Das Pegasosgen

Marias Geheimnis

 

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von Eve Grass

 

 

 

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Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

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www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2018

© Eve Grass

© Coverbilder: Fotolia vchalup, Juhku, Valoon-Design (www.valoon-design.de)

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Bilder: Fotolia hywards (DNA), Svetlana Ivanova

(Silhouetten Pferd), jan stopka (Drachenflügel)

© Bild Pegasos: Valoon-Design (www.valoon-design.de),

Fotolia ashva, chamnan phanthong

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, D-74594 Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-34-1

 

 

 

 

 

 

»Diejenigen, die ihre Nüstern in den Aufwind am Morgen strecken, die werden aussterben! …« (Maria Cortéz)

 

 

Sind die Geschichten über fliegende Pferde nur Legenden, oder gibt es sie wirklich?

 

Als die fünfzigjährige Pferdenärrin Rike mit ihrem Mann Hannes nach Spanien auswandert, ahnt sie noch nicht, dass sie bald Bekanntschaft mit einer blinden, alten Dame machen wird, deren Geschichten ihre Welt komplett auf den Kopf

stellen werden. Maria Cortéz und ihr Lebensgefährte José hüten nämlich ein Geheimnis, das bereits seit der Antike versucht wird, vom Großteil der Weltbevölkerung zu verbergen.

 

 

»Das Pegasosgen« von Eve Grass ist ein Roman, der Realität und Fantasie, Hoffnungen und Wünsche mit den Problemen des Alltags mischt. Und er lässt ein mythisches Wesen auferstehen, das so alt ist wie der Traum vom Fliegen.

 

 

Inhalt

 

Prolog

2015, Sierra Grazalema

 

Teil I

1100 vor Christus, nahe dem Olymp

(aus den Erzählungen der alten Maria)

2013, Sierra Grazalema

1100 vor Christus, nahe dem Olymp

(aus den Erzählungen der alten Maria)

2013, Sierra Grazalema

 

Teil II

1496, Extremadura

(aus den Erzählungen der alten Maria)

2013, Sierra Grazalema

1496, Granada

(aus den Erzählungen der alten Maria)

2013, Sierra Grazalema

1496, Granada

(aus den Erzählungen der alten Maria)

 

Teil III

2013, Sierra Grazalema

2013, Nürnberg/Almeria/Jerez de la Frontera

Auf der A-92 von Granada nach Loja

Am selben Nachmittag in Gaidovar

2013, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen

2013, Sierra Grazalema

2013, Nürnberg/Erlangen

2014, Sierra Grazalema

Zur selben Zeit in Erlangen

2014, Flugplatz Villamartin/Sierra

Grazalema

2014, Nürnberg/Erlangen

2014, Sierra Grazalema

2014, Nürnberg/Erlangen

2014, Sierra Grazalema

2014, Fürth/Erlangen

Zur selben Zeit im Genlabor Erlangen

Flughafen Nürnberg/Sierra Grazalema

2015, Sierra Grazalema

 

Epilog

2015, irgendwo in Spanien

 

Vorschau

 

1940, Sierra Nevada

(José erzählt)

 

Autorenvorstellung

 

Danksagung

 

Prolog

 

2015, Sierra Grazalema

 

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Rike hastete den Berg hinauf, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. »Hannes!«, schrie sie, aber die Anstrengung ließ ihre Stimme versagen. Keuchend blieb sie stehen und krümmte ihren Oberkörper, um besser Luft zu bekommen. Dann stieg sie langsam weiter die Bergwiese hinauf zur Finca. »Hannes!«, rief sie ein zweites Mal, diesmal etwas leiser. Warum auch hatte sie ihr Handy im Wohnzimmer liegen lassen, als sie zur Pferdeweide gegangen war?

Der Weg zur Finca war nur kurz, doch heute hatte Rike das Gefühl, als würden sie ihre Beine im Stich lassen, als sei sie gefangen in einem dieser Träume, in denen man laufen will, aber nicht vom Fleck kommt. Der Anblick, der sich ihr vor wenigen Minuten auf der Weide geboten hatte, sprengte jegliche Vorstellungskraft.

Nach fünf Minuten, die sich wie Stunden für die zierliche Rike anfühlten, erreichte sie das kleine, weiße Wohnhaus der Finca. Das Wiehern ihrer Pferde, die in der angrenzenden Koppel neugierig die Köpfe über das Gatter streckten, begrüßte sie.

Hannes war nicht zu Hause, doch der Wunsch, ihren Mann in die Arme zu nehmen, wurde gerade übermächtig.

Rike blieb stehen. Sie schüttelte den Kopf, und ihre langen, blonden Haare, die sie mit fünfzig Jahren immer noch oft offen trug, flogen nur so im leichten Wind. »Hannes!« Rike sprach mit sich selbst. »Nun werden wir eine große Aufgabe bewältigen müssen.« Ihre Beine versagten in diesem Moment den Dienst, und sie setzte sich mitten in den staubigen Hof.

Rikes Blick schweifte zum Himmel, wo die vielen Greifvögel der Sierra Grazalema ihre Bahnen zogen. Sie kreisten in der Hangthermik, die mit dem späten Morgen in den Bergen stärker werden würde.

Was würde diese Erkenntnis für ihren Mann und sie bedeuten? War sie nun an der Reihe, ein Geheimnis zu tragen und im Alter weiterzugeben? Warum hatte ihr die Greisin Maria so viel erzählt? Warum ausgerechnet ihr?

Sie hörte die lang gezogenen Rufe der Vögel und dazwischen ein weit entferntes Wiehern.

 

Teil I

 

1100 vor Christus, nahe dem Olymp

(aus den Erzählungen der alten Maria)

 

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Seit Tagen regnete es in Strömen, und die Bewohner des kleinen Dörfchens Ithrakus verkrochen sich in ihren Hütten. Schon lange hatten sich die gras- und strohbedeckten Dächer der Lehmhütten mit Wasser vollgesogen, sodass die Menschen sich in den Ecken ihrer Behausungen zusammenkauerten, weil über ihnen das Wasser durch die Ritzen sickerte und zu Boden tropfte. Feuerstellen verloschen, der festgestampfte Fußboden drohte aufzuweichen, Kinder weinten und einige mutige Männer verfluchten Zeus.

Ein gewaltiger Blitz zuckte vom Himmel. Grollender Donner folgte sogleich.

Adrastea ließ ihren Krug fallen und bedeckte beide Ohren mit den Händen. »Oh, Hera!«, rief sie, während sich ihre drei kleinen Schwestern weinend unter einer dicken, golddurchwirkten Decke versteckten. Ihr Vater hatte die Decke erst letzte Woche aus Kalivia mitgebracht. Er war stets darauf bedacht, in seinem Häuschen besondere Luxusgüter zur Schau zu stellen. Immerhin war der inzwischen vierzig Jahre alte Achilleus Ortsvorsteher von Ithrakus. Man bezeichnete ihn als streng und nachtragend. Viele munkelten, er stehe in persönlichem Kontakt zu den Göttern im Olymp, und sie fürchteten deren Zorn. Adrastea erinnerte sich nur ungern an den Sommertag, als ein kleiner Junge in ihrem Garten hinter dem Haus einige Rüben aus der Erde gezogen hatte und flink wie ein Wiesel davonlief. Noch im Laufen hatte er die rohen Rüben aus Hunger in seinen Mund gestopft.

