Den Knochen der Abgrund

Den Knochen der Abgrund

Drei Kronen Saga 2

Jo Schneider

Für Ronja

Den Knochen unterworfen sei der tiefste Abgrund.

Regiert von Tod und Dunkelheit.

Zwei Seelen, ein Herz.

Getrennt von uralter Macht und ewigem Schmerz.

Durch Liebe gebunden, bis ans Ende der Zeit.

Drache

Inhalt

1. Der Käfig

2. Die Wahrheit und ein Versprechen

3. Gib acht, wen du rufst

4. Vor dem Sturm

5. Heimat

6. Mein König

7. Verhängnisvolle Entscheidungen

8. Finde den Schlüssel

9. Der Fährmann

10. Der Weg der Prüfung

11. Der Pilz mit der Tiefenangst

12. Das Troll-Dilemma

13. Der Sammler

14. Das Feuer im Spiegel

15. Den Knochen der Abgrund

16. Das, was du bist

17. Ein Traum aus Feuer

18. Ihr Schicksal in unseren Händen

19. Ein Drache als Zeuge

20. Was wir in den Spiegeln sehen

21. Der Gipfel mit tausend Antworten

22. Die Klingen des Assassinen und die Geschichte einer Fae

23. Jäger der Legenden

24. Geheimnisse eines Illusionisten

25. Die Bestie im Käfig

26. Was uns wirklich jagt

27. Unantastbar und so verletzlich

28. Mundi

29. Der Schein, den wir wahren, und die Wahrheit dahinter

30. Nue

31. Die Lichter, die der Dunkelheit entstiegen

32. Hass und Reue

33. Die Knochen vergeben nicht

34. Visionen einer Seherin

35. Die Geliebte des Mondes

36. Wer bist du?

37. Vom selben Blut

38. Der letzte Schritt

39. Die Wölfin

40. Ketten, die entfesseln

41. Schenk mir das Ende

42. Anfang und Ende

Glossar

Danksagung

1

Der Käfig

Ich war ein angeketteter Hund unter Wölfen.

Seit vier Wochen befand ich mich wieder zu Hause im Sommerreich. Obwohl es hier beinahe keinen Tag gab, an dem die Sonne nicht mein Gesicht verbrannte, verspürte ich nur Dunkelheit um mich herum.

Sie hatten Grau in ein Verlies geworfen. Hatten ihn mit Magiebannern geknebelt – schillernde Seile, die dazu gemacht waren, die Kräfte eines Magiers zu unterdrücken. Für Grau hatte ein einzelnes nicht gereicht, also hatten sie gleich fünf um seinen Körper geschlungen. Er hatte fast das Bewusstsein verloren, als sie ihn durch ganz Nova Libra geschleift hatten.

Seit er ins Gefängnis verbannt worden war, hatte ich ihn nur ein einziges Mal gesehen. Er hatte schrecklich ausgesehen: Blutergüsse auf Brust, Armen und am Kinn. Ein blaues Auge unter dem wirren weißen Haar, das ihm in Strähnen in die Stirn gefallen war. Bevor ich ihn durch den kleinen Essensschlitz der massiven Eisentür hatte ansprechen können, war ich auch schon von einer Wache gepackt und wieder in den Palast gezerrt worden. Khouan – mein bester Freund und Komplize – hatte noch schnell genug fliehen können und war einer Strafe entgangen. Ich dagegen war von meinem Vater eingesperrt worden wie das widerspenstige Balg, als das er mich schimpfte.

Ich hasste ihn mit jedem Tag mehr.

Die Weisen hatten sich meiner angenommen. Meine erwachten magischen Fähigkeiten waren ein Kuriosum für sie alle.

»Viel zu mächtig, das Mädchen! Sie ist viel zu mächtig!«, hatte eine der alten Frauen gemurmelt, die neben meinen beiden Großmüttern gestanden hatten.

Meine ältere Großmutter, die Mutter meines Vaters, hatte zustimmend gebrummt. »Wir müssen ihre Kräfte aufs Neue versiegeln. Der jetzige Bann hat sich bedenklich stark gelockert.«

Meine jüngere Großmutter, die Mutter meiner Mutter, hatte nur mit der Zunge geschnalzt. »Dieser dumme, dumme Wildenführer. Er hat gar nicht gemerkt, dass er fast seinen Untergang entfesselt hätte. Da ist so viel Feuer in ihrem Herzen.«

»Still! Sie könnte uns hören!«, hatte einer der wenigen Männer unter den Weisen gezischt.

»Das kann sie nicht. Sie steht unter dem Einfluss einer starken Droge. Sie schläft noch bis in die späte Nacht, mein Guter.«

Oh, ich hatte jedes einzelne Wort mit angehört. Der Sud, den sie mir verabreicht hatten, hatte kaum Wirkung gezeigt. Vermutlich war mein Körper durch den ausdauernden Gebrauch des Schlaftrunks im Winterreich resistent gegenüber derlei Kräutern geworden. Ich hatte mich dennoch schlafend gestellt, um die alten Krähen zu belauschen.

»Lasst uns zum heiligen Feuer beten«, hatte meine ältere Großmutter verkündet. »Auf dass niemals ein Wesen das feurige Herz der Sommerprinzessin berühre. Auf dass ihre Kräfte ewig in dem Käfig schlummern, den ihr zu bauen wir uns widmen werden mit all unserer Weisheit. Möge der Name des Feuers uns Kraft geben, ein starkes Werk zu vollbringen.«

»Im Namen des Feuers«, hatten die anderen Stimmen gesummt.

Irgendjemand hatte mir die Hand auf den Bauch gelegt. Übelkeit war in mir aufgestiegen. Danach hatte ich das Bewusstsein verloren.

Seit der Erneuerung des Banns hatte ich mich wie eine wandelnde Leiche gefühlt.

