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Inhalt

Vorwort

Der Mann mit den Masken
Die Rollen seines Lebens

Der Langstreckenläufer
Kindheit in Köln

Wo ist der Arbeiter in der Literatur?
Die Welt hinter den Werkstoren

Das Politische ist privat
Günter Wallraff und die Frauen

Wallraff was here
Eine Frage der Moral

Die Jahre der Revolution
Internationale Solidarität

»Bild«-Störung
Der Kampf gegen Springer

Deutsche Fragen
Die Suche nach Wahrheit

Der Mann, der Ali war
Als Türke in der Bundesrepublik Deutschland

Der Fluch des Erfolgs
Kritik und Kritiker

»Die Welt darf nicht bleiben, wie sie ist«
Bis hierher – und wie weiter?

Ausblick

Dank

Anhang

Das Buch

Der Autor


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» Das Buch

» Der Autor

» Impressum

Vorwort

Es war im Herbst 1979, als ich Günter Wallraff das erste Mal traf. Zusammen mit Constantin von Kerssenbrock, einem Kollegen unserer wenige Monate zuvor gegründeten »tageszeitung« (taz), begleitete ich Günter Wallraff eine Woche lang auf einer Lesereise durch die süddeutsche Provinz. Damals war gerade »Zeugen der Anklage«, sein zweites Buch über die »Bild«-Zeitung erschienen, und Wallraff hatte jeden Abend in einer anderen Stadt eine Veranstaltung. Bei diesen Auftritten wurde zwar auch aus dem Buch gelesen, ansonsten hatten sie aber mit einer gewöhnlichen Lesereise eines Schriftstellers wenig zu tun. Seine Lesungen in Städten wie Ulm oder Passau waren, gemessen an den sonstigen Aktivitäten vor Ort, politische Großveranstaltungen, auf denen heftig darüber diskutiert wurde, was man gemeinsam zur politischen Hygiene gegen den »Bild«-Schmutz tun könne.

Obwohl wir Wallraff eine Woche lang praktisch Tag und Nacht auf der Spur blieben, schafften wir es nur mit äußerster Mühe, ihn einmal eine Stunde lang in einem Zimmer festzuhalten, damit er uns endlich ein paar Fragen beantwortete. Nicht weil er den Fragen ausweichen wollte oder bewusst einem Gespräch aus dem Weg ging – ganz im Gegenteil, wir verstanden uns glänzend –, sondern weil Wallraff in einer Weise unter Strom stand und von einer niemals endenden Schlange von Leuten belagert wurde, wie ich es vorher noch bei keinem anderen Menschen erlebt hatte.

Die Energie dieses Mannes schien unerschöpflich. Sicher, auch Wallraff war irgendwann um zwei Uhr nachts beim Kneipengespräch erledigt, doch um sieben Uhr konnte man ihn bereits wieder beim Lauftraining beobachten, und um acht Uhr saß er schon beim ersten Interview mit einer Lokalzeitung. Für uns, journalistische Autodidakten, die sich gerade anschickten, mit der »taz« eine publizistische Stimme zu etablieren, die als »Gegenöffentlichkeit« dienen und im Unterschied zu den »bürgerlichen Medien« täglich die linke Sicht auf die Republik und den Globus insgesamt abbilden wollte, war Wallraff nichts weniger als die Speerspitze dieser Gegenöffentlichkeit. So musste man das machen.

Wir trafen uns dann einige Monate später wieder, als die »taz« die erste von unzähligen noch folgenden Existenzkrisen durchmachte und Günter Wallraff sich, ohne dass es dazu viel Überredungskunst bedurft hätte, bereit erklärte, als prominentester Werbeträger einer Kampagne zum Erhalt der Zeitung den notwendigen Schub zu geben. Die Kampagne war erfolgreich, leider scheiterte aber der Versuch, Wallraff als festen Autor für die »taz« zu gewinnen. Dazu, das war uns eigentlich auch damals schon klar, war er doch mit seinen eigenen Projekten zu beschäftigt.