Achilleus hatte den Diebstahl entdeckt, als das Kind mit dem dreckverkrusteten Gesicht über den niedrigen Flechtzaun springen wollte und dabei stürzte. Er hatte den kleinen, mageren Körper gepackt, ihn grün und blau geprügelt und im Anschluss bis zum Rand des Dorfes zu seiner Mutter geschleift. Die Frau hatte bitter für die Verfehlung ihres Sohnes büßen müssen. An einen Olivenbaum gefesselt war sie zwei volle Tage und Nächte ohne Nahrung und Wasser, bis Achilleus ein Einsehen hatte.

Die Angst vor diesem Mann waberte über dem Dorf, und auch Adrastea fürchtete ihn.

Wieder zuckte ein Blitz hernieder. Adrastea war allein mit den Schwestern im Haus. Dank des Reichtums ihres Vaters hatte dieses ein dichtes Dach aus teuren, gebrannten Lehmziegeln, und sie musste nicht befürchten, bald wie all die anderen Bewohner von Ithrakus im Schlamm zu sitzen. Die meisten Behausungen des Dorfes waren ärmlich und einfach. Gerade Holzbalken bildeten das Gerüst der im Grundriss quadratischen Häuschen, die nur aus einem Raum bestanden. Es gab Wände aus Binsen, sorgfältig mit Lehm verputzt. Nur die reicheren Menschen hier konnten sich ein Heim aus Stein leisten. Aber alle Hütten und Häuser zierte ein kleiner Garten, den man zum Anbau von Gemüse, Blumen und Heilkräutern nutzte.

Ihre Mutter kannte Adrastea nicht gut. Sie wusste vom Vater nur, dass sie eitel war. Sie liebte Gold und Geschmeide und hatte sich lieber mit den exklusiven Dingen des Lebens beschäftigt. Deswegen vertraute sie ihrer ältesten Tochter schon früh die Pflege der Geschwister an. Sie wollte nicht in einem Dorf wie Ithrakus versauern. Kalivia war der Ort ihrer Träume. Dort, wo die reichen Händler lebten und der Wein in Strömen floss.

Irgendwann war sie ganz verschwunden. Achilleus hatte den Leuten im Dorf erzählt, sie habe die gottgleiche Helena herausgefordert. Sie wäre in ihrer Überzeugung, schöner als diese zu sein, von den Göttern bestraft und vernichtet worden.

Adrastea glaubte das nicht. Den Verdacht, ihr eigener Vater hätte die Mutter wegen ihrer Eitelkeit ermordet, hegte sie schon lange.

Die drei Mädchen wimmerten und krallten ihre schmutzigen Hände in die teure Decke.

Adrastea ging zu ihnen. »Hera wird uns schützen«, murmelte sie. »Sie wird nicht zulassen, dass Blitz und Donner des Pegasos uns vernichten.«

Eines der Kinder reckte sein Köpfchen unter der Decke hervor und fixierte das Gesicht der Schwester. »Aber Zeus ist der Gottvater«, sagte sie angsterfüllt. »Und Hera kann gegen ihn nichts ausrichten. Das erzählte uns Vater.«

Adrastea kniete sich neben ihre Schwester. »Andora, Hera ist sehr mächtig«, sagte sie und fing an, sanft über das Haar des Mädchens zu streicheln. »Sie kämpft mit den Waffen der Frau. Selbst Zeus kann sich nicht dagegen wehren.«

Ein heftiger Windstoß riss die Eingangstür des Häuschens auf, und eine Wolke aus feuchtem Schmutz fegte durch den Innenraum. Die Schwestern schrien erschrocken auf, und auch Andora versteckte sich wieder unter der Decke. Adrastea sprang auf die Füße und drückte entschlossen die Holztür zu. Danach setzte sie sich wieder zu den Kleinen. »Habt keine Angst. Hera wird dem Sturm bald ein Ende bereiten.«

Adrasteas Worte waren kaum verklungen, da ließ der Wind nach, und das Donnergrollen hörte sich an, als hätte es sich hinter dem Olymp versteckt.

Andoras Kopf erschien erneut aus dem warmen Versteck. »Hera hat Pegasos besänftigt«, flüsterte sie. »Du hattest recht, Adrastea«.

Liebevoll küsste die junge Frau ihre Schwester auf die Stirn und streichelte über die beiden anderen Kinderköpfe, die noch immer unter der Decke verborgen waren. Ihre Gedanken aber schweiften ab, und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Sie wusste es besser. Bellerophon, ihr heimlicher Geliebter, hatte ihr die Wahrheit erzählt. Pegasos, das geflügelte Pferd der Götter, war kein teuflisches Wesen, und es brachte weder Blitz noch Donner auf diese Welt. Außerdem lebte das Tier nicht allein. Vaters Geschichten waren nichts als Lügen. Er verfolgte damit nur das eine Ziel: die Dorfbewohner einzuschüchtern und auch seine Kinder.

Durch einen Schleier von Tränen blickten ihre Augen zum Fenster und in die felsige Landschaft, die Ithrakus umgab wie ein überdimensionaler Kessel aus Stein.

Eines Tages würde sie mit Bellerophon fliehen. Sie wollte weg von diesem Dorf und weg von ihrem Vater. Lange hatte sie dazu jedoch nicht mehr Zeit, denn vor einigen Tagen hatte ihr Achilleus mit einer Zwangsehe gedroht. Der Händler, der ihm die golddurchwirkte Decke verkauft hatte, hieß Dimitri. Adrastea konnte ihn nicht leiden. Er war dick, geldgierig und drehte den Leuten im Dorf viele Dinge an, die sie gar nicht benötigten. Oft schon hatte er den Mädchen Kämme aus Holz aufgeschwatzt, die angeblich mit Edelsteinen besetzt waren. Die Steine aber waren nur kleine Kristalle, wie man sie rund um Ithrakus in den Bergen leicht finden konnte. Achilleus hatte dem Händler kein Geld für die Decke gegeben. Als Bezahlung sollte seine Tochter dienen.

Gänsehaut erschien auf ihren Armen, und Ekel stieg in ihrer Kehle empor, als sie sich ausmalte, wie ein Leben an Dimitris Seite aussähe. Nein, sie musste einen Weg finden, mit Bellerophon zu fliehen. Der Jüngling, der direkt vom Olymp zu kommen schien, hatte ihr Herz erobert.

Ihrem Vater war der Bursche ein Dorn im Auge, er traute ihm nicht, weil niemand etwas über ihn wusste und er selbst nicht viel redete. Sollte dieser Mann gar mit den Göttern in direktem Kontakt stehen, würden seine Geschichten im Dorf bald auffliegen. Achilleus wollte aber keine Macht verlieren. Deswegen hatte er eines Morgens seine Tochter zum Schmied geschickt, um herauszufinden, was der göttergleiche Knabe in Ithrakus zu suchen hatte.

Als Adrastea den jungen Mann mit dem blonden, gelockten Haar vor der Dorfschmiede zum ersten Mal erblickte, war es um sie geschehen. Sein nackter Oberkörper schimmerte in der Sonne, und er lächelte sie an.

