Hand zu nehmen. Denn wie konnte man eine ernsthafte Beziehung mit einer Frau eingehen, die zwei Kinder hatte? Er erwiderte: »Das ist mir egal, ich tue alles, um mit ihr zusammen zu sein, und das schaffe ich auch.«

Harry und ich waren der Meinung, dass Rob Glück hatte, weil er eine komplette Familie bekam. Wir dachten, er hätte den Jackpot geknackt. Außerdem waren wir davon überzeugt, dass er es auch lustig finden würde, wenn wir ihm Thunfisch oder Knetgummi in seine Milch taten, ganz nebenbei seine Fußballpokale zertrümmerten, einen Löffel in seinen neuen Videorecorder schoben, zu ihm in die Badewanne kletterten, wenn er sich gerade entspannen wollte, kurz: seinem bisherigen Single-Leben rigoros ein Ende machten. Der Beginn seiner Vaterschaft war für ihn eine wahre Feuertaufe.

In der freien Natur von Wokingham aufzuwachsen war ein großer Spaß. Ich saß im Park auf der Schaukel, spielte auf der Straße mit den Nachbarskindern Hockey oder sauste mit dem Fahrrad in halsbrecherischer Geschwindigkeit von unserem Viertel, Keep Hatch Farm, zum Tante-Emma-Laden, um Süßigkeiten zu kaufen. Als ich mal einem Freund hinterherjagte, krachte ich gegen einen Laternenpfahl und brach mir den Arm. Trotzdem hielt ich mich für »Sporty Spice«, auch mit einem Gips bis unter die Achsel.

An den Wochenenden fuhren wir zu Dad nach Bracknell, wo er uns im Garten ein Baumhaus samt Feuerwehrstange gebaut hatte. Ich war für mein Leben gern dort. Ob Sommer oder Winter, Harry und ich spielten immer draußen im Garten, sammelten Schnecken und rutschten an der Stange vom Baumhaus herunter. Ich kommandierte Harry herum, soweit er es mit sich machen ließ. Bei Dad hatten wir einen Hund namens Candy, mit dem wir lange Spaziergänge machten, gefolgt vom wöchentlichen Lagerfeuer im Garten, was Harry am meisten liebte.

Dad erholte sich damals gerade von dem Finanzcrash, der die britische Bauindustrie Anfang der 1990er-Jahre erschütterte. Trotz finanzieller Sorgen achtete er stets darauf, dass wir gemeinsam richtig Spaß hatten: Beim Pizzabacken machte er den Teig, und mein Bruder und ich häuften Berge von Belag darauf. Er organisierte ausgeklügelte Ostereier-Suchaktionen mit handgemalten Karten und Rätseln, für die wir gefühlt Stunden brauchten, um sie zu lösen.

Die Ferien damals mit ihm waren wunderbar einfach: Wir verbrachten Wochenenden an der Küste oder zelteten wild im New-Forest-Nationalpark, wo mein Bruder und ich nie auf Dad hörten und hinter Ponys herrannten, nur um sie zu streicheln. Verdientermaßen wurden wir beide von den Tieren getreten. Ich erinnere mich noch an Mums erschrockenes Gesicht, als wir einmal von einer Tour zurückkamen und ich einen dunkelblauen Hufeisenabdruck auf dem Oberschenkel hatte.

Als ich zehn war, kletterte ich mit einem Jungen aus meiner Schule, den ich toll fand, auf einen Baum. Verlegen saßen wir auf einem Ast, acht Meter über dem Boden, redeten kaum und tauschten definitiv nicht unseren ersten Kuss aus.

Von dem Baum aus blickte man auf eine Baustelle, und Harry und ich kletterten ein paar Mal über die Materialberge, balancierten über die Balken in das halbfertige Haus, setzten uns in die Fensteröffnungen des riesigen Schlafzimmers und ließen die Beine baumeln.

In den nahe gelegenen Wäldern bauten wir Höhlen. Dabei waren wir uns ganz sicher, dass merkwürdige Gestalten im Unterholz lebten und uns verfolgten.