Da war so viel Übelkeit, die mich quälte. Jeden Morgen und jeden Abend erbrach ich mich. Der Hofarzt stellte ein schwaches Fieber bei mir fest. Jede Nacht schwebte ich zwischen Schlaf und vollem Bewusstsein, sah das stets wiederkehrende Bild einer sich verdunkelnden Höhle. Jedes Mal war ich gezwungen, das Erlöschen eines mächtigen Feuers zu betrachten. Immer wieder versuchte ich, dagegen anzukämpfen, war allerdings machtlos. Am Morgen war ich meist zu erschöpft, um mich überhaupt noch aufzusetzen, geschweige denn einen Ton von mir zu geben.

»Ciara, du musst aufstehen«, flehte Maklin, meine kleine Schwester. Seit einer halben Stunde hockte sie schon an meinem Bett und versuchte, mich zu irgendwelchem Unsinn zu überreden, der zum Zweck hatte, mich unter den Laken hervorzuholen.

Sinnlos.

Ich starrte träge an die Decke und sah zu, wie die Schatten über den kunstvollen Baldachin wanderten.

»Wir könnten doch in der Kutsche durch die Stadt fahren und uns auf dem Basar ein Eis kaufen. Was hältst du davon? Gezuckertes Erdbeermus an einem Stiel! Es schmeckt so gut, hm, du musst es unbedingt mal kosten!«

Ich drehte den Kopf und sah Maklin müde an. »Bitte geh.«

Meine kleine Schwester sandte mir einen verzweifelten Blick. Tiefbraune Wellen ergossen sich über ihre Schultern. Ihre dunklen Augen, die üblicherweise vor Lebensfreude strahlten, wenn es ihr gut ging, waren heute glasig und voller Schwermut.

»Du musst aufstehen, Ciara! Bitte tu etwas! Ich bin so in Sorge um dich, ich kann kaum noch essen!«

Langsam richtete ich mich auf. Rotbraunes Haar fiel mir ins Gesicht. Ich atmete tief durch, ehe ich ihr antwortete. »Das ist nicht mein Problem.«

»Das sagst du ständig! Aber deine Probleme sind doch unsere Probleme! Wir sind eine Familie!« Sie klang verängstigt.

Ohne jedwedes Blinzeln starrte ich sie an, als sie eine Hand auf meinen rechten Unterarm legte. Genau dorthin, wo die schwarze Schneeflocke prangte, die Grau mir einst nach meinem Wettkampf mit Estre vermacht hatte.

»Wir lieben dich doch«, fügte sie leise, fast schon flüsternd hinzu.

Ich biss die Zähne aufeinander.

»Was haben sie dir dort nur angetan? Dort in diesem kalten Land? Haben sie dir dein Herz gefroren? Bist du deswegen so kalt? Das Funkeln in deinen Augen – es fehlt. Seit du hier bist, fehlt dir etwas. Und, Schwester, ich wünschte, ich wüsste, was es ist. Ich würde es dir wiedergeben!« Maklin fing an zu weinen.

Ich drehte den Kopf und starrte zum Fenster hinaus. Etwas in mir wollte aufbegehren, aber jener Teil, der mich im Zaum hielt, machte jegliche Ambition, wild und unbeherrscht zu wüten, zunichte.

Stattdessen breitete sich eine heiße Leere in mir aus, die nach und nach alles taub werden ließ.

Es fühlte sich an, als würde meine Seele zu Asche verbrannt.

»Wir müssen leise sein, vielleicht schläft sie«, murmelte eine männliche Stimme.

»Ich kann dich hören, Khouan«, brummte ich.

Schritte. Eine Tür wurde geschlossen.

»Hallo, Ciara.«

Diese Person war neu. Ein ganzes Jahr war seit unserer letzten Begegnung vergangen. Ein Jahr, das ausgereicht hatte, um uns zu Fremden werden zu lassen. Denn ja, so fühlte es sich an, als ich mich umdrehte und Pagana ansah – einfach nur fremd.

Und doch erinnerte ich mich an ihr schönes schwarzes Haar, an das runde gebräunte Gesicht und die unschuldigen dunkelblauen Augen, die mich damals so um den Verstand gebracht hatten.

Anders als heute.

»Was willst du hier?«, fragte ich sie mit rauer Stimme.

»Khouan hat mich hergebeten. Ich habe gehört, du seist krank, seit du aus dem Reich der Wilden zurückgekehrt bist«, verriet sie mir.

Krank. Das war die große Lüge, die mein Vater dem Volk auftischte. Einerseits verbreitete er die Nachricht des grandiosen Triumphes, den sein Sohn im Sieg über den Winterkönig errungen hatte, andererseits trug er eine Maske der bitteren Trauer, sobald er über mich sprach. Eine Krankheit hätte mich befallen, fesselte mich tagein, tagaus ans Bett. Vermutlich ein abscheuliches Mitbringsel aus den kalten Landen, in denen ich gefangen gehalten worden war. So der offizielle Wortlaut der großen Verkündung, die ein Sprecher des Sommerkönigs an das Volk nach meiner Rückkehr herangetragen hatte.

»Ich habe dich vermisst.«

Erschöpft hob ich den Blick. Paganas Wangen waren ein wenig gerötet. Sie lächelte mich vorsichtig an. Wut regte sich in einem entfernten Winkel meines Innersten. Was wollte sie hier? Ihre Sehnsucht stillen? Mir einreden, ich sollte mich besser den Wünschen meines Vaters fügen – genau wie damals, als er uns auseinandergerissen hatte? Oder wollte sie mich genau wie jeder andere aus dem Bett zerren? Zurück in das Leben, das man sich für mich erdacht hatte?

»Weiß mein Vater, dass du hier bist?« Meine Stimme war ein einziges Krächzen.

Paganas Augen wurden groß. »Nun ja …«

Immerhin. Die freche Rebellin hatte ich an ihr immer am meisten gemocht.