»Guten Morgen, hübsche Frau. Was für ein herrlicher Tag.« Grübchen bildeten sich rund um seinen sinnlichen Mund. »Wer bist du?«, fragte er erstaunt und musterte sie aufmerksam. »Ich habe dich hier im Dorf noch nie gesehen.«

»Ich bin Adrastea«, antwortete sie schüchtern, »die Tochter von Achilleus, dem Dorfvorsteher.« All die Fragen, die ihr Vater ihr zu stellen aufgetragen hatte, schienen in ihrem Hals stecken zu bleiben.

»Was für ein schöner Name. Was tust du beim Schmied?«

Adrasteas Wangen färbten sich rosa. Sie blickte zu Boden. »Ich, äh …« Sie stockte. »Ich kam rein zufällig vorbei, weil ich ein Stück rauf in die Berge gehen möchte. Es wird ein schöner Tag werden.«

»Wollen wir zusammen gehen und uns ins weiche Mattengras setzen? Der Morgen ist wie dafür gemacht.«

Adrastea nickte nur. Die Augen dieses Jünglings hatten sie in ihren Bann gezogen.

Während der Dorfschmied schmunzelnd weiter auf den glühenden Rohling einschlug, entfernten sich die jungen Menschen nahezu unsichtbar aus dem Dorf. Geschmeidig kletterten sie über einige Felsbrocken, um den Ort nicht auf dem Weg verlassen zu müssen.

Es war ein warmer Tag in den Bergen, aber Adrastea wusste, dass das Wetter hier schnell umschlagen konnte. Oft beobachtete sie die großen Raubvögel, die ihre Kreise über den Felsen zogen. Sie spürten, wann ein Unwetter nahte, und sie waren wunderschön mit ihren langen Flügeln, wenn sie kurz vor der Landung ihre Federn spreizten, um den Flug abzubremsen. Für Adrastea waren diese Tiere eine besondere Schöpfung der Götter.

»Sieh nur den braunen Vogel!« Sie wies mit einer Hand in den Himmel.

Der Bursche schirmte seine Augen ab, als er hochblickte. »Ich kann ihn sehen. Der Flug ist elegant.« Er blieb abrupt stehen, um das Tier zu beobachten. Dabei hob und senkte sich seine Brust in tiefen Atemzügen.

Unbekannte Gefühle stiegen in Adrastea empor.

»Er benötigt keinen Flügelschlag«, erklärte Bellerophon. Seine Augen folgten dem Vogel unbeirrt. »Sieh nur! Und trotzdem steigt er höher und höher.«

Adrastea war fasziniert von Bellerophons Schönheit und Wissen. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie. Ihr Atem ging heftig vom Aufstieg.

»Ich hatte gute Lehrmeister«, murmelte er und starrte weiter in den Himmel, während er sich in das weiche Mattengras sinken ließ.

Adrastea zögerte kurz, dann setzte auch sie sich.

Die Vögel stießen lang gezogene Rufe aus. In großen Kreisen schraubten sie sich an den sonnenwarmen Felsen immer höher hinauf in das unendliche Blau. Fast konnte man meinen, sie folgten einer geheimen Absprache. Diszipliniert zogen sie Kurve um Kurve, immer links herum, und der zu Tal gewandte Flügel steuerte den Flug mit den äußersten Federspitzen.

»Ich kann dir alles über die Natur lehren, wenn du möchtest. Komm einfach mit mir, wann immer du willst«, sagte er unvermittelt und blickte dabei in Adrasteas Augen.

Ein Vogel scherte plötzlich aus der Formation aus. Seine Rufe wurden schriller. Mit unendlicher Geschmeidigkeit legte er die Flügel an den Rumpf seines braun glänzenden Körpers und stürzte sich dann vom Himmel. Keinen Steinwurf von Adrastea und Bellerophon entfernt bremste er kurz über der Grasnarbe den rasanten Flug, stellte die gewaltigen Schwingen an und landete. Seinem triumphierenden Schrei konnte man entnehmen, dass er Beute geschlagen hatte.

»Ich befürchte, ich kann nicht oft mit dir kommen«, sagte Adrastea leise, und ihre Augen fixierten einen Punkt im Gras. »Ich habe drei kleine Geschwister. Ich kann sie nicht ständig allein lassen. Mutter hat sie mir die meiste Zeit anvertraut. Sie hielt sich nicht oft zu Hause auf, und im letzten Sommer verschwand sie für immer.« Die junge Frau blinzelte. Sie wollte nicht, dass Bellerophon ihre Tränen bemerkte, die sich langsam in den Augen bildeten. »Vater sagte, sie habe Helena verhöhnt, und die Götter hätten sie dafür bestraft.«

»Glaubst du daran?«, fragte Bellerophon leise.

Adrastea stockte einen Moment, bevor sie antwortete: »Nein! Ich habe den Verdacht, dass unser Vater Mutter ermordet und fortgebracht hat. Sie war ihm zu eitel und zu klug. Solche Frauen mag Achilleus nicht leiden.«

»Bitte weine nicht, ich werde dir helfen.« Zaghaft berührten seine Daumen ihr Gesicht und wischten die Tränen weg. Adrastea ließ ihn gewähren.

 

»Ich prügle dich, bis du nicht mehr laufen kannst!« Achilleus packte seine Tochter, als sie das Haus betrat. Während er sie zu sich heranzog, hob er den freien Arm und ballte die Hand zur Faust. Die Geschwister kauerten weinend und mit schmutzigen Gesichtern in der Ecke.

»Nicht!«, schrie Adrastea. »Bitte tu mir nichts, denk an die Kleinen. Ich will dir ja alles erzählen.« Ihre Knie fingen an zu schlottern, und das wunderschöne Gefühl in ihrem Körper, welches sich in den letzten Stunden im warmen Gras zwischen den Felsen entwickelt hatte, wurde davongetragen wie Nebel im aufkommenden Wind.

»Wehe dir, wenn du mich belügst«, knurrte Achilleus und öffnete die Faust ein wenig. Sein anderer Arm hielt Adrastea grob an sich gepresst.

»Nein, ich werde dir alles erzählen.« Sie konnte den Atem ihres Vaters riechen. Er stank nach Wein. »Bellerophon ist ein netter Mann. Er … Er eskortiert die reichen Händler von Kalivia und Kouvaras und bringt sie auf ihrer Handelsroute sicher zum Meer. Dafür will er sich hier ein neues Schwert anfertigen lassen. Der Schmied wird noch wochenlang daran arbeiten müssen. Es soll eine ganz besondere Waffe werden. Weißt du, er erzählte, Ithrakus sei weithin berühmt für seine …«

»Schweig jetzt!«, fiel ihr der Vater ins Wort. »Ich werde herausfinden, ob du mich belogen hast, und beim nächsten Vollmond werde ich dich nach Kalivia bringen. Dort wirst du Dimitri heiraten und ihm ein gutes Eheweib sein.«

»Aber …« Adrasteas Augen füllten sich erneut mit bitteren Tränen. Als sie in das drohende Gesicht ihres Vaters blickte, vergaß sie all die weiteren Worte, die sie sich ausgedacht hatte. »Ja, natürlich«, sagte sie leise, und der Schmerz in ihrem Leib brannte wie ein Höllenfeuer.