Mit anderen Worten: Wir waren immer draußen. Bis irgendwann eines der Kinder aus dem Haus, David, eine Sky Box bekam und Sender wie Cartoon Network empfangen konnte. Er kam nicht mehr raus und spielte nicht mehr mit uns, und danach veränderte sich alles. Zu Weihnachten bekamen die Jungs, Harry eingeschlossen, anstelle von Inlineskates oder einem neuen Fahrrad eine PlayStation. Im Oktober 1998 wurde ich elf, gab eine Spice-Girls-Party und trug zum ersten Mal Make-up. Wir wurden erwachsen.

Kurz nach meinem Geburtstag wurde ich Mitglied in einem Sportverein und ging nun zweimal die Woche zum Bracknell Athletic Club. An den Dienstagabenden trafen wir uns immer am Stadion und joggten dann gemeinsam durch die Umgebung, eine der Ehrenamtlichen vorneweg, etwa 20 Jugendliche in der Mitte und eine weitere Ehrenamtliche am Ende.

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Die Schuluniform – hier bei meinem ersten Schultag – trug ich mit Stolz, aber noch lieber wurden mir Laufschuhe und Sportklamotten.

Dad hatte mich zur Leichtathletik angemeldet, nachdem ich Reiten, Karate und Ballett nicht mehr mochte. In meiner ersten Stunde rannten wir sofort aus dem Stadion und auf die Straße. Ich fühlte mich unwohl, denn alle liefen zu zweit, nur ich nicht, weil ich niemanden kannte. Außerdem war ich vorher noch nie gejoggt, und dann waren da Jungs aus dem Jahrgang über mir dabei. Ich fürchtete, wie peinlich es wäre, wenn ich außer Atem kam und pausieren musste. Wir liefen schneller und schneller. Und obwohl ich tatsächlich außer Atem war und mich anstrengen musste, genoss ich es. Ich war erschöpft und hatte Seitenstiche, aber ich musste nicht stehen bleiben. Ich konnte sogar mit den älteren Jungs mithalten. Das ganze Fahrradfahren und Inlineskaten durch den Ort hatten mich wohl irgendwie fit gemacht. Ich mochte das Laufen. Und ich blieb dabei.

Im nächsten Frühjahr fragte mich Rob, der ein leidenschaftlicher Fußballfan war, einmal nachmittags nach der Schule, ob ich Lust hätte, mit ihm zum Laden zu joggen. Er wollte Milch holen. Mum war auf der Arbeit und verkaufte gerade Parfum im Flughafen von Gatwick, und mein Bruder hing bei seinem Freund zu Hause vor der PlayStation. Also lief ich mit Rob ins Zentrum von Wokingham, was mein bis dato längster Lauf war. Auf dem Rückweg, bei dem er die Milch im Rucksack schleppte, liefen wir die leichte, aber unerbittliche Steigung der Norreys Avenue nach Keep Hatch Farm hinauf.

Die Steigung schien kein Ende zu nehmen. »Ich kann nicht mehr«, sagte ich zu Rob.

»Natürlich kannst du«, erwiderte dieser. »Jetzt entscheidest du, ob du ein Läufer sein willst oder ein sehr guter Läufer.«

Ich ließ die Worte auf mich wirken, und schließlich wusste ich, dass ich eine sehr gute Läuferin werden wollte. Irgendwie ahnte ich da schon, dass es nicht ums Laufen ging, sondern darum, sich niemals aufzugeben – eine Lektion, die ich nie vergessen werde. Ich rannte so schnell ich konnte nach Hause. In diesem Moment gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich nicht aufgeben würde, wenn es im Leben mal hart auf hart ginge. Es war meine erste Lektion fürs Leben.

Bald war ich vom Laufen besessen. Ich fühlte mich so wohl dabei, so leicht und schnell. Lunge und Herz pumpten wie die Kolben einer Dampflok Blut und Sauerstoff durch meinen Körper. An Sommerabenden lief ich gern mit Rob eine Runde, während Mum nach dem Abendessen den Tisch abräumte. Diese Läufe kamen mir damals vor wie unendliche Abenteuer, dauerten aber vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde. Rob schärfte mir ein, immer dem Verkehr entgegenzulaufen. Er nahm mich mit auf die Landstraßen hinter Wokingham. Wir umrundeten Bauernhöfe und Landhäuser mit Tennisplätzen. Es war absolut friedlich, und die Landschaft strahlte im Abendlicht. Das Gute am Laufen: Ich kam raus und konnte die Natur genießen. Das Laufen gab mir das Gefühl, ein kleines Wunder zu erleben.