Ich räusperte mich schwach. »Du solltest besser gehen, bevor er Wind von der Sache kriegt. Du weißt, dass du gar nicht hier sein darfst.«

Pagana sah mich nur weiter an.

»Ich habe sie entgegen aller Gefahren hier eingeschleust«, erhob nun Khouan das Wort. »Ich dachte, du würdest dich freuen.«

Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Freuen? Denkst du, mich würde noch irgendetwas freuen dieser Tage?«

»Verflucht noch mal, was ist nur aus dir geworden, Ciara?«, brauste er plötzlich auf.

»Keine Ahnung. Sag du es mir.«

»Eine dunkle trauernde Gestalt, die meiner besten Freundin nur noch entfernt ähnlich sieht. Kalt und verbittert wie eine alte Witwe.«

Meine Augen blitzten.

»Was ist dir widerfahren, Ciara? Erzählst du es uns?« Paganas Stimme war leise, doch ich verstand jedes einzelne Wort.

»Würdet ihr mir denn glauben, wenn ich euch sage, dass ich eine Welt gesehen habe, von der wir dachten, sie existiere nur in Märchen und Wundergeschichten?«

Pagana und Khouan schauten einander an.

»Würdet ihr mir glauben, dass ich unter Menschen, die nicht einmal das Blut mit mir teilen, eine Familie gefunden habe? Liebe bei einem Mann, dessen Herz kalt sein soll wie ein Wintersturm?«

»Vielleicht«, hauchte Pagana. »Aber der einzige Mann, der so ein Herz besitzt, ist doch unser größter Feind.«

»Nein.« Ich fing langsam an, den Kopf zu schütteln. »Er ist niemals unser Feind gewesen.«

2

Die Wahrheit und ein Versprechen

Khouan und Pagana hatten kaum eines der Worte glauben können, die ich ihnen anvertraut hatte. Ich hatte bei meiner Flucht aus dem Sommerreich begonnen, hatte ihnen von meiner Reise über den Kontinent berichtet, von meiner Gefangennahme, von Naesh, die mich ausgebildet hatte, gemeinsam mit Sazel, von Estre, die mich zuerst gehasst und dann respektiert hatte, und auch von Azaldir, einem Bären von einem Krieger. Zuallerletzt hatte ich ihnen von einem Mann erzählt, dessen Wille den Winter rufen konnte. Einem Mann mit den Schwingen eines Raben und einem Blick aus flüssigem Silber.

Einem Mann, an den ich mein Herz verloren hatte.

Sein Name war Grau, und er war der Winterkönig.

»Er hat kapituliert?« Khouans Miene verriet seinen Unglauben. Gerade hatte ich ihnen von Suras Kampf gegen Grau erzählt. Hatte erklärt, dass Grau meinen Bruder am Leben gelassen hatte, obwohl er ihn binnen einer einzigen Sekunde das Herz mit einem Eiszapfen hätte durchbohren können, wenn er es nur gewollt hätte.

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat Sura triumphieren lassen. Doch jeder mit Augen im Kopf hat gesehen, was für eine Farce das war.« Zorn füllte meinen Mund mit Säure. Grimmig schluckte ich sie hinunter. »Aber all das war nur ein Trick meines Vaters gewesen, um Grau niederzuringen und ihn gefangen nehmen zu lassen.«

»Er war der Gefangene, zu dem du wolltest?« Khouan schien entsetzt. Ich hatte ihm damals nicht verraten, wen ich im Gefängnis gesucht hatte. Er hatte wie auch viele andere geglaubt, dass der Winterkönig im Sicherheitstrakt für Schwerverbrecher untergebracht worden war. Tatsächlich hatte man ihn in das tiefste Loch gesteckt, das es im Kerker zu finden gab. Tief genug, damit man seine Schreie nicht hörte, wenn er gefoltert wurde.

Ich nickte ernst.

»Himmel, ich hatte ja keine Ahnung.« Khouan sah betroffen auf seine Hände hinab. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann alles andere ist als ein kaltes Scheusal.«

»Grau ist ein gerechter, vernünftiger König. Sein Volk verehrt ihn. Im Gegensatz zu meinem Vater liebt er die Nähe zu seinen Leuten – er speist mit ihnen, kämpft Seite an Seite mit seinen Kriegern und lässt sich sogar dazu herab, lächerliche Kartenspiele mit ihnen zu spielen.« Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, während ich über ihn sprach. »Er ist ein Mensch, ein Mann wie du, Khouan. Kein entfremdetes Wesen. Keine gnadenlose Bestie ohne Gefühle.«

»Er wollte dich nicht benutzen, um dem Sommerreich zu schaden?« Paganas Stimme klang zaghaft. »Verstehe mich bitte nicht falsch.«

»Nein, er hat mir geholfen. Hätte er mich nicht geschult, meine Magie zu entfesseln und zu kontrollieren, wäre ich heute vielleicht nicht mehr hier.« Mit gerunzelter Stirn blickte ich hinab auf meine Hände. »Ich trage so viel Kraft in mir, dass sie bereits aus mir herausquoll. Grau und seine Elite halfen mir dabei, sie zu beherrschen. Also bat ich, bei ihnen bleiben zu dürfen. Sie kümmerten sich um mich.«

»Wir wurden so getäuscht«, murmelte Pagana nach einigen Momenten der Stille. Und damit hatte sie recht. Das Winterreich war uns stets als Feind präsentiert worden. Als ein kaltes Land, in dem nur Wilde hausten. Niemand hätte gedacht, dass dort Menschen von Ehre und Anstand leben würden.

Khouan schaute mich betroffen an. »Was machen wir jetzt?«

»Das weiß ich nicht«, gab ich leise zu. »Ich … Ich kann kaum noch klar denken, seit sie diesen Bann auf mich gelegt haben. Es ist wie früher – nein, eigentlich ist es noch viel schlimmer. Ich will Pläne schmieden, aber das kann ich nicht. Nicht, wenn meine Gedanken tagtäglich durchpflügt werden wie ein Feld von einem Ackergaul.«

»Grau soll diesen Bann brechen. Das kann er doch, oder?«, kam es von Pagana.