Achilleus ließ brummend von seiner Tochter ab. Die stürzte zu Boden und kroch sofort zu ihren Schwestern, die weinend ihre Händchen nach ihr ausstreckten. Sie kuschelte sich zu ihnen wie eine Katzenmutter zu ihren Jungen und streichelte die kleinen Köpfe, als Achilleus das Häuschen verließ und die Tür krachend zufiel. Adrastea vermutete, dass er sich frischen Wein von den Dorfbewohnern holen wollte.

»Nein«, flüsterte sie sich und ihren Geschwistern zu. Die aufkommende Verzweiflung drohte jeden klaren Gedanken in ihr zu ersticken. »Ich werde euch nicht verlassen, und ich finde einen Weg, damit es uns besser geht. Gleich morgen werde ich Bellerophon um Hilfe bitten.«

 

Adrastea rannte leichtfüßig die Dorfstraße hinunter. Der Schmied grüßte sie, doch sie hatte keine Augen für die anderen Menschen – nicht an diesem Morgen. Der Vater war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, und sie könnte vorgeben, Brot von den Bauern am Dorfrand für ihre Geschwister zu holen.

Bereits nach kurzer Zeit hatte sie das Örtchen hinter sich gelassen, und sie verschwand in Richtung Mattengraswiese, auf der sie gestern glücklich mit Bellerophon in der Sonne gelegen hatte.

Ihr Weg führte über die einsame Wiese, aber außer den Raubvögeln, die die nahen Felsen umkreisten, konnte Adrastea niemand entdecken. Enttäuschung machte sich breit, doch sie wollte nicht aufgeben. So marschierte sie weiter, direkt hinein in die Berge. Geröll löste sich bei jedem Schritt, und sie musste aufpassen, um nicht zu fallen. Mit ihren feinen Sandalen fand sie keinen Halt auf dem Pfad. Immer öfter suchten ihre Hände nach Steinbrocken zum Festhalten.

So weit weg vom Dorf war sie noch nie allein gewandert, deswegen gönnte sie sich einen Moment Ruhe, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und schaute in die Wolken. Die Vögel schienen mit ihr gezogen zu sein und kreisten über den weißgrauen Felsen, die nun schon viele Fuß hoch zerklüftet in den Himmel ragten. Adrastea setzte sich auf einen großen, runden Stein, der wie eine überdimensionale Kugel aus einem göttlichen Katapult am Rande des Weges lag. Sollte sie weitergehen?

In diesem Moment hörte sie das erregte Kreischen der Vögel, und ein großer, schwarzer Schatten schob sich für ein Augenzwinkern vor die Sonne. Ihr war, als streifte ein kalter Lufthauch ihre erhitzten Wangen, obwohl es fast windstill war. Adrastea fröstelte und rieb sich die Schultern. Erwartete sie eine göttliche Strafe?

Die Vögel waren verschwunden, als der Schatten ein zweites Mal das Sonnenlicht verdeckte, und ihr war, als rufe jemand ihren Namen – ganz leise, ganz weit weg.

Schnell war sie auf den Beinen und stieg weiter bergan. Sie achtete nicht auf die spitzen Steinchen, die sich immer mehr durch die Ledersohlen ihrer Sandalen bohrten. Mit festem Tritt hangelte sie sich empor.

Einige Fuß voraus versperrte ein mächtiger Felsbrocken den Weg und die Sicht nach oben. Kopfschüttelnd ging sie weiter. Immer noch verbargen sich die Raubvögel vor ihren Blicken, und die Stille in den Bergen legte sich wie ein Schleier um die junge Frau. Kurz bevor sie das steinerne Hindernis erreichte, entdeckte sie einen schmalen Durchstieg, den ein Hund problemlos durchkrochen hätte, aber Adrastea würde wohl nicht hindurchpassen. Dennoch ging sie in die Hocke und spähte hinein. Der Weg schien hinter dem gewaltigen Brocken weiterzuführen und wieder in eine Wiese zu münden. Vorsichtig streckte sie ihre Arme in den Spalt. Was würde passieren, wenn sie darin stecken blieb? Sie zögerte, dann vernahm sie erneut dieses Wispern. »Adrastea!« Sie konnte es deutlich hören. Irgendjemand rief sie tatsächlich beim Namen.

Langsam zwängte sie sich in das Loch und zog sich tiefer hinein. Fingerbreit um Fingerbreit ging es voran. Immer wieder verlor sie den Halt auf dem steinigen Boden. Doch dann ragte ihr Kopf aus dem Durchbruch, und sie erblickte eine weitere Mattengraswiese vor sich, sonnenbeschienen und einladend. Adrastea nahm ihre letzte Kraft zusammen und stemmte sich mit Händen und Füßen nach vorn. Schmerzhaft presste sich der kalte Stein an ihren Körper, und plötzlich blieben ihre zierlichen Schultern in diesem felsigen Gefängnis stecken. Adrastea konnte sich nicht mehr bewegen. Panik kroch in ihr hoch. Die nackte Angst griff nach ihrem Verstand, und sie fing an zu schreien.

In diesem Moment fegte der schwarze Schatten ein weiteres Mal über sie hinweg. Sie konnte deutlich den Luftzug auf ihrem Gesicht wahrnehmen. Wenige Augenblicke später spürte sie starke Arme, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Zwei Hände lösten kleine Gesteinsbrocken und nestelten an ihren Schultern. Geschickt manövrierten sie den mageren Körper tiefer, wo der steinerne Durchlass etwas breiter wurde.

Nach einer gefühlten Ewigkeit lag Adrastea im warmen Mattengras und konnte ihrem Retter in die Augen sehen. Sie ließ ihren Freudentränen freien Lauf, als sie Bellerophon erblickte. Er sprach nicht, wiegte sie nur in seinen Armen und küsste ihr die Tränen weg. So lagen die beiden da, bis die Sonne auf ihrem täglichen Rundweg bereits einen der hoch aufgerichteten Felsen Richtung Westen passiert hatte.

»Wie konntest du durch den Stein gelangen, Bellerophon? Gerade mal ein Hund passt problemlos hindurch.« Ihre Augen schauten ihn fragend an.

Bellerophon lächelte, und für Adrastea war es das vollkommenste Lächeln, welches sie je gesehen hatte.

»Ich bin nicht hindurchgekrochen«, murmelte er. »Und jetzt möchte ich wissen, was mit dir los ist. Ich kann deinen Kummer regelrecht spüren.«

Adrastea berichtete Bellerophon von ihrem Vater, von ihren Geschwistern, von ihrer Angst. Sie endete mit der Drohung des Vaters, Dimitri nach dem nächsten Vollmond heiraten zu müssen.

Sanft hielt er sie umschlungen, aber er schwieg und ließ ihr Zeit.

Die Sonne passierte den zweiten Felsen, und die Schatten wurden länger, als Bellerophon Adrasteas Gesicht zu sich drehte und sie küsste. »Ich werde dich nun zurückbegleiten bis an den Rand des Dorfes. Vorher vertraue ich dir aber mein Geheimnis an.«

Er blickte mit zusammengekniffenen Augen über die weite Wiese, und seinem Mund entwich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich fast an wie der Ruf eines Raubvogels. Nur einen Wimpernschlag später erschien ein prächtiges Pferd, welches sich hinter den nördlichen Felsen verborgen hatte.

