Hans Fallada

 

Wolf unter Wölfe

2. Band

 

 

Impressum

Covergestaltung: Olga Repp

Digitalisierung und Druckvorbereitung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

Mail: brokatbook@aol.com

Gunter Pirntke, Altenberger Str. 47

01277 Dresden, Ruf: +49 (0)15901959485

2018

 

ELFTES KAPITEL: Es kommen des Teufels Husaren

 

1 Der Rittmeister schreit wegen eines Briefes

 

»Es ist eine Unverschämtheit!« schrie der Rittmeister.

»Ich wußte ja, du würdest dich aufregen«, sprach sanft Frau von Prackwitz.

»Ich lasse mir das nicht gefallen!« schrie der Rittmeister noch stärker.

»Es war bloße Fürsorge«, beruhigte Frau von Prackwitz. »Wo ist der Brief? Ich will meinen Brief haben! Es ist mein Brief!« brüllte der Rittmeister.

»Die Sache ist sicher längst erledigt«, vermutete Frau von Prackwitz.

»Ein drei Wochen alter Brief an mich – und ich bekomme ihn nicht zu sehen! Wer ist hier der Herr?!« donnerte der Rittmeister.

»Du!« sagte die Frau.

»Jawohl – und das werde ich ihm beweisen!« schrie der Rittmeister, aber schwächer, denn lauter konnte er nicht mehr schreien. Er lief zur Tür. »Der bildet sich ja Sachen ein –!«

»Du vergißt deinen Brief«, erinnerte die Frau.

»Welchen Brief –?« Der Rittmeister stand wie angedonnert. Außer dem einen Brief konnte er an keinen andern mehr denken.

»Den dort – aus Berlin.«

»Ach so!« Der Rittmeister stopfte ihn in die Tasche. Er sah seine Frau düster drohend an und sagte: »Daß du mir nicht mit dem Kerl telefonierst!«

»I wo! Rege dich bloß nicht so auf. Die Leute müssen jeden Augenblick kommen.«

»Die Leute können mir – – –«

Als wirklich gebildeter Mann sagte der Rittmeister es erst außerhalb des Zimmers seiner Frau, was die Leute ihm könnten. Die gnädige Frau lächelte. Gleich darauf sah sie ihren Gatten, die mageren, langen Glieder mächtig bewegt, barhaupt, den Weg zum Gut entlangstürmen.

Frau von Prackwitz trat zum Telefon, sie drehte die Kurbel, sie fragte: »Sind Sie das, Herr Pagel? Können Sie mir mal rasch Herrn von Studmann geben? Danke schön! – Herr von Studmann? Mein Mann ist im Ansturm. Er ist sauwütend, daß wir ihm den Brief wegen des elektrischen Stroms unterschlagen haben. Lassen Sie ihn sich bitte ein bißchen ausbrüllen. Das Schlimmste hat er schon bei mir abgeladen. – Ja, natürlich, danke schön. – O nein, mir macht es schon lange nichts mehr. Also im voraus meinen besten Dank.«

Sie legte den Hörer wieder auf, sie fragte: »Du wünschest, Weio?«

»Darf ich eine halbe Stunde spazierengehen?«

Frau von Prackwitz sah auf ihre Uhr. »Du kannst in zehn Minuten mit mir zum Schloß gehen. Ich muß sehen, ob es mit der Kocherei für die Leute klappt.«

»Ach, immer nur zum Schloß, Mama! Ich wäre so gerne mal wieder in den Wald gegangen. Darf ich nicht in den Wald? Und schwimmen –? Ich bin seit vier Wochen nicht zum Schwimmen gekommen!«

»Du weißt, Violet …« Trockenster Ton – gegen das eigene Herz.