»Er könnte es vielleicht. Aber mit diesen Magiebannern um seinen Körper kann er seine Kräfte nicht rufen. Er ist zu geschwächt.«

»Dann nehmen wir sie ihm eben ab.«

Ich sah sie mit hochgezogener Braue an. »Und wie? Dafür braucht man spezielle Handschuhe, die sich ausschließlich im Besitz der Gardeeinheit befinden, die wiederum mit Magiebannern ausgestattet ist.«

»Können wir sie vielleicht klauen?«, fragte Khouan.

Ich schnaubte. »Sicher, wenn ihr einmal in die Kaserne einbrechen wollt.«

Es folgte eine angespannte Stille.

»Damit wäre es aber nicht getan. Wir müssten noch mal zu Graus Gefängniskammer vordringen und ich habe keinen blassen Schimmer, wie wir das bewerkstelligen sollten. Mein Vater wird meinen Namen gewiss von der Liste der Besucher gestrichen haben«, sagte ich mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme.

»Dann versuch das zu ändern«, meinte Pagana.

»Wie denn?« Meine Stimme klang schnippisch. »Meinst du, ich kann meinen Vater mit großen Kulleraugen darum bitten und er wird es mir widerstandslos gewähren? Ich bin nicht Maklin.«

»Nein, aber ich habe gehört, dass es Schwierigkeiten gäbe, Informationen aus dem Winterkönig herauszubekommen.«

Nun legte ich den Kopf schief. »Wo hast du das aufgeschnappt?«

Pagana lächelte verschlagen. »Wachen tratschen. Und das viel zu gern, wenn es um den Winterkönig geht. Sie wollen sich regelrecht damit brüsten, dass sie etwas mit ihm zu tun gehabt haben, auch wenn es vielleicht nur die simple Nennung seines Namens während ihrer Dienstaufsicht ist.«

»Du wusstest schon immer, wo du Informationen herbekommst«, brummte ich.

»Natürlich. Ich wäre eine schlechte Diebin, wenn nicht.«

Pagana war eine interessante Frau, keine Frage. Ein Mädchen reicher Eltern, das des Nachts hochriskante Diebstähle beging, um sich die Langeweile zu vertreiben. Diebstähle, die sie auch in mein Schlafgemach geführt hatten, um mir drei in Gold eingefasste Kristall­eier vor der Nase wegzustehlen. Unglücklicherweise war ich aufgrund meiner damaligen Albträume verfrüht aus dem Schlaf erwacht und hatte sie prompt entdeckt.

Dies war der Anfang unserer Geschichte gewesen.

»Sag deinem Vater, du bietest dich ihm an. Sag ihm, du würdest die Zuneigung des Winterkönigs ausnutzen, um an die Informationen heranzukommen, die er zu haben wünscht«, wies Pagana mich an. »Im Gegenzug solltest du Freigang verlangen – zu deinem eigenen Seelenwohl. Du musst dir mal wieder die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen.«

Zuerst widerstrebte mir dieser Vorschlag. Auf den zweiten Blick erschien er mir allerdings sehr verlockend. Die Aussicht, Grau wieder­zusehen, setzte Gefühle in mir frei, die fast bis an die Oberfläche drangen. Sehnsucht und Liebe. Ich konnte ein Ziehen in meinem Bauch spüren, als ich an seine Augen dachte, seinen silbernen Blick.

»Gut. Ich werde es versuchen«, meinte ich.

Es war nicht einfach, nach so vielen Tagen im Bett einen sicheren Gang zurückzugewinnen. Wie ein Fohlen bewegte ich mich durch die großen Korridore des Sommerpalastes. Meinen Vater fand ich schließlich in einem Lesezimmer, wo mein Bruder Sura eine Abhandlung über die vergangenen Könige unseres Reiches lesen sollte. Vater stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor einem Fenster und warf nachdenkliche Blicke auf die Stadt. Sura wagte es kaum aufzusehen, als ich an ihm vorbeilief. Seit meiner Rückkehr mied er mich. Ich nahm es ihm nicht übel, wusste ich doch am besten Bescheid über die Schmach, die er erfahren hatte im Duell gegen Grau. Wir waren uns beide darüber im Klaren, dass er nicht gegen ihn hätte gewinnen können, wäre das Ganze nicht ein abgekartetes Spiel gewesen.

»Vater«, erhob ich die schwache Stimme.

Der Sommerkönig drehte sich um. »Ciara. Kind, was tust du hier?«

»Ich habe dich gesucht. Man hat mir zugetragen, dass die Befragungen des Winterkönigs fruchtlos wären«, erklärte ich tonlos.

Die Brauen meines Vaters zogen sich misstrauisch zusammen. »Woher hast du diese Information?«

»Wachen. Sie tratschen.«

Er knurrte. »Unfähiges Pack.«

»Sag mir, was ist es, das du zu wissen wünschst? Vielleicht kann ich dir behilflich sein.«

Nun spannte sich seine Haltung an. »Ach ja?«

Ich nickte stumm.