Adrasteas Augen wurden riesig. »Bei Hera!«, rief sie aus. »Das ist Pegasos! Er wird uns vernichten!« Ihr zarter Körper schnellte wie eine Bogensehne nach oben. Sie wollte weglaufen, aber Bellerophon hielt sie entschlossen zurück.

»Hab keine Angst, Adrastea. Er wird uns nichts tun. Er ist das sanfteste Geschöpf im Reich der Lebenden.«

Wie auf ein geheimes Zeichen hin breitete das herrliche, rabenschwarze Pferd die Schwingen aus, und das Rauschen der sich aufspannenden Flughäute tönte über die Wiese. Zweimal strichen seine Flügel durch die Sommerluft, dann legte Pegasos sie wieder an den Körper und kam Schritt für Schritt näher. Kurz vor den verliebten jungen Menschen stoppte er und senkte seinen Kopf.

Bellerophon streckte eine Hand aus und berührte das Pferd. »Man darf ihn nicht im Gesicht streicheln, Adrastea, siehst du?« Er lächelte liebevoll. »Diesen Geschöpfen begegnet man mit Würde und Ehrfurcht. Deswegen lege ich nur meine Hand an seine Stirn und lass ihn spüren, dass alles gut ist. Er ist sehr feinfühlig.«

Adrastea beobachtete die Szene mit klopfendem Herzen. Bisher hatte sie nur Schlimmes über Pegasos gehört. Er soll der Sohn Poseidons sein, aber seine Mutter wäre keine Geringere als Medusa. So hatte es ihr der Vater erzählt. »Bellerophon, du sprachst von diesen Geschöpfen? Es gibt doch nur den einen Pegasos.«

»Nein, mein Herz und meine Liebe, es gibt Abertausende dieser herrlichen Tiere hier auf unserer Welt.«

Adrasteas Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Das … Das kann ich gar nicht glauben. Wie kann es sein, dass Pegasos sich so zahm bei dir verhält?«

»Ich bin sein Reiter, Adrastea. Er vertraut mir.«

 

 

2013, Sierra Grazalema

 

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Das Seil aus Pferdehaaren, auch Mecate genannt, hing locker durch. Befestigt am Nasenstück, dem Bosal, bildete es eine Zäumung, die im alten Kalifornien von den Cowboys zum Zureiten ihrer Rinderpferde benutzt wurde. Rike wusste, wie man damit umging. Seit sie hier in Südspanien zusammen mit ihrem Mann Hannes ihre Zelte aufgeschlagen hatte, ritt sie ihren Hengst Taris Colonel nur noch mit dieser gebisslosen Zäumung. Es gab ihr eine Art Selbstbestätigung, im Alter von fünfzig Jahren noch so viel Reitkunst bewahrt zu haben.

Rikes Gedanken schweiften immer wieder in die Vergangenheit, während der braune Hengst entspannt, aber aufmerksam die wenig befahrene Straße entlangschritt.

Wie viele Jahre war es jetzt her? Rike hatte in den Neunzigerjahren etliche Titel in einer Dressurdisziplin im Westernreiten errungen. Sogar Europameisterin durfte sie sich damals nennen. Da war sie noch jung und voller Träume gewesen. Inzwischen hatte das Leben einige ihrer Höhenflüge zur Landung gezwungen. Von ihrer einst glänzenden Karriere war nicht viel geblieben, außer den beiden alten Pferden, die sie gegen den Willen ihres Ehemannes mit nach Spanien genommen hatte. Vor einem Jahr noch hatte sie als leitende Angestellte am Nürnberger Flughafen gearbeitet, heute war sie arbeitslos. Die Firma hatte ihr aus betriebsbedingten Gründen gekündigt. Kurz nach der Entlassung war Rike in eine tiefe Depression verfallen, und nicht einmal Hannes, mit dem sie seit mehr als fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, konnte ihr helfen.

Dann hatte Hannes mit Beginn seines Rentendaseins beschlossen, in das Land seiner Träume umzusiedeln. Ziemlich überhastet kauften die beiden eine kleine Finca am Rande der Sierra Grazalema und damit auch eine Menge Arbeit, Sorgen und Probleme. Ihr Ehemann sah dies alles nicht so eng. Außerdem scherte er sich wenig um die Meinung der anderen.

Rike ließ Colonel antraben. Leicht neigte sie ihren schlanken Oberkörper nach vorn, und augenblicklich erhöhte der Hengst das Tempo. Eine gute Reiterin war sie schon immer gewesen. Alle Dinge, die sie als erfolgreiche Westernreiterin erlernt hatte, konnte sie zudem noch im Sattel umsetzen. Bei all den Sorgen rund um die Finca und ihre Ehe, gab ihr das Reiten einfach Kraft und Zuversicht.

Beim Umzug nach Spanien hatte sie die rosarote Brille getragen. Nun wäre Zeit für Gemeinsamkeit, für die Pferde und vor allen Dingen für ihre Ehe, die in Deutschland durch zahlreiche Belastungen immer wieder einer harten Prüfung unterzogen war. Doch schon bald hatten Hannes und Rike bemerkt, dass in Spanien das Leben anders verlaufen sollte, als sie es sich erträumt hatten. Die Finca war baufällig und so weit vom Schuss, dass das Einkaufen von Lebensmitteln einem Tagesausflug glich. Außerdem waren die Spanier den Einwanderern gegenüber misstrauisch. Rike hatte oft gekämpft, um Futter für ihre Pferde in der kargen Gegend aufzutreiben. Dies alles hatte zur Folge, dass Hannes sich immer mehr zurückzog. Es gäbe genug Arbeit auf dem Hof, aber er zog es vor, viele Tage in Villamartin auf dem kleinen Sportflugplatz zu verbringen. Dort stand sein geliebtes Ultraleichtflugzeug, welches er allein von Nürnberg nach Südspanien überführt hatte. Zwei Tage war er unterwegs gewesen, hatte Wind und Wetter getrotzt und mit vier Tankstopps schließlich den sonnigen Süden erreicht. Hannes war bereits fünfundfünfzig Jahre alt und hatte seine Karriere als Berufspilot bei der Bundeswehr im vergangenen Jahr beendet. Die Fliegerei war sein Leben, und Rike war bald bewusst geworden, dass er ohne das luftige Hobby schnell den Boden unter den Füßen verlieren würde. Aus Angst, auch Hannes könnte in eine Depression verfallen, ließ sie ihn gewähren. Trotz der angespannten finanziellen Lage gönnte sich das Ehepaar also zwei Pferde und ein eigenes Flugzeug.

Während Rikes Hengst gemächlich den Seitenstreifen der maroden Straße entlangtrabte, schob sich die Sonne mehr und mehr in den Westen. Rike spürte die Sonnenstrahlen auf dem Rücken ihrer wetterfesten Windjacke. Sie hatte auf ihren Wanderritten immer ausreichend Kleidung dabei. Selbst in der Wärme Andalusiens waren eine leichte, wind- und regenfeste Jacke und eine Sonnenkappe unverzichtbar. Hinter ihrem Sattel hatte sie eine Fleecedecke aufgerollt. Sollte Taris Colonel stark schwitzen, konnte sie ihm diese auflegen.