Doch das Beste war, dass ich schneller lief als die Jungs. Unsere Sportlehrerin in der sechsten Klasse der Keep Hatch Junior School war Mrs. Merrick, die schon vor 20 Jahren Rob unterrichtet hatte, als er dieselbe Schule besuchte. Sie ließ uns zu Beginn jeder Sportstunde eine Runde um die Schule laufen, das waren etwa 800 Meter. Dreißig Jungs und Mädchen stürmten davon, rannten zum Tor, die Jungs immer vorneweg.

Mir hat es nie jemand gesagt, aber ich wusste trotzdem, dass man am Anfang nicht zu schnell rennen sollte. Ich hatte es im Fernsehen gesehen: Der Gewinner eines Rennens ließ es zunächst gemütlich angehen, sprintete dann kurz vor Ende richtig los und überholte schließlich alle Konkurrenten. Die Ersten beim Start gewannen nie. Ich verstand einfach nicht, warum sie es nie lernten. Mrs. Merrick blies in ihre Trillerpfeife, und die gesamte Klasse hüllte mich in eine Staubwolke, aber ich kannte meinen Laufstil. Ich war keine Sprinterin. Erst zum Ende hin wurde ich schneller. Wenn wir auf die Zielgerade einbogen, überholte ich jedes Mal die restlichen Jungs und rannte zu Mrs. Merrick, die der gesamten Klasse verkündete: »Ich wusste, dass Bonnie euch schlagen würde, ihr rennt alle viel zu schnell los!«

Im Bracknell Athletic Club gab es regelmäßige Wettkampfabende. Doch man hatte nie das Gefühl, an einem Wettkampf teilzunehmen. Wir stellten uns auf und sprangen in die Sandgrube oder machten Kugelstoßen. Mir ging es immer nur darum, hinterher im Clubhaus (ein schäbiger alter Mietcontainer) abzuhängen und Süßigkeiten zu essen (»Weiße Mäuse« und »Gummispiegeleier«), während die Sieger in jeder Disziplin geehrt wurden. Ich war immer Dritte und bekam unzählige Medaillen am roten Band. Die Medaille für den zweiten Platz hatte ein blaues Band, die für den ersten ein gelbes. Eines Tages wurde verkündet, dass der nächste Wettbewerb ein Langstreckenlauf wäre, was für die unter 13-Jährigen einen 1000-Meter-Lauf auf der Bahn bedeutete. Alle Altersstufen traten zusammen gegeneinander an.

Die Jungs auf der Laufbahn waren viel größer als die in der Schule. Manche waren in der Siebten oder Achten, und sie waren wegen des Sprinttrainings dabei. Ich mochte Sprinten nicht. Nie bewegte ich Arme und Beine schnell genug, ich war immer die Letzte. Aber 1000 Meter – das war eine Distanz, von der ich wusste, dass ich sie gut schaffen konnte. Und Rob wusste das auch.

Er beschloss, mich für das Rennen zu trainieren. Er arbeitete als Ehrenamtlicher im Club, neben den beiden Damen. Einmal schimpften die Frauen ihn aus, als wir alle zu einem langen Lauf starteten. Er trieb mich an, immer schneller zu laufen, sodass wir unsere Gruppe komplett abhängten und 15 Minuten vor den anderen wieder am Clubhaus ankamen. Ich war überrascht, um wie viel schneller wir gewesen waren. Keine Ahnung, ob ich so viel fitter war als meine Altersgenossen. Ich glaubte es eigentlich nicht. Wenn man sie angetrieben hätte, wären sie vermutlich genauso schnell gelaufen. Also warum hielten die Ehrenamtlichen sie zurück? Zum ersten Mal dachte ich darüber nach, wie sehr die Menschen um uns herum unser Potenzial beeinflussen können. Ich mochte die Ehrenamtlichen und wusste, dass sie ihre Zeit für uns opferten, aber vielleicht reichte das allein nicht.