»Oh, du quälst mich so! Du quälst mich so, Mama! Ich halte es nicht mehr aus! Dann hättest du mir früher nicht soviel Freiheit lassen sollen, wenn du mich jetzt so an die Kette legen willst! Wie eine Gefangene! Aber ich halte es nicht mehr aus! Ich werde verrückt in meinem Zimmer! Manchmal träume ich, alle Wände fallen auf mich. Und dann sehe ich die Gardinenschnur an und überlege, ob sie hält. Und dann möchte ich zum Fenster hinausspringen. Und in die Scheiben möchte ich schlagen, ich möchte sehen, wie mein Blut läuft, damit ich doch spüre, daß ich lebe … Ihr seid mir alle wie Gespenster, und ich bin mir auch wie ein Gespenst, als lebten wir gar nicht richtig – aber ich will nicht mehr. Ich tue etwas, es ist mir egal, was ich tue, es kommt mir nicht darauf an …«

»Ach, Weio! Weio!« sagte die Mutter. »Wenn du uns doch die Wahrheit sagen wolltest! Glaubst du denn, es wird uns leicht? Aber solange du uns weiter belügst, können wir doch gar nicht anders …«

»Du! Du allein! Papa hat auch gesagt, du machst es viel zu schlimm! Und Papa glaubt mir auch, daß ich die Wahrheit gesagt habe, daß es kein fremder Mann war, sondern der Förster Kniebusch. Alle glauben es mir – nur du nicht. Du willst uns alle beherrschen, Papa sagt es auch …«

»Also mach dich fertig«, sagte Frau von Prackwitz müde. »Ich will sehen, daß wir hinterher noch ein Stündchen in den Wald gehen.«

»Ich will nicht mit dir in den Wald gehen! Ich brauche keinen Aufseher … Ich will keine gebildeten Gespräche führen … Ich lasse mich nicht einsperren von dir! Ich – ich hasse dich überhaupt! Ich mag dich nicht mehr sehen! Ach, ich will, ich will nicht mehr …«

Da hatte sie es wieder, das Schreien war gekommen, dann das immer wieder erstickte, fortgeschriene Schluchzen, das schließlich doch übermächtig aus ihr hervorbrach, sie verkrümmte, hinwarf – in ein jammervolles, von Krämpfen geschütteltes Bündel Geschrei und Gewimmer verwandelte.

Frau von Prackwitz sah sie an. Sie hatte ein festes Herz, sie weinte nicht schon darum, weil andere weinten. Ein grenzenloses Mitleid mit dem armen, verlaufenen, ratlosen Kind erfüllte sie. Aber sie dachte auch: Du lügst doch! Wenn du kein Geheimnis zu verteidigen hättest, würdest du dich nicht so steigern.

Sie drückte auf den Klingelknopf. Als sie den Schritt des Dieners hörte, öffnete sie die Tür und sagte: »Kommen Sie jetzt nicht herein, Hubert. Rufen Sie mir Armgard oder Lotte – dem gnädigen Fräulein ist schlecht geworden … Ja, und dann bringen Sie mir die Hoffmannstropfen aus dem Apothekenschränkchen.«

Während die gnädige Frau sachte wieder die Tür schloß, lächelte sie traurig. Als sie mit dem Diener gesprochen hatte, hatte sie weiter auf das Wimmern und Weinen gelauscht. Merklich war es leiser geworden, als sie dem Diener ihre Weisungen gab, es war fast verstummt, als die verhaßten Hoffmannstropfen bestellt wurden.

Es geht dir wohl schlecht, mein Kind, dachte Frau von Prackwitz. Aber es geht dir nicht so schlecht, daß dich nicht mehr interessiert, was mit dir wird. Es hilft nichts, wir müssen durchhalten, bis eine nachgibt. Hoffentlich du!

 

2 Die Entlassung Pagels

 

Der Rittmeister kam auf das Büro gestürmt.

»Hallo!« sagte von Studmann. »Das heiße ich eilig! Kommen die Leute –?«

»Die Leute können mir im Mondschein begegnen!« schrie der Rittmeister, dem sein Sturmlauf frischen Zornesmut gegeben hatte. »Wo ist mein Brief? Ich will meinen Brief haben!«

»Du mußt nicht so schreien!« meinte Studmann kühl. »Ich höre noch immer ausgezeichnet. Was für ein Brief –?«

»Das wäre ja noch schöner!« schrie der Rittmeister lauter. »Mir werden meine Briefe unterschlagen, und ich soll nicht einmal meine Meinung sagen dürfen?! Ich verlange meinen Brief –.«

»Herr Pagel, bitte, seien Sie so freundlich und schließen Sie die Fenster. Es braucht ja schließlich nicht ganz Neulohe zu hören, was wir hier …«

»Pagel, Sie lassen die Fenster offen! Sie sind mein Angestellter, verstanden?! Ich will endlich den Brief haben – drei, vier, fünf Wochen ist er alt …«

»Ach so, den Brief meinst du, Prackwitz …«

»Mir werden also noch mehr Briefe unterschlagen?! Du hast Heimlichkeiten mit meiner Frau, Studmann!«

Hier platzte der junge, leichtfertige Pagel heraus.