Die Straße schien in sanften Kurven noch kilometerweit nach Osten zu führen. Rike setzte sich etwas tiefer in den schweren Westernsattel, und ihre Füße gaben Druck auf die breiten Bügel ab. Der Hengst fiel sofort in den Schritt. Die Position ihrer Zügelhände hatte sie dabei nicht verändert. »Noch immer funktioniert die Bremse«, sagte sie schmunzelnd zu sich selbst und blickte sich um.

Die Straße führte sie weiter und weiter durch die hügelige Landschaft. Zu weit für ihren Geschmack. »Colonel, was meinst du?«, fragte sie leise. »Sollte die Straße hier im Tal nicht schon lange wieder nach Norden abzweigen?«

Rike wusste, dass die Geschichten über Huftiere, die die menschliche Sprache verstanden, nichts als Fabeln waren. Ein Pferd reagierte auf die feinen Hilfen seines Reiters wie Gewicht, Schenkel- und Zügelhilfen, jedoch nicht auf Worte. Natürlich kann es die Stimme eines Menschen erkennen, aber nur Tonfall und Klang eines Wortes sind ausschlaggebend, niemals ganze Sätze oder gar Geschichten.

»Hooooo!«

Colonel hielt an, senkte den Kopf und schnaubte entspannt.

Rike ließ die Zügel los und holte eine Wanderkarte aus ihrer Windjacke. Umständlich entblätterte sie das abgegriffene Papier und studierte es aufmerksam. »Mist!«, rief sie, und Colonels Ohren wanderten nach hinten. »Ich glaube, wir haben die Abzweigung verpasst.« Der Zeigefinger ihrer rechten Hand huschte über die Karte und folgte dem ostwärts führenden, engen Weg. »Noch zwei Kilometer, dann müsste eine andere Straße nach Norden abzweigen«, murmelte sie konzentriert. »Wir kommen dann am Ostufer des Stausees raus.« Sie faltete die Karte wieder zusammen und steckte sie in die Jacke zurück. Dann nahm sie die Zügel auf, verlagerte leicht das Gewicht nach vorn und ihr rechter Schenkel wanderte hinter den Sattelgurt. »Nun müssen wir ein wenig Tempo machen, mein Alter!«

Colonel galoppierte an und fiel in einen weichen Linksgalopp.

Rike hatte gut geschätzt. Nach rund zweitausend Metern mündete die schmale Straße in eine breitere, die in einem lang gezogenen Linksbogen um die Ausläufer des Rio Guadalete herumführte, der den Embalse de Zahara, einen großen Stausee, speiste. Zu dieser Jahreszeit führte der Fluss kaum Wasser. Im Frühjahr gab es hier öfter Überschwemmungen, und die Arroyos, die Gräben, die aus den Bergen zu Tal führten, füllten sich rapide.

Rike ritt im Schritt weiter, und Colonels Hufeisen klackerten auf der geteerten Straße. Hier konnte sie keinen Seitenstreifen mehr benutzen. Am Ende der Kurve ließ die blonde Reiterin ihren Hengst auf einen Feldweg abbiegen, der sich bergab in nördliche Richtung schlängelte. Ihr Zopf wippte hin und her, als das Pferd seinen Schritt verlangsamte, um auf dem Weg nicht zu stolpern. Inzwischen war Rike davon überzeugt, einen langen Umweg zu reiten. Der Weg führte direkt hinunter an das Seeufer des Embalse de Zahara.

Nach einigen Minuten erreichten Pferd und Reiterin das Wasser. Ein schmaler Trampelpfad zweigte vom See her nach oben ab. Rings um sie herum behinderten immer wieder Stacheldrahtzäune mit Schildern, auf denen »Privates Jagdgebiet« stand, den Zugang zu breiteren Wegen.

Sie stöhnte, ließ Colonel anhalten und stieg aus dem Sattel. Nach einigen Kniebeugen streckte Rike ihren Rücken durch, dann machte sie sich daran, den kaum sichtbaren Weg nach oben zu steigen. Ihren braunen Hengst ließ sie am losen Zügel hinter sich herlaufen. In solchen Situationen war sie sehr froh, ein so diszipliniertes Pferd wie Taris Colonel zu besitzen.

Der Pfad zog sich in die Länge, und die Frau blickte immer wieder nach Westen über den See. Die Sonne leuchtete bereits in einem feuergleichen Orange, und sie wusste, wie schnell im Oktober die Nacht über den Bergen hereinbrechen würde.

Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichten sie eine Anhöhe, von der aus Rike weit über den Embalse de Zahara blicken konnte. Eines wurde ihr nun klar: Vor Einbruch der Dunkelheit würde sie die Finca mit Colonel nicht mehr erreichen. Sie drehte sich langsam im Kreis, genoss den Abendwind in ihren Haaren und betrachtete die Gegend. Herrlich ist es an diesem Ort, dachte sie. Da kann man die Sorgen wenigstens stundenweise vergessen. Es ist so still hier oben, nicht einmal die Autos von der nahe gelegenen Landstraße sind zu hören.

Da hob Colonel die Nüstern in den Wind, als habe er eine Stute gewittert. Deutlich konnte Rike die feuerrote Innenseite seiner Nasenlöcher erkennen.

»Na, alter Freund, was hast du erschnuppert?«, fragte sie belustigt ihr Reittier. Colonel aber wieherte nicht, er versteifte den Körper. Seine ansonsten sanften Augen fixierten einen Punkt am Abendhimmel. »Was hast du denn?«

In diesem Moment stieg Colonel auf die Hinterbeine und versuchte, seinen Körper dabei zu drehen. Der durchhängende Zügel straffte sich, und Rike wurde fast umgerissen. Geistesgegenwärtig ergriff sie auch mit der anderen Hand das Führseil und riss Colonels Kopf zu sich herum.

»He!«, entfuhr es ihr schrill. »Was soll das?« Mit diesen Worten schickte sie ihren Hengst streng einige Schritte rückwärts. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, das Pferd in einer Angstsituation zu streicheln. Colonel hätte es nur als Zustimmung empfunden, wirklich in einer gefährlichen Situation zu stecken.

Schnell hatte sie ihn wieder auf sich fixiert, konnte aber sehen, dass sich die Muskeln an seinen Hinterbeinen immer noch in Aufruhr befanden. Irgendetwas empfand der Hengst hier an diesem Ort als höchst merkwürdig.

Richtung Norden führte der Pfad den Berg hinunter, und Rike erkannte dort eine Art Einödhof. Einladend sah das Gehöft zwar nicht aus, aber sie erblickte einen alten Pick-up Truck, der im Hof stand. Sicher war dort jemand zu Hause, und sie konnte um Hilfe bitten.

Mit den Händen fuhr sie prüfend über Colonels Kruppe. Das Pferd wirkte angespannt. Dennoch setzte sie den linken Fuß in den Steigbügel und schwang sich wieder in den Sattel. Langsam ritt sie den steinigen Pfad weiter nach Norden.