Wallraff erschien mir damals einerseits als eine vertraute Person, anderseits natürlich als Mitglied einer Liga, in der niemand sonst aus meinem persönlichen und politischen Umfeld spielte. Das Gefühl der Vertrautheit hatte sich schon eingestellt, bevor ich ihn überhaupt das erste Mal persönlich getroffen hatte. Das hing mit der Rezeption seiner »Industriereportagen« durch meine Kommilitonen an der Universität zusammen. Für fast alle Freunde im Soziologieseminar waren die Betriebsreportagen von Günter Wallraff Einblicke in eine exotische Welt, die sie aus ihrem eigenen Erleben überhaupt nicht kannten. Als Kind des Ruhrgebiets, dessen Vater selbst jeden Morgen um halb sechs mit dem Fahrrad zur Fabrik gefahren war, beschrieb er dagegen für mich bekanntes Terrain. Gerade deshalb fand ich es besonders gut, dass diese Welt auch einmal Gegenstand des Interesses aller anderen wurde.

Das wiederholte sich, als 1985 das Buch »Ganz unten« erschien. Meine damalige Lebensgefährtin war viele Jahre zuvor selbst als so genannte »Gastarbeiterin« aus der Türkei für einen Fabrikjob in Deutschland angeworben worden und kannte das Leben, das Günter Wallraff in dem Buch beschreibt, teilweise aus eigener Erfahrung. Erneut schien mir Günter Wallraff bei gelegentlichen Treffen vertraut und zugleich, als gefeierter Autor, auch weit entfernt.

Zum dritten Mal dann traf ich auf den Mann, der wie kein anderer die Schattenseiten des bundesdeutschen Wirtschaftswunders aufgedeckt hatte, nachdem ich als Korrespondent nach Istanbul gewechselt war. Nicht persönlich, aber in der Erinnerung etlicher Menschen, die sonst mit deutscher Literatur wenig zu tun hatten. Günter Wallraff ist auch heute noch für viele Menschen in der Türkei ein Begriff – als derjenige, der den Deutschen klargemacht hat, dass in den 60er und 70er Jahren eben nicht nur Arbeitskräfte, sondern Menschen mit allen ihren Wünschen und Problemen nach Deutschland eingewandert waren.

Als ich Günter Wallraff, nach Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, anrief, um mit ihm über die Idee einer Biographie zu sprechen, war ich mir ganz und gar nicht sicher, wie er darauf reagieren würde. Denn auch wenn Wallraff in diesem Buch vor allem als Journalist, Schriftsteller und politischer Aktivist porträtiert wird, ist doch die Arbeit an einer Biographie auch immer ein Einbruch in die Privatsphäre, der nicht frei von Zumutungen ist.

Sucht man eine Antwort auf die Frage, wer dieser Mann ist, der in so vielen verschiedenen Rollen verschiedene Wirklichkeiten in Deutschland erforscht hat, gerät man leicht in Gefahr, in einer Weise indiskret zu werden, die für den Befragten sehr unangenehm ist.

Dennoch hat Günter Wallraff keinen Moment gezögert, mich nach Köln einzuladen, um über die Idee zu reden. An seinem legendären Küchentisch, dem Ort, an dem so viele Projekte diskutiert, ausgedacht und schließlich reflektiert worden waren, entstand dann auch ein wichtiger Teil dieses Buches. Das größte Hindernis dabei war wiederum, wie schon 30 Jahren zuvor, nicht Zurückhaltung und mangelnde Auskunftsbereitschaft, sondern ein ständig klingelndes Telefon – im Unterschied zu früher jetzt auch noch ein zusätzliches Handy –, andauernder unangemeldeter Besuch und eine überaus kompliziert zu bedienende Kaffeemaschine, die uns viel Zeit kostete.

Als wir uns das erste Mal für das vorliegende Buch zusammensetzten, stand das abschließende Urteil des Hamburger Oberlandesgerichtes, bei dem Wallraff gegen Springers »Welt« auf Unterlassung der Behauptung klagte, er sei Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen, noch aus. Lange Jahre hatte diese Auseinandersetzung die Kräfte Günter Wallraffs gebunden und ihn daran gehindert, sich intensiv mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu befassen, bis ihm endlich im Januar 2006 die Gerichte in vollem Umfang recht gaben.