»Woher dieser Sinneswandel?«

»Ich will aus diesem Palast. Ich halte es hier nicht mehr aus. Wenn ich es schaffe, dem Winterkönig ein Geheimnis zu entlocken, lässt du mich hinaus.«

Die Augen meines Vaters wurden schmal. »Führst du etwas im Schilde, Tochter? Oder kehrt deine Vernunft langsam zurück?«

Emotionslos sah ich ihn an. »Dieser Bann hat etwas in mir verändert. Alles fühlt sich so chaotisch an. Ich weiß gerade nicht mehr, wer ich bin.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe im Winterreich so viele schreckliche Dinge gesehen. Morde, Monster und verschlingende Magie. Es war schrecklich. Sie zwangen mich dazu, Teil des Ganzen zu werden – mit ihnen zu kämpfen und meine Magie aus mir herauszuzerren. Jeden Abend haben sie mich mit Rauschmitteln benebelt und irgendwann ging ich in mir selbst verloren. In diesem See aus Magie.« Ein gequältes Seufzen kam aus meinem Mund. »Ich weiß jetzt, warum du mich nie hast unterrichten lassen, Vater. Du hattest mit allem recht. Meine Magie ist gefährlich.«

Er hob das Kinn und betrachtete mich mit schmalen Augen. »So? Warum, glaubst du, ist das so?«

»Weil sie mich verschlingt«, entgegnete ich so eindringlich, wie ich konnte. Die Knöchel meiner Fäuste traten schon weiß hervor, als ich einen Schritt näher kam. »Sie frisst mich! Das, was ich bin, wird unter dieser Energie begraben! Es schmerzt, Vater, so sehr! Wenn du es könntest, würde ich dich bitten, sie mir zu nehmen.«

Den letzten Satz versah ich mit einer winzigen Träne, die mir über die Wange rann.

Selten hatte ich mir so viel Mühe gegeben, ihn hinters Licht zu führen. Viel zu oft hatte ich gegen ihn aufbegehrt, also musste ich meiner Demut etwas anderes hinzufügen, um ihn zu täuschen: Angst und Verzweiflung.

»Bitte«, wisperte ich und griff nach seiner Hand, während ich von diesem Schauspiel gleichzeitig unfassbar angewidert war. »Sag mir, was ich tun soll. Wie kann ich wieder die sein, die ich einst war?«

Die Augen meines Vaters leuchteten auf. Darauf hatte er offensichtlich gewartet. Dass ich gebrochen und eingeschmolzen wurde wie Glas, das er endlich wieder nach seinen Vorstellungen formen konnte.

»Indem du eine bessere Tochter wirst. Eine, die auf das hört, was ich zu sagen habe. Dein Leichtsinn hat dich beinahe den Kopf gekostet, Ciara. Wenn du dich mir als würdig und ergeben erweisen willst, dann zeige mir, dass du diesen Mann dort unten als den Feind siehst, den er für unser Reich darstellt. Ich will wissen, welchen Pakt er mit den Dämonen geschlossen hat, die unsere Lande noch immer attackieren. Finde etwas darüber heraus und ich gestehe dir zu, dich jeden Nachmittag unter Aufsicht aus dem Palast zu begeben, damit du endlich wieder zu deinem alten Leben zurückkehren kannst. Das Volk sehnt sich nach dir.«

Demütig nickte ich ihm zu. In meiner Brust fühlte ich ein hasserfülltes Brennen, als ich mich wieder aufrichtete. Mein Vater wirkte zufrieden. Ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt.

»Wachen«, rief er mit lauter Stimme. »Begleitet meine werte Tochter ins Verlies. Behaltet sie gut im Auge, während sie mit dem Verräter spricht, der unseren Kontinent in den Abgrund stürzen will.«

Ich verbiss mir eine feindselige Antwort und ließ mich von den beiden Männern aus dem Saal führen. Sura regte sich noch immer nicht. Tatsächlich hatte ich sogar den Eindruck, er würde seine Nase noch tiefer in das Buch stecken, als ich an ihm vorbeilief.

Der Weg ins Gefängnis dauerte eine Weile. Ständig wurden wir von weiteren Wachen aufgehalten und man erkundigte sich nach unserem Anliegen. Mir entging nicht, wie man uns zweifelnd hinter­herschaute. Was sollte eine schwache, gebrochene Prinzessin schon bei einem aus Eis und Stahl gefertigten Mann ausrichten – das schienen sie zu denken.

Der Gang hinab zur Zelle war so eng, dass kaum zwei Menschen nebeneinander Platz hatten. Die Luft roch modrig und feucht, die Wände glänzten, als wären sie mit einem Film überzogen. Jeder Schritt auf dem verdreckten Boden erzeugte ein Knirschen. Abseits unserer eigenen Fackeln gab es kein Licht.

Als ich schließlich vor Graus Zellentür stand, rauschte das Blut in meinen Ohren. Schweiß sammelte sich auf meinen Handflächen, also ballte ich die Fäuste. Mit größter Beherrschung sah ich zu, wie man die Tür aufschloss und für mich aufstieß. Danach durfte ich eintreten.

Zunächst war da nichts außer Dunkelheit, doch als die fackel­tragende Wache hinter mir in die Zelle trat, sah ich den geschundenen Körper, der sich in der Mitte des Gewölberaumes befand. Helle, fast weiße Haut, die über und über mit blauen, roten und gelben Flecken übersät war. Stiche und Schnitte dazwischen wie Straßen, die man auf einer Landkarte verzeichnet hatte. Es war ein Bild des Elends.

Die Hände waren über dem Kopf fixiert. Ein schwaches Schillern der dünnen Seile – der Magiebanner – erhellte den Raum, als das Licht der Fackel reflektiert wurde. Der Kopf mit dem weißen, nun eher schmutzig grauen Haar, hing kraftlos herab.

Ich schluckte bei Graus Anblick. Nie hätte ich gedacht, dass man ihn derart in die Knie zwingen könnte. Nicht ihn. Den großen, strahlenden Winterkönig und eines der mächtigsten Lebewesen, die ich je kennengelernt hatte.

»Hey. Aufwachen.« Einer der Zellenwärter schlug mit einem Knüppel gegen Graus Bauch. Stöhnend regte er sich und hob den Kopf.

Sein Gesicht war von verkrustetem Blut bedeckt, die Unterlippe war aufgeplatzt. Unter seinem rechten Auge prangte ein Schnitt. Ein langer Bluterguss zierte seine linke Wange. Der Atem war flach und dennoch hörbar.