Der Rittmeister stand starr. Erst faßte er es nicht. Der junge Pagel hatte gelacht. Man hätte das Sirren einer Mücke auf dem Büro gehört, so still war es.

Der Rittmeister machte zwei lange Schritte auf Pagel zu. »Sie lachen? Sie lachen, Herr Pagel, wenn ich zornig bin –?«

»Verzeihen, Herr Rittmeister – es klang nur so komisch … ich habe nicht über Herrn Rittmeister gelacht … Nur, es klang so komisch … Herr Studmann hat Heimlichkeiten mit der gnädigen Frau …«

»So. – So!« Eiskalter Blick, mustern von oben bis unten. »Sie sind entlassen, Herr Pagel. Sie können sich von Hartig zum Dreiuhrzug auf die Bahn fahren lassen.« Lauter: »Keine Widerworte, bitte! Verlassen Sie das Büro. Ich habe hier geschäftliche Verhandlungen.«

Ein wenig weiß, doch in guter Haltung verließ der junge Pagel das Büro.

Herr von Studmann lehnte jetzt gegen den Kassenschrank, geärgert, mit gerunzelter Stirn sah er aus dem Fenster hinaus. Der Rittmeister betrachtete ihn von der Seite. »Das ist ein ganz unverschämter Bengel!« knirschte er probeweise, aber Herr von Studmann reagierte nicht.

»Ich bitte jetzt endlich um meinen Brief«, sagte der Rittmeister.

»Ich habe den Brief bereits Herrn von Teschow zurückgegeben«, berichtete von Studmann kühl. »Ich habe den Herrn Geheimrat davon überzeugen können, daß seine Forderung unberechtigt war. Er bat um Rückgabe des Briefes, damit die Sache wie nicht gewesen sei …«

»Das glaube ich!« lachte der Rittmeister bitter. »Hast dich von dem alten Fuchs reinlegen lassen, Studmann! Hat sich blamiert, und du gibst ihm den Beweis seiner Blamage zurück. Köstlich!«

»Die Verhandlung mit Herrn Geheimrat von Teschow war nicht ganz leicht«, sagte Studmann. »Wie immer konnte er sich formaljuristisch auf diesen unseligen Pachtvertrag berufen. Was ihn schließlich bestimmte, waren Erwägungen wegen seines Rufs, euer verwandtschaftliches Verhältnis …«

»Verwandtschaftliches Verhältnis! Ich bin überzeugt, du hast dich einseifen lassen, Studmann.«

»Bitte, er hängt anscheinend sehr an Tochter und Enkelin. – Und wie habe ich mich einseifen lassen können, da alles beim alten geblieben ist?«

»Das ist mir ganz egal«, erklärte der Rittmeister trotzig. »Ich hätte den Brief lesen müssen.«

»Ich glaubte mich bevollmächtigt. Du hast mich ausdrücklich gebeten, dir alles Unangenehme fernzuhalten.«

»Wann hätte ich das gesagt?«

»Gelegentlich der festgestellten Felddiebe …«

»Studmann! Wenn ich mich nicht mit diesen kleinen Diebereien abgeben will, so heißt das noch nicht, daß du mir Briefe vorenthalten darfst!«

»Gut«, sagte von Studmann. »Es wird nicht wieder vorkommen.« Er lehnte am Kassenschrank, kühl, ein wenig zurückhaltend, aber doch nicht unverbindlich. »Ich habe mir eben die Kocherei in der Waschküche angesehen. Das scheint zu klappen. Die Backs ist wirklich tüchtig.«

»Wir werden einen schönen Stunk mit diesen Zuchthäuslern erleben! Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen! Aber wenn alle auf einen einreden! Zehnmal lieber hätte ich die Berliner Leute genommen! Da hätte ich doch aus meiner Schnitterkaserne keine Kasematte zu machen brauchen. Was das alles gekostet hat! – Und nun auch Frechheiten von diesen Berliner Kerls! Da, lies mal –!«