 

Maria Isabel und ihr Lebensgefährte José saßen an dem alten Holztisch und putzten Gemüse für das Abendessen. In der Wohnstube brannte ein Feuer im Kamin, und man konnte den Eindruck gewinnen, hier sei die Zeit stehen geblieben. Die Möbel des Raums, der aus Küche und Wohnzimmer bestand, schienen mindestens hundert Jahre alt zu sein. Das dunkle Holz bildete einen Kontrast zu dem rostroten Steinfußboden, der mit großen, orientalischen Teppichen im traditionellen Muster belegt war.

»Hörst du das?«, fragte Maria ihren José, der schweigend Mohrrüben schabte und nicht von seiner Arbeit aufsah. »José!«, hakte sie nach. »Da kommt doch jemand.« Marias Gehörsinn war fantastisch, aber sie konnte schon lange nichts mehr sehen. Ihre Augen wurden durch ihren etwas jüngeren Lebensgefährten ersetzt. Sie störte sich nicht sonderlich daran, denn inzwischen hatte sie ihren neunundneunzigsten Geburtstag mehr oder weniger gesund gefeiert. José Francisco Martinez war erst zweiundachtzig Jahre alt. Für Maria also ein junger Mann, der ihr hier in den Bergen eine Existenz bieten konnte. Ohne ihn, das wusste die blinde Greisin, wäre sie in dieser Einöde auf dem kleinen Hof aufgeschmissen. Durch José gelang den alten Menschen ein nahezu autarkes Leben. Sie hielten Ziegen, und sie ernteten eine Menge Gemüse, welches hier in diesem Klima fast rund um das Jahr wuchs. Einmal in der Woche fuhr José mit seinem Pick-up in den nahe gelegenen Ort El Gastor, um einzukaufen. Die Senioren waren genügsam, manchmal etwas einsam, aber im Großen und Ganzen sehr zufrieden mit ihrem Leben in ihrem Häuschen am See.

José legte sein Gemüsemesser zur Seite und stand umständlich auf. »Ich sehe mal nach. Hoffentlich hast du nicht wieder Gespenster gehört, Maria!«

»Gespenster … pah! Du hast ja keine Ahnung, da kommt jemand«, brummte die Greisin, und ihre blinden Augen verfolgten perfekt die Bewegungen des Lebensgefährten, der gerade das Zimmer verließ.

 

Rike hatte das Gefühl, auf einem Pulverfass zu reiten. Ihr Pferd war zwar gut zu manövrieren, aber entspannt laufen konnte es seit dem eigenartigen Scheuen auf der Anhöhe nicht mehr. Auch jetzt trug es den Hals deutlich höher, als es seiner natürlichen Körperhaltung als Quarter Horse entsprach. Sie nahm vorsichtig beide Zügel etwas kürzer und forderte den Hengst auf, im Genick nachzugeben. Colonel tat das auch, aber seine Muskeln blieben in Alarmbereitschaft, und der Atem ging beschleunigt.

An den Einödhof grenzte ein Gatter, und Rike konnte einen Schuppen erkennen. Das Haupthaus war weiß gekalkt und mit Tonziegeln gedeckt. An den relativ kleinen Fenstern hingen noch rot blühende Geranien in bunten Töpfen. Gemüsebeete schmiegten sich direkt an die Hausmauer. Sie stieg ab und führte Colonel die letzten Meter.

»Was wollen Sie hier?«, fragte der alte Mann, der sich mit verschränkten Armen vor der Haustür postiert hatte.

Die blonde Reiterin zauberte ein entwaffnendes Lächeln auf ihr Gesicht und kam näher. »Mein Spanisch ist gerade einmal ausreichend, tut mir leid. Ich bin Rike, und dies hier ist mein Pferd Colonel. Ich glaube, wir haben uns verirrt.«

»Ich kann Sie schon verstehen«, knurrte José und schob sich seine speckige Kappe aus der Stirn. »Wo wollen Sie hin?«

»Eigentlich nach Gaidovar«, antwortete sie hastig. »Ich wollte westlich des Sees nach Norden reiten und am Rand der Grazalema wieder nach Hause. Wir wohnen dort in der Nähe auf einer alten Finca.«

»Nach Gaidovar geht es hier aber nicht, meine Dame. Und mit diesem …« Er verzog das Gesicht verächtlich. »… Pferd schaffen Sie das heute auch auf gar keinen Fall mehr.«

Rike atmete tief ein. Sie hatte sich getäuscht, hier sah es nicht nach Gastfreundschaft aus. »Kein Problem«, sagte sie freundlich, drehte sich um und wollte gerade den Fuß in den Steigbügel setzen, als aus dem Haus die zittrige Stimme einer älteren Frau drang.

»José, ich möchte wissen, wer angekommen ist.«

Der Mann machte einen Schritt auf Colonel zu. »Warten Sie. Sie können nicht mehr wegreiten. In einigen Minuten wird es hier am See stockdunkel sein.«

»José!« Wieder ertönte die Stimme der Frau von drinnen.

Rike hielt inne.

Der Alte musterte sie von Kopf bis Fuß und betrachtete besonders kritisch die Bosal Zäumung, mit der sie hier in den Bergen ritt. »Bringen Sie den Klepper hier hinters Gatter, das sollte genügen«, brummte er. »Sie können absatteln und das Pferd eindecken, es wird kalt hier draußen. Dann kommen Sie einfach rein.« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und schlurfte ins Haus zurück.

Einen Moment zögerte Rike, dann zuckte sie mit den Achseln und führte Colonel in das umzäunte Gehege, welches von Ziegenkot bedeckt war.

 

»Warum sagst du mir nicht, wer da draußen ist, du alter, sturer Bock?« Marias knorrige Finger umfassten eine zur Hälfte geschälte Kartoffel, die sie zielsicher, trotz Blindheit, nach ihrem Lebensgefährten schleuderte. Die Kartoffel verfehlte nur knapp sein linkes Ohr und prallte mit einem dumpfen Geräusch an die Wand. Sie konnte genau wahrnehmen, wie die Knolle danach auf dem Boden davonkullerte.

»Alte Hexe, du wirst wohl so viel Geduld haben und warten, bis ein Greis wieder auf seinem Stuhl sitzt.« Die Kartoffel, die ihn beinahe am Kopf getroffen hätte, ignorierte er. »Da ist eine Ausländerin angekommen mit einem Pferd.«

»Ein Pferd?«, fragte Maria, und ihre blinden Augen strahlten plötzlich.

»Ja, ein betagter Klepper. Ich schätze, sie ist Deutsche, wahrscheinlich Touristin, und sie hat sich verirrt. Sie wollte rüber nach Gaidovar. Dort haben sie vermutlich ein Ferienhaus gemietet.« Nachdenklich kratzte er sich mit seinen schmutzigen Fingern am Kopf, nahm das Messer wieder auf und begann erneut, die Mohrrüben zu schaben.

»Das glaube ich nicht. Wer soll ihr in Gaidovar denn ein Pferd überlassen? José, sie soll heute Nacht bei uns bleiben. Sie kann mit uns essen.« Maria nahm eine weitere Kartoffel aus der alten Schüssel, die vor ihr stand. »Und vielleicht kannst du mich nach dem Abendessen nach draußen bringen. Ich möchte den Klepper berühren.«

 

Rike sattelte ihr Pferd ab und legte ihm die Abschwitzdecke über den Rücken. Zumindest ihr Reittier sollte die Nacht hier verbringen. Sie wollte ihren Mann anrufen. Er sollte sie mit dem Auto abholen.