Die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Vergangenheit und eine schwere Rückenkrankheit hatten dazu geführt, dass Günter Wallraff über Jahre publizistisch kaum noch in Erscheinung getreten war. Trotzdem war er keineswegs vergessen. »Was macht eigentlich Günter Wallraff?« war eine bis zum Frühjahr 2007 immer wieder gestellte Frage, und bei den Recherchen zum Buch wurde erst recht schnell klar, dass Wallraff längst zum festen Bestandteil der politischen, journalistischen und literarischen Geschichte Deutschlands geworden ist. Der Mann, der bei »Bild« Hans Esser war und sich anschließend in jahrelanger Auseinandersetzung mit dem mächtigsten Medienkonzern der Republik in einer geradezu klassischen David-gegen-Goliath-Rolle ins Langzeitgedächtnis der Menschen eingebrannt hat, um anschließend noch einmal mit seiner Rolle als »Ali« eine Schock- und Schamwelle durch die Bundesrepublik zu schicken, dieser Mann hat, wie ihm heute auch seine früheren Gegner zubilligen, mit seinen Büchern das Land verändert.

Um mich dem Mann, der Günter Wallraff ist, anzunähern, habe ich außer mit ihm selbst noch mit Dutzenden weiteren Menschen gesprochen – angefangen von seiner engeren Umgebung, über ehemalige Mitstreiter, die ihn auf bestimmten Etappen seines Weges begleitet haben, bis zu Gegnern, die früher mal seine Freunde waren, und ehemaligen Gegnern, die ihn im Rückblick ganz anders beurteilen. Ich habe mir etliche Plätze seines früheren Wirkens heute noch einmal angeschaut und dabei fast zwangsläufig auch den dramatischen Umbau von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft drastisch vor Augen geführt bekommen.

Dabei ist ein Porträt über einen Menschen und seine Zeit entstanden, in dem nicht die Wahrheit über Günter Wallraff steht, sondern das als Ergebnis einer journalistischen Recherche aufzeigt, was er wann, wo, wie bewirkt hat und was sich davon im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft festgesetzt hat.

Dabei hat Günter Wallraff mir, kurz bevor das Buch fertig werden musste, selbst in seiner ganz besonderen Art noch einmal geholfen, indem er wieder als investigativer Rechercheur und Rollenspieler aktiv wurde. Zu einem Lebenszeitpunkt, an dem andere sich zur Ruhe setzen, kurz vor seinem 65. Geburtstag, ist Günter Wallraff erneut in einer seiner vielfältigen Masken aktiv geworden, um »die schöne neue Arbeitswelt« des 21. Jahrhunderts zu erkunden. »Mein Ziel«, schreibt er in der ersten Reportage in seiner neuen Rolle als Mitarbeiter zweier Kölner Call-Center, »ist die neue deutsche Arbeitswelt, in der nichts mehr qualmt und rußt wie einst in Fabriken und Zechen, sondern die staubfrei hinter Glas und Stahl versteckt ist.«

Die Reaktionen auf diese, wie er sagt, »doch eher kleine Reportage« des neuen Wallraff zeigen, dass er in Deutschland noch immer eine Institution ist. Allein die Ankündigung, Wallraff sei in einer neuen Rolle unterwegs, ließ die Telefondrähte in seiner Wohnung heiß laufen. Kaum war die Reportage erschienen, war Wallraff vom Frühstücksfernsehen bis zu den Talkshows auf fast allen Sendern präsent und diskutierte über die Arbeitsmethoden der Call-Center. Scheinbar spielend schafft es Günter Wallraff, die Arbeitsbedingungen in der »schönen neuen Arbeitswelt« auf die Tagesordnung zu setzen.

Die Aufmerksamkeit für Wallraff ist allerdings nicht nur mit der Erinnerung an seine großen Aktionen in den 70er und 80er Jahren zu erklären. Sie zeigt vielmehr an, dass der Zeitgeist in Deutschland sich zu drehen beginnt und Günter Wallraff, der im neoliberalen Diskurs der 90er Jahre und auch noch in der ersten Hälfte des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert als Mann von gestern galt, plötzlich wieder hochaktuell ist. Eine linke Geschichte, wie Günter Wallraff sie repräsentiert, ist in Deutschland 2007 nicht mehr nur eine wichtige Erinnerung, sondern gleichzeitig Anregung für die Zukunft.

Istanbul, Juni 2007

Jürgen Gottschlich