Und er zog den Brief aus der Tasche, reichte ihn Studmann. Der las ihn unbewegt, gab ihn Prackwitz zurück und sagte: »So etwas war zu erwarten!«

»Das war zu erwarten –?!« schrie der Rittmeister fast. »Du findest das noch selbstverständlich! Siebenhundert Goldmark verlangt der Kerl für die Jammerlappen, die ich nicht mit der Kohlenzange anfassen möchte! Und das findest du selbstverständlich?! Studmann, ich bitte dich …«

»Die Aufrechnung liegt ja dabei: zehn Goldmark Vermittlungsprovision pro Kopf macht sechshundert Mark, sechzig Stunden Zeitversäumnis zu einer Mark, sonstige Kosten vierzig Mark …«

»Aber du hast sie doch gesehen, Studmann, das waren doch keine Arbeiter! Siebenhundert Goldmark für eine Botanisiertrommel mit Säugling – nein, dem Kerl mußt du einen Brief hinfetzen, Studmann!«

»Natürlich, was wünschest du, das ich schreibe?«

»Aber das weißt du doch selber am besten, Studmann!«

»Ich soll die Forderung zurückweisen?«

»Natürlich!«

»Ganz –?«

»Ganz und gar! Nicht einen Pfennig zahle ich dem Kerl!«

»Gemacht«, sagte Studmann.

»Du bist doch einverstanden?« fragte der Rittmeister argwöhnisch.

»Ich einverstanden? Nein, nicht die Spur, Prackwitz. Du verlierst den Prozeß bestimmt!«

»Ich verliere den Prozeß … Aber, Studmann, das waren doch keine Leute, keine Landarbeiter …«

»Einen Augenblick, Prackwitz …«

»Nein, einen Augenblick, Studmann …«

»Also bitte …«

Herr Rittmeister von Prackwitz war seinem Freunde von Studmann doch recht böse, als der ihn am Ende davon überzeugt hatte, man müsse versuchen, zu einem Vergleich zu kommen.

»Das kostet alles ein Geld …«, seufzte er.

»Leider werde ich dich heute noch um mehr Geld bitten müssen …«, sagte Herr von Studmann. Er hatte sich über einen Rechenblock gebeugt und warf eilig Zahlen hin, endlose Zahlen mit sehr vielen Nullen.

»Wieso Geld? Ich habe nichts Nennenswertes da. Die Rechnungen haben Zeit«, sagte der Rittmeister, schon wieder ärgerlich.

»Da du den jungen Pagel entlassen hast«, sagte Herr von Studmann und schien sehr mit seinen Zahlen beschäftigt, »wirst du deine Spielschuld regulieren müssen. Ich habe es eben ausgerechnet: nach dem gestrigen Dollarkurs würden es siebenundneunzig Milliarden zweihundert Millionen Mark sein. Man kann schon sagen: hundert Milliarden.«

»Hundert Milliarden!« rief der Rittmeister atemlos. »Hundert Milliarden! Und du sagst so hin: Prackwitz, ich werde dich um Geld bitten müssen …« Er brach wieder ab, völlig fassungslos. – Dann, in einem ganz andern Ton: »Studmann! Mensch! Alter Gefährte! Ich habe jetzt immer das Gefühl, du bist irgendwie böse mit mir …«

»Ich böse mit dir –? Eben sah es ganz so aus, als seiest du böse mit mir!«

Der Rittmeister überhörte es: »Als machtest du mir absichtlich Schwierigkeiten –!«

»Ich – dir – Schwierigkeiten –?«

»Aber, Studmann, überlege doch einmal ruhig: wo soll ich denn das Geld hernehmen?! Eben erst diese wahnsinnigen Ausgaben für den Umbau der Schnitterkaserne, nun dieser Berliner Kerl mit siebenhundert Goldmark, dem ich deiner Ansicht nach auch was geben soll, und schon wieder Pagel … Ja, lieber Studmann, ich bin doch nicht aus Geld gemacht! Ich kann dir schwören, ich besitze keine Banknotenpresse, ich habe keinen Dukatenkacker irgendwo rumstehen, ich kann kein Geld aus den Rippen schwitzen – und du kommst mit derartig exorbitanten Forderungen –! Ich verstehe dich nicht …«

»Prackwitz!« sagte Studmann eifrig. »Prackwitz, setze dich sofort hier in den Schreibtischsessel. So – du sitzt gut? Schön, warte einen Augenblick. Gleich wirst du etwas sehen –! Ich muß nur mal in Pagels Zimmer nachschauen …«

»Aber was soll das?!« fragte der Rittmeister völlig verwirrt.