»Erkennst du dein Opfer noch?«, raunte der Wärter in sein Ohr. Dann packte er Graus Kopf und zwang ihn, mich anzusehen.

Zu gerne hätte ich den Wärter in Brand gesteckt. Er sollte ihn loslassen.

Graus Gesicht zeigte kaum eine Regung, was vielleicht daran lag, dass ihm alles wehtun musste. Doch auch ich trug eine nichtssagende Miene. Unter keinen Umständen durfte ich mir etwas anmerken lassen.

»Ich bin gekommen, um dir Fragen zu stellen«, sagte ich. »Fragen zu deinem Pakt mit den Dämonen.«

Grau röchelte. Sagte aber nichts.

»Welche Vereinbarungen hast du mit ihnen getroffen?«, fragte ich.

Grau schwieg, worauf der Wärter ihm die Faust in die Seite donnerte. »Antworte ihr!«

»Hört auf«, zischte ich ihn an. »Seht Ihr denn nicht, dass er völlig am Ende ist? Wie soll er denn noch sprechen mit derlei Verletzungen?«

»Er ist ein mächtiges Scheusal, das mit der Kraft des Winters gesegnet wurde. Ein paar Schläge hält er schon aus«, höhnte der Wärter.

»Ihr stört meine Befragung. Verlasst die Zelle. Sofort.« Mein Tonfall machte klar, dass ich keinen Widerspruch duldete.

Einer meiner beiden Wächter trat vor, als der Wärter nicht reagierte. »Hast du nicht gehört, was die Prinzessin gesagt hat?«

Grummelnd und fluchend rauschte der Wärter letztlich ab. Durchdringend starrte ich die beiden Wachen an, die mich hierher begleitet hatten. »Ihr geht ebenso. Ich will mit dem Winterkönig allein sein.«

»Herrin, das solltet Ihr besser nicht tun …«

»Warum?«, fiel ich ihm ins Wort. »Seht ihn Euch doch an. Er ist absolut wehrlos. Es dürfte ein Wunder sein, wenn ich etwas aus ihm herausbekomme. Aber lasst mir den Versuch.«

Es dauerte einen Moment, bis die ältere der beiden Wachen ermattet seufzte. »Wir warten auf Euch außerhalb der Zelle.«

Unmerklich nickte ich ihm zu. »Ich danke Euch.«

Es fühlte sich wie eine schiere Ewigkeit an, bis sie den Raum verlassen hatten. Derweil biss ich so fest die Zähne aufeinander, dass es wehtat. Ich zählte bis zehn, als die Tür sich hinter mir schloss, dann eilte ich zu Grau. Endlich hob er den Kopf. Sein Blick war trüb, aber er schien mich zu erkennen. Meine Hände berührten sein Gesicht, ich strich durch sein schmutziges Haar, kostete seinen Atem auf meinen Lippen, ehe ich ihn zu küssen begann. So verzweifelt, dass ich beinahe mit den Magiebannern in Kontakt gekommen wäre, die ihn umschlangen. Ich war darauf bedacht, sie nicht zu berühren, was mir unendlich schwerfiel, da ich Grau in diesem Augenblick nicht nahe genug sein konnte.

»Ciara«, wisperte er gebrochen, nachdem ich mich von ihm gelöst hatte. Der metallische Geschmack von Blut lag auf meinen Lippen, als ich mit der Zunge darüberfuhr. Grau stemmte sich im nächsten Moment gegen die Fesseln, woraufhin eine der verkrusteten Wunden an seinem Arm wieder aufplatzte.

»Scht«, machte ich. »Sei still und beweg dich nicht. Du bist vollkommen entkräftet.«

Er schloss die Augen, während ich meine Stirn an seine lehnte. »Du solltest fliehen.«

»Nicht ohne dich.«

»Kehr ins Winterreich zurück. Sag Sazel, dass …«

Ich sah auf. »Was?«

»… dass es so weit ist. Sie sollen die Stimme der Wintereiche um Rat fragen.«

Ich legte meine Hände an seine Wange, darauf bedacht, ihm nicht wehzutun. »Was redest du da?«

»Die Wintereiche bestimmen einen neuen König, wenn der alte vergeht und es keine Nachkommen gibt.«

Ich sog entsetzt die Luft ein. »Wage dich nicht, auch nur an so etwas zu denken! Ich werde dich befreien, koste es, was es wolle. Ich werde dich hier nicht zurücklassen.«

»Die Dämonen wüten noch immer. Ich habe die Wachen reden hören. Du musst ins Winterreich. Sie brauchen einen neuen Anführer, der das Volk unter Kontrolle bringt, wenn alles aus den Fugen gerät«, redete er einfach über mich hinweg.

Voller Panik zwang ich ihn, mich anzusehen. »Hör auf, so etwas zu sagen!«

Seine silbernen Augen hatten viel von ihrem einstigen Glanz verloren. »Ich werde deinem Vater und auch sonst niemandem etwas über das Winterreich verraten. Das ist mein Todesurteil.«

»Wir schmieden einen Plan, um dich zu befreien. Du musst nur ein klein wenig länger durchhalten.« Meine Stimme klang beinahe flehend.

»Je länger ich vom Winterreich getrennt bin, umso stärker schwindet meine Macht. Ich weiß nicht, wie lange ich noch standhalten kann.« Er ächzte. »Diese Magiebanner …«

»Es gab einen Grund, warum man sie früher einmal verboten hat.« Mir kamen beinahe die Tränen. »Ich finde einen Weg, um dich von ihnen zu befreien.«

Erneut küsste ich ihn. Wollte all meine Hoffnung in diese Zärtlichkeit legen, die eigentlich so verzweifelt und hungrig war.

»Ich lasse dich nicht zurück«, flüsterte ich abermals. »Hörst du?«

Grau nickte schwach.