An dem Sonntag vor dem Wettkampf legte Rob mit mir auf der Bahn eine Extra-Trainingseinheit ein. Wir trainierten Sprints. Als ich das Stadion wieder verließ, war ich enttäuscht, und Rob war es auch. Ich war fürs Sprinten einfach zu langsam, und Rob wusste, dass das Rennen gegen die älteren Jungs in einem höheren Tempo gelaufen würde. Wir glaubten beide nicht, dass ich eine Medaille gewinnen würde.

Der Dienstag kam, der Tag des Rennens. Wir waren früh im Stadion, und mir war schlecht. Zum ersten Mal im Leben spürte ich dieses nervöse Unbehagen. Mein Bruder Harry war auch gekommen. Ich war neidisch auf ihn, weil er Süßigkeiten futtern und einfach zugucken konnte, ohne sich um irgendetwas kümmern zu müssen. Ich laufe nie wieder ein Rennen, sagte ich mir. Bei diesem hier würde ich noch antreten, aber dann nie wieder.

Zuerst absolvierten wir ein paar andere Wettbewerbe – den üblichen Weit- oder Hochsprung. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, aber aus dem Augenwinkel sah ich die Startlinie für die 1000 Meter. Und sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte an nichts anderes denken.

Schließlich führten uns die Ehrenamtlichen an die Startlinie. Zum ersten Mal überhaupt benutzten sie eine Startpistole. Der Druck wurde immer unerträglicher! Ich war mir sicher, dass ich beim Startschuss sofort einen Herzinfarkt bekommen würde. Aufregung und Adrenalin ließen mein kleines Herz rasen.

Rob saß auf der Tribüne gegenüber der Laufbahn und war bestimmt ebenso aufgeregt wie ich. Von dort schaute er zu, während mein Bruder auf einer Erdbeerschnur herumkaute.

Der Schuss fiel. Dreißig Läufer stürzten los, und ich war sofort abgehängt. Soll ich einfach hinterherrennen, dachte ich, und die Läufer einholen? Irgendetwas riet mir, es nicht zu tun. Zehn Sekunden nach dem Start war ich auf dem letzten Platz. Rob beobachtete alles mit besorgter Miene. »Sie ist zu langsam«, sagte er zu meinem Bruder und stellte enttäuscht fest, dass all das Training umsonst gewesen war.

Doch als das Feld mich zurückließ, wusste ich, dass ich ruhig bleiben und mein eigenes Rennen laufen musste. Damals war ich ein glühendes Fangirl von Billie Piper, also sang ich zur Ablenkung ihren Song »Because We Want To«. Jedes Mal, wenn ich den Blick hob und die Spitzengruppe vor mir sah, musste ich mich zwingen, nicht den Abstand zwischen uns zu berechnen. Lauf dein eigenes Rennen, sagte ich mir.

Bei 300 Metern überholte ich die ersten Nachzügler, und mit jedem Schritt weiteten sich Hüften und Brust, meine Schultern entspannten sich, ich fühlte mich stärker und schneller. Am Ende der ersten Runde schloss ich zur Spitzengruppe auf. Die ältesten Jungs lagen in Führung, aber ihre Körper zeigten, dass sie am Ende waren. Den letzten von ihnen überholte ich bei der 600-Meter-Marke, genau auf Höhe der Tribüne. Rob war aufgesprungen und feuerte mich lautstark an, als ich vorbeilief. Doch gleich darauf verließ ihn die Zuversicht wieder: »Sie ist zu schnell«, sagte er zu Harry, der immer noch an seiner Erdbeerschnur herumkaute.

In der letzten Runde, als ich die 700 Meter-Marke passierte, konnte ich die gegenüberliegende Seite der Bahn sehen und die zurückgefallenen Läufer. Ich ermahnte mich, nicht übermütig zu werden, sang im Stillen »Because We Want To«, aber bei 800 Metern war mir endgültig klar, dass es an der Zeit war, mein Tempo nicht mehr zu drosseln, sondern so schnell ich konnte zur Ziellinie zu rennen. Ich warf mich in jeden Schritt, überrundete die Nachzügler am Ende des Läuferfeldes und erreichte das Ziel, wo eine Ehrenamtliche mir zujubelte. Ich lief ihr direkt in die Arme, und sie drückte mich fest an sich. Sie wirkte völlig fassungslos und überwältigt. Mein erster Gedanke war, dass ich ganz gut gewesen sein musste, wenn sie so glücklich war. Ich hatte das Ziel in vier Minuten und drei Sekunden erreicht.