Doch war Studmann schon in Pagels Zimmer entschwunden. Der Rittmeister hörte ihn dort rumkramen. Was hat er bloß? dachte er. Jetzt stehe ich aber auf! Ernste geschäftliche Unterredung, und er fängt irgendeinen Quatsch an …

»Nein, bleib sitzen!« rief Studmann herbeieilend. »Jetzt sollst du etwas sehen! – Was ist das –?!«

Ein wenig blöde sagte der Rittmeister: »Ein Rasierspiegel! Vermutlich Pagels. Aber was in aller Welt …«

»Halt, Prackwitz! Wen siehst du in dem Spiegel?«

»Na, mich.« Der Rittmeister sah sich wirklich an. Wie alle Männer strich er mit dem Finger am Kinn entlang und horchte auf das leise Knirschen der Stoppeln. Dann rückte er an seinem Schlips. – »Aber …«

»Und wer ist das, ›mich‹? Wer bist du?«

»Nun sage aber mal, Studmann …«

»Da du es noch immer nicht weißt, Prackwitz, will ich es dir sagen: Der dich aus dem Spiegel anschaut, ist der geschäftsunerfahrenste, kindlichste, geld- und weltfremdeste Mann, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist!«

»Ich muß doch sehr bitten«, sagte der Rittmeister mit gekränkter Würde. »Ich will ja deine Verdienste gewiß nicht unterschätzen, Studmann, aber immerhin habe ich Neulohe auch vor deiner Zeit recht erfolgreich geleitet …«

»Sieh ihn an!« sagte Studmann eifrig. »Um der Sache alles Kränkende zu nehmen (denn wahrhaftig, wenn ich nicht dein wirklicher Freund wäre, Prackwitz, ich würde noch in dieser Stunde mein Bündel schnüren und von hinnen gehen), wollen wir also den bewußten Herrn Herrn Spiegel nennen. Herr Spiegel begibt sich erstens nach Berlin, um Leute zu engagieren. Er gerät in eine Spielhölle. Gegen den Rat seines Freundes spielt er. Er borgt sich, als er ratzekahl ist, von einem jungen Menschen an die zweitausend Goldmark und verspielt die auch. Der junge Mensch wird Herrn Spiegels Angestellter; er ist anständig, er mahnt nicht wegen des Geldes, trotzdem er Geld wahrscheinlich sehr nötig hat, denn seine Zigaretten werden alle Tage schlimmer, Prackwitz. Da setzt Herr Spiegel den jungen Mann raus und beschwert sich darüber, daß er nun zahlen muß.«

»Aber er hat doch über mich gelacht, Studmann! – Studmann! Nimm wenigstens den verdammten Spiegel weg!«

»Herr Spiegel«, fuhr Studmann erbarmungslos fort und folgte mit dem Spiegel dem ausweichenden Kopf des Rittmeisters, »Herr Spiegel engagiert in Berlin Leute, er sagt dem Vermittler ausdrücklich: Ganz egal, wie sie aussehen, ganz egal, was sie gelernt haben! Aber als Herr Spiegel dann die Leute sieht, bekommt er doch einen Schreck, und mit Recht. Statt nun aber einen Vergleich mit dem Vermittler zu suchen, drückt Herr Spiegel sich vor der Auseinandersetzung, flieht vor dem Feind, scheut die offene Feldschlacht …«

»Studmann!«

»… und macht aller Welt, nur sich nicht, Vorwürfe, daß er nun zahlen muß.«

»Ich mache dir doch keine Vorwürfe, Studmann. Ich frage dich nur, woher ich das Geld nehmen soll!«

»Aber das sind Lappalien«, sagte Studmann, den Spiegel niederlegend. »Das Wichtige, das Unangenehme kommt erst.«

»O Gott, Studmann! Nein, bitte jetzt nicht! Du kannst mir glauben, für einen Vormittag ist mein Bedarf an Ärger völlig gedeckt. Außerdem müssen die Leute gleich kommen …«