»Ich verspreche es dir.«

3

Gib acht, wen du rufst

Unruhig schritt ich in meinem Zimmer auf und ab. Inzwischen war die Nacht über das Land hereingebrochen und so war der Raum nur noch von schwächlich glimmenden Lampen erhellt.

Meinem Vater hatte ich gesagt, dass Grau sich geweigert hatte, mit mir zu sprechen, ich aber dennoch Hoffnung in seinen Augen gesehen hatte. Vielleicht würde ich ihn beim nächsten Mal brechen.

Vater hatte zufrieden gewirkt, wenn auch nicht vollkommen überzeugt von meiner Treue. Also hatte er mich gebeten, ihm die Schwachpunkte des Winterreiches mitzuteilen. Ich hatte ihm Lügen aufgetischt über Mauerlöcher und Geheimgänge, über schwache Walküren und schlechte Bogenschützen. Er hatte jedes einzelne Wort in sich aufgesogen und immer wieder in sich hineingelächelt, wenn ich einen dramatischen Anflug von weiterer Reue geheuchelt hatte.

Es hatte mich geradezu angewidert, meinem Vater in die Augen zu blicken und die Genugtuung darin zu sehen.

Nach unserem Gespräch hatte ich mich in mein Zimmer zurückgezogen und angefangen zu grübeln. Letzten Endes lief jeder Plan darauf hinaus, dass ich in die Kaserne einbrechen und jene Handschuhe stehlen musste, die es erlaubten, Magiebanner unbeschadet zu berühren.

Ich seufzte leise, als ich vor einem der großen Rundbogenfenster stehen blieb und meinen Blick hinauf zum Mond richtete, der hier im Sommerreich so winzig klein erschien. Im Winterreich war er eine große silberne Scheibe, dessen Licht wie das einer matten Sonne anmutete. Ich hatte den Anblick sehr genossen.

Im nächsten Augenblick spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meinem Kopf, das mich mittlerweile in einer beängstigenden Regelmäßigkeit heimsuchte. Eines, das mir recht vertraut war. Und das nicht erst seit Kurzem.

Nachdenklich trat ich hinüber zu einem kleinen Beistelltisch, auf dem jeden Tag zwei bis drei köstliche Getränke für mich bereitgestellt wurden. Alles Geschenke der reichsten Ständebesitzer des großen Basars unten in der Stadt – oft kamen sie in hübsch gedrehten Flaschen und Amphoren, verschnürt wie edle Pakete. Meist lag ein Genesungskärtchen dabei, das nach schweren ätherischen Ölen duftete, die mir nur Kopfschmerzen bereiteten.

Ich entschied mich dieses Mal für einen roten Wein. Bisher hatte der Alkohol immer geholfen, um den Schmerz in meinem Kopf besser ignorieren zu können. Großzügig goss ich die dunkle Flüssigkeit in einen gläsernen Kelch und kostete sie. Nach einem Augenblick verzog ich das Gesicht. Der Schmerz wurde noch intensiver. Wie Axtschläge, die meinen Schädel zweiteilten. Mit jeder Bewegung pochte das Blut spürbar in meinen Schläfen.

Fluchend eilte ich hinüber zur Balkontür. Eilig zog ich sie auf, atmete die frische Luft ein, aber die Qualen ließen nicht nach.

Seit meinem Aufeinandertreffen mit Kazra, dem Heerführer der Dämonen, plagte mich dieses Leid. Als wären die Nachwirkungen des neuen Bannes um mein Herz nicht schon genug. Nein, dieser Dämon rief sich mir mit aller Macht wieder und wieder ins Gedächtnis.

Schnellen Schrittes lief ich über die marmorierten Fliesen des Balkons weiter zur breiten Treppe, die hinab in einen kleinen Garten führte, in dem vor Jahren all meine Lieblingsblumen angepflanzt worden waren. Wütend schüttete ich den Wein über die Beete. »Lass mich in Ruhe, Kazra«, zischte ich. »Kriech zurück in die Erdspalte, aus der du emporgekommen bist.«

Als hätte er mich erhört, zog sich das Ziehen und Zerren aus meinem Kopf zurück. Verdutzt hielt ich inne.

»Wie ungehalten du mittlerweile geworden bist«, raunte eine glatte Stimme. »So gefällst du mir weitaus besser als in der Gestalt eines kleinen Trauerkloßes.«

Erschrocken wirbelte ich herum. Kazra stand inmitten des Weges. Seine blauen Augen blitzten im schwachen Schein des Mondes. Dem schwarzen Haar schien ein metallischer Schimmer innezuwohnen. Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.

Angst schwappte durch meinen Körper. Das Herz schlug mir bis zum Hals. »Wie bist du hierhergekommen?«

Der Schleier des Sommerreiches, der es eigentlich vor dämonischen Erscheinungen schützt … Er hat ihn durchdrungen. Also gibt es doch ein Loch.

»Du hast mich beschworen.«

»Gar nichts habe ich«, knurrte ich wutentbrannt. »Ich habe gesagt, du sollst verschwinden.«

Er sah schmunzelnd an mir vorbei. »Nun ja, du hast ein Ritual durchgeführt und dabei meinen Namen gerufen. So funktioniert die Anrufung eines Dämons für gewöhnlich.«

Ich blinzelte erstaunt. »Ich habe Wein verschüttet! Und dich verflucht! Wie in aller Welt kann das eine Beschwörung sein?«

Kazra zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht. Ich habe die Regeln nicht gemacht.«

Meine Augen wurden schmal. »Ich will, dass du verschwindest. Und wag ja nicht, wiederzukommen.«

Sein Blick wanderte an meinem Körper entlang. »Bist du dir sicher, dass du das willst?«

Hätte ich es gekonnt, hätte ich ihn am liebsten in Brand gesteckt. »Was bildest du dir ein?«