Als wir nach Hause fuhren – ich saß vorn mit einer Tüte Süßigkeiten auf dem Schoß und der Medaille mit dem gelben Band um den Hals –, ging Rob jeden einzelnen Moment des Rennens durch. »Nach unserem Training hatte ich gedacht, dass du keine Chance gegen die älteren Jungs hast, dann dachte ich, dass du zu langsam gestartet bist, dann, dass du zu schnell rennst! Aber du wusstest genau, was du da machst. Du bist dein eigenes Rennen gelaufen. Einfach unglaublich. Ich kann es gar nicht erwarten, es deiner Mum zu erzählen. Ich wusste, dass du es schaffst!«

Wenn man mich damals gefragt hätte, was ich in meinem Leben einmal werden möchte, hätte ich gesagt, dass ich bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewinnen möchte. Das Problem aber war, dass ich mich vor Wettkämpfen fürchtete. Kurz nachdem ich das Rennen gewonnen hatte, teilte der Bracknell Athletic Club meinen Eltern mit, dass ich den Verein verlassen müsste. Man hatte mich aufgestellt, um für den Club bei Wettkämpfen anzutreten, doch an den Wettkampftagen musste ich mich vor Aufregung immer öfter übergeben und weigerte mich anzutreten. Es war einfach zu viel für mich, und zu der Zeit, als ich auf eine höhere Schule wechselte, hörte ich mit dem Lauftraining auf. Das sollte für Jahre das Ende meiner Liebe zum Laufen und zum Sport sein.

Dabei hatte ich Potenzial. Und wer weiß, wo ich gelandet wäre? Heute schaue ich mir gern die olympischen Wettkämpfe an, und wenn sich die durchtrainierten Frauen für die 1500 Meter aufstellen – die vermutlich meine Lieblingsdistanz geworden wären –, dann frage ich mich immer unwillkürlich: »Was wäre gewesen, wenn?«

Was, wenn ich mich nicht von meinen Ängsten hätte einschüchtern lassen? Doch die Angst von den Wettkämpfen war nun mal ein Teil von mir. Ich setzte mich selbst unter enormen Leistungsdruck, und diese Ängste waren erst der Anfang meiner aufwühlenden Teenager-Jahre.

Vielleicht wäre mein Leben völlig anders verlaufen, wenn ich weiter bei Wettkämpfen angetreten wäre. Vielleicht hätte ich wirklich eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen. Vielleicht wäre ich nie auf den Everest gestiegen. Alle kennen diese »Drehtür-Momente«, bei denen eine Entscheidung den Verlauf eines Lebens komplett verändern kann. Es macht einen verrückt, wenn man zu viel darüber nachdenkt. Solange man versucht, so viel wie möglich aus seinem Leben zu machen, kann man gar nicht so falsch liegen. Es gibt zu viele »Was-wäre-wenns« im Leben, aber wenn man sich mit ganzem Herzen auf seinen eigenen Weg einlässt und sein Bestes gibt, braucht man nichts zu bereuen.

Wer weiß, vielleicht gibt es ein Paralleluniversum, in dem man diesen anderen Weg eingeschlagen hat und ein völlig anderes Leben lebt. Und dieser Gedanke macht einen erst recht verrückt.

Als ich dreizehn wurde, zogen Mum, mein Stiefvater Rob, meine zwei jüngeren Brüder Harry und Alfie und ich in ein Haus in der Barkham Road, ans andere Ende von Wokingham. Eines Tages brachte Mum zwei Katzen mit nach Hause, die sie Tinkerbell und Bubbles taufte. Harry und ich teilten unsere Zeit zwischen Mums Haus in Wokingham und Dads Haus in Bracknell auf.