»Die Leute können uns –«, sagte auch Herr von Studmann energisch. »Kreuzweis! Du mußt jetzt zuhören, Prackwitz. Es hilft nichts, wenn du dich windest, du kannst nicht wie ein blindes Huhn in der Welt herumlaufen.« Studmann ging ans Fenster, er rief: »Ach, bitte, gnädige Frau, können Sie einen Augenblick hereinkommen?«

Frau von Prackwitz sah zweifelnd erst Weio, dann Herrn von Studmann an. »Ist es so wichtig?«

»Meine Frau ist ganz überflüssig«, protestierte der Rittmeister. »Sie versteht überhaupt nichts von Geschäften.«

»Sie versteht mehr davon als du!« flüsterte Studmann zurück. »Ach, Pagel, nehmen Sie sich ein bißchen des gnädigen Fräuleins an. Nett. Also bitte, gnädige Frau!«

Ein wenig widerstrebend, ein wenig zweifelnd ging Frau von Prackwitz auf das Büro. Von der Schwelle sah sie noch einmal zurück auf das Paar.

»Wohin befehlen gnädiges Fräulein?« fragte Pagel.

»Ach, hier so ein bißchen vor den Fenstern auf und ab.«

Frau von Prackwitz trat in das Büro.

 

3 Pagel küßt Weio

 

»Wollen Sie vielleicht auch die Massenkocherei im Schloß besichtigen?« fragte Pagel. »Da herrscht jetzt Hochbetrieb!«

»Ach, da muß ich nachher mit Mama hin! Wer kocht denn?«

»Fräulein Backs und Fräulein Kowalewski.«

»Von der Amanda verstehe ich es. Aber daß die Sophie sich nicht zu fein vorkommt, für Zuchthäusler zu kochen –!«

»Jeder verdient sich heute gern ein bißchen Geld.«

»Sie anscheinend nicht, wenn Sie in der Arbeitszeit hier rauchend herumlaufen«, sagte Violet streitsüchtig.

»Stört meine Zigarette?« fragte Pagel und nahm sie aus dem Mund.

»I gar nicht. Ich rauche selber gern. Wir können uns nachher, wenn die im Büro nicht mehr an uns denken, ein bißchen in den Park verkrümeln. Dann schenken Sie mir eine.«

»Wir können doch auch gleich gehen! Oder glauben Sie, Ihre Mama hält mich für so gefährlich, daß Sie nicht mit mir in den Park dürfen?«

»Sie und gefährlich!« Weio lachte. »Nein, aber ich habe eigentlich Stubenarrest.«

»Sie dürfen also eigentlich nur mit Ihrer Mama gehen?«

»Was Sie nicht alles rauskriegen!« rief sie spöttisch. »Seit drei Wochen redet die ganze Gegend davon, daß ich Stubenarrest habe, und Sie merken es auch schon!«

Aber Fräulein Violets Gereiztheit machte auf Pagel gar keinen Eindruck. Er lächelte vergnügt und fragte: »Danach darf man sich wohl nicht erkundigen, warum Sie Stubenarrest haben? War es sehr schlimm?«

»Seien Sie nicht indiskret!« sagte Weio sehr von oben herab. »Ein feiner Mann ist nicht indiskret.«

»Ich werde wohl nie ein feiner Mann werden, gnädiges Fräulein«, gestand Pagel betrübt und strich verstohlen lächelnd über seine Brusttasche. »Aber wenn Sie meinen, daß die im Büro jetzt laut genug reden, könnten wir in den Park entwetzen und eine Zigarette rauchen.«

»Warten Sie«, sagte Weio. Sie lauschte. Man hörte Herrn von Studmanns Stimme, ruhig, aber sehr nachdrücklich. Nun sprach der Rittmeister hastig, protestierte klagend gegen irgend etwas – und jetzt sagte Frau von Prackwitz sehr bestimmt, sehr klar sehr vieles. »Mama ist in Fahrt, also los!«

Sie bogen um Fliederbusch und Goldregen, dann gingen sie langsam den breiten Weg zwischen Rasenflächen in den eigentlichen Park hinunter.

»So, jetzt können sie uns nicht mehr sehen. Jetzt dürfen Sie mir eine Zigarette schenken. – Donnerwetter, Sie rauchen ja eine fabelhafte Marke – was kostet die denn