Der Hengst verhielt sich an diesem Abend völlig ungewohnt. Er schnupperte erst am Boden, dann wieder hob er den Kopf, als habe er Artgenossen gewittert. Schließlich fing er an, mit dem rechten Vorderhuf zu scharren.

»Lass das!«, schnauzte Rike das Pferd an und schickte es erneut einige Schritte zurück. »So ein Theater hat mir gerade noch gefehlt.« Sie packte den Sattel, legte ihn vor der Scheune ab und bedeckte diesen mit der Satteldecke zum Schutz für die Nacht. Die Bosal Zäumung hängte sie ans Sattelhorn. Dann putzte sie sich die Hände an ihren Jeans ab und betrat angespannt das Haus.

Das Gebäude hatte keinen Flur. Rike stand sofort im Wohnzimmer. Ein Feuer prasselte im Kamin, und ihre Augen erfassten eine Szene wie aus dem vergangenen Jahrhundert. Da saßen zwei alte Menschen am Tisch und schabten Gemüse. Die Behälter, die sie benutzten, waren beschädigt, und hässliche, schwarze Flecken zeigten sich im Weiß der Schüsseln. Dennoch herrschte in dem Wohnzimmer, welches gleichzeitig die Küche und das Esszimmer beherbergte, eine gemütliche Atmosphäre.

»Setzen Sie sich einfach zu uns«, sagte Maria und schaute der Frau exakt ins Gesicht.

Erst auf den zweiten Blick erkannte Rike, dass die Augen der Greisin leer waren und quasi durch sie hindurchstarrten.

José nickte nur und wies mit seinem Messer auf einen Stuhl am Tisch. »Heute gibt es nur Gemüseeintopf«, brummte er mit tiefer Stimme. »Aber es wird der beste spanische Gemüseeintopf sein, den Sie je gegessen haben.«

Rike setzte sich und nestelte nervös an ihrem Zopf. Irgendwie fühlte sie sich fehl am Platz.

»Lassen Sie doch Ihre Haare in Ruhe. Erzählen Sie mir lieber von Ihrem Pferd.« Die alte Frau hielt ihre Augen auf Rike gerichtet, während sie behände Kartoffel um Kartoffel schälte.

»Ich, äh … Ich habe einen Ausritt gemacht, mich verirrt und nun habe ich mein Pferd in ihr Ziegengatter gestellt.«

»Das ist gut so«, sagte José. »Dort kann es bis morgen gern bleiben.« Er nahm die Schüssel mit den geschälten Mohrrüben vom Tisch und trug sie zum Herd. »Übrigens«, setzte er fort, »meine alte Hexe hier ist stockblind. Dennoch kann sie alles sehen.« Er lachte laut und kehlig.

»Oh …«, stammelte die blonde Reiterin. »Das tut mir leid.«

»Ihnen muss das nicht leidtun, ich bin schon sehr lange blind. … Was haben Sie für ein Pferd?«

»Ich habe ein amerikanisches Quarter Horse. Kennen Sie diese Rasse?«

Die Seniorin schüttelte ihre grauen Haare aus dem Gesicht und lächelte. Für ihr hohes Alter hatte sie erstaunlich viele Zähne im Mund. »Das kann nur eines dieser Modepferde sein, die aus den alten Rassen hervorgegangen sind.«

»Wie meinen Sie das?« Rikes Interesse war geweckt. Anscheinend hatte die Greisin Ahnung von Pferden.

»Für mich gibt es nur die Rasse PRE, die Pura Raza Español. Sie haben das Blut, welches ein Pferd benötigt, um sich wie ein Pferd zu bewegen. Von all den Mezclas, den Mischlingen, halte ich nicht viel.« Marias Stimme hatte einen leicht sarkastischen Ton angenommen.

Aus der Ecke, in der eine aus bunt zusammengewürfelten Möbelstücken aufgebaute Küche stand, stieg langsam ein köstlicher Duft empor. Der alte Mann fing an zu kochen.

»Soll ich Ihnen irgendetwas helfen?«, fragte Rike vorsichtig, aber José antwortete nicht.

Die blinde Frau erhob wieder ihre Stimme. »Wissen Sie, ein Pferd muss den Hals hoch tragen, würdevoll gehen. Dafür braucht es eine ganz bestimmte Schulterform. Ein gutes Pferd wird tanzen, nicht traben.«

»Mein Colonel trägt den Hals eher tief, das ist rassebedingt«, erwiderte die Deutsche. »Ich reite Western.«

Josés kehliges Lachen ertönte erneut, während er am Herd klein gehackte, frische Kräuter in den Eintopf warf. »Vaquero! Como Bonanza!«

Maria schwenkte ihren Arm in die Luft, um ihm zu signalisieren, dass er still sein sollte. Sie hatte damit Erfolg.

»Wir haben noch viel zu bereden, mein liebes Kind. Später möchte ich auch Ihr Pferd anschauen.« Die Greisin hob ihre knochigen, blau geäderten Hände und drehte sie hin und her.

Rike verstand sofort, die alte Frau würde mit ihren Händen sehen.

 

Das Essen schmeckte köstlich. Rike konnte sich nicht zurückerinnern, jemals ein Gericht dieser Güte, ohne einen Brocken Fleisch, gegessen zu haben. »Grandios, der Eintopf«, nuschelte sie mit noch vollem Mund, nahm einen Schluck Wasser aus dem großen Glas, welches vor ihr auf dem Tisch stand, dann zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. »Gottlob habe ich hier Empfang. Ich werde schnell meinen Mann anrufen, er hat ein Navigationsgerät und findet mich hier bestimmt. Dann kann er mich mit dem Auto abholen.«

Schweigsam löffelten die beiden Alten den Cocido, einen Eintopf aus Kartoffeln, Mohrrüben, Zucchini, Zwiebeln und vielen Kräutern, der hier in den Bergen von der Landbevölkerung gern gegessen wurde, während Rike das Handy an ihr Ohr presste.

Es klingelte lange, bis sich schließlich die Mobilbox ihres Ehemannes meldete: »Hallo, hier spricht Hannes Bauer! Wahrscheinlich bin ich gerade in der Luft, deswegen hinterlassen Sie Ihre Nachricht besser am Boden, vielen Dank!«

Rike wollte schon auflegen, aber eine innere Eingebung sagte ihr, die Mobilbox lieber gleich zu besprechen. »Hannes, hier spricht Rike! Ich bin am Ostufer des Stausees bei zwei ganz netten Menschen gestrandet. Leider kann ich nicht mehr nach Hause reiten. Ich lasse das Pferd hier. Von der A 374 Richtung Ronda führt ein Feldweg rechts runter. Das müsste auf der Höhe der Ausfahrt nach El Gastor liegen. Bis gleich … Liebe dich!«, säuselte sie und legte auf.

In diesem Moment hörte man Colonel draußen wiehern. Immer wieder schickte er schrille Rufe in die Stille.

»Was ist das denn?« Rike stand auf. »Verzeihen Sie, aber ich schaue mal nach dem Pferd. Es verhält sich heute wirklich eigenartig.«

Auch die Greisin erhob sich. »Ich werde mitkommen, ich möchte das Tier berühren.«