Er lächelte und schaute mir wieder in die Augen. »Nur die Ruhe.« Lässig zupfte er an seinem dunklen Ärmel. »Dir dürfte nicht entgangen sein, dass ich hin und wieder den Kontakt zu dir gesucht habe. Ich habe dich vermisst, weißt du.«

»Du hast mir Schmerzen bereitet, du dämonische Made.«

Er ließ sich durch diese Beleidigung nicht aus der Ruhe bringen. »Das waren doch nur liebevolle Schubser. Ich konnte nicht ertragen, wie du bloß im Bett herumliegst und vor Verzweiflung dahinsiechst. Dafür bist du mir schlichtweg zu wichtig.«

»Wichtig?« Meine Finger umklammerten den Kelch so fest sie konnten. »Ich verstehe nicht, was du vom mir willst, du Scheusal. Ich habe dir nichts getan. Und ich besitze auch keinerlei Kräfte, die dir etwas nützen oder aber gefährlich werden könnten. Ich bin nur eine einfache Frau, die auf der falschen Seite des Kontinents geboren worden ist.«

Nun veränderte sich etwas in seinem Blick. Er tat einen Schritt auf mich zu. Und während er näher kam, fühlte ich, wie sich etwas in mir löste und entfesselt wurde. Etwas, das lange gelähmt und zu Boden gedrückt worden war. Ich keuchte.

»Eine einfache Frau?« Kazra schnaubte höhnisch. »Du hast ja keine Ahnung, was du wirklich bist.«

»Und du schon?«, stöhnte ich. So viel magische Energie strömte urplötzlich auf mich ein. Sie rauschte durch mein Blut und brachte die Luft zum Knistern.

»Ich weiß so einiges.«

Der Kelch fiel mir aus der Hand. Mit einem hellen Klirren rollte er über den Boden.

Kazra trat vor mich.

Ich hob das Kinn und sah ihn erschöpft an. Das Blau seiner Augen war von einem Leuchten beseelt, das mir einen Schauer den Rücken hinabjagte.

»Was tust du da?«, brachte ich hervor.

»Nur ein paar deiner Gedanken lesen.«

»Hör auf«, wisperte ich. »Das ist … zu viel Magie …«

»Sie haben dir einen Bann auferlegt.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Und du hast ihn wiedergesehen. Deinen Winterkönig.«

Wühlte er etwa in meinen Erinnerungen? Ich war nicht fähig, meine Gedanken beisammenzuhalten; willkürliche Bilder der letzten Tage blitzten vor meinem inneren Auge auf.

Auf einmal endete das Wirken der Energien in meinem Körper jedoch abrupt. Meine Magie kam wieder zur Ruhe und mein Herz stolperte nicht länger in meiner Brust. Ich konnte wieder durchatmen.

Kazra sah mich weiterhin aufmerksam an. »Du willst ihn also befreien.«

»Und wenn schon«, zischte ich.

Wieder fing er an zu lächeln. »Ich könnte dir helfen.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht, Dämon.«

»Du willst also lieber alles riskieren und in die Kaserne einbrechen? Deine Magie ist mächtig, in der Tat, aber momentan ist sie gebannt und ich bezweifle, dass du imstande bist, eine Waffe zu führen. Du solltest das nicht im Alleingang versuchen.«

Ich funkelte ihn an. Doch er hatte recht.

Nun zeigte er mir ein großmütiges Grinsen. »Wie wäre es, wenn ich dir ein wenig Arbeit abnehme? Ich hole dir diese Handschuhe, die du so dringend haben willst.«

»Ich lasse mich nicht auf einen Handel mit einem Dämon ein«, entgegnete ich mit dunkler Stimme.

»Und was, wenn ich nicht mehr verlangen würde, als dass wir uns wiedersehen, sobald du deinen Winterkönig befreit hast?«

Mein Blick schien ihn zu durchbohren. »Ich glaube kaum, dass ich damit so einfach davonkomme.«

Er breitete die Arme aus. »Ich bin großzügig. Hier und heute. Für dich.«

Ich traute der Sache nicht. Allzu viel wusste ich nicht über Dämonen, doch einen Pakt mit ihnen zu schließen bedeutete meist, die eigene Seele zu verkaufen. Man konnte nicht gewinnen, nur verlieren, auch wenn es anfangs vielleicht nicht danach aussah.

Andererseits wäre dies eine unglaubliche Gelegenheit. Grau zu befreien, war mein oberstes Ziel. Die Rückkehr in sein Reich war unabdingbar. Arkasia würde ins Chaos stürzen, sollte er nicht wieder zu seinem Volk heimkehren. Die Dämonen würden über den Kontinent herfallen und das Sommerreich würde ihn mit Leid und Krieg zugrunde richten.

Ich atmete tief durch. »Nur ein einfaches Wiedersehen? Keine sonstigen Bedingungen?«

Nun wurde Kazras Lächeln verschlagener. »Vorerst soll mir das genug sein.«

»Vorerst?«, echote ich alarmiert.

»Wer weiß, vielleicht kommst du ja auf den Geschmack und ich werde zum demütigen Diener all deiner Wünsche und Gelüste.« Je entsetzter ich aussah, umso mehr schien er sich zu amüsieren. »Glaube nicht, dass die Menschen keinen Gefallen daran finden würden, Dämonen ihrem Willen zu unterwerfen. Für einen guten Pakt tut eine solche Kreatur alles.«

»Eine Kreatur wie du?«

Kazra erwiderte nichts, lächelte bloß vor sich hin.

»Bring mir die Handschuhe. Dann erkläre ich mich bereit, dich danach ein weiteres Mal anzurufen.«

Kazra verbeugte sich vor mir, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen. »Zu Euren Diensten.« Seine Stimme war ein verheißungsvolles Raunen, das mich glauben ließ, ich hätte gerade den größten Fehler meines Lebens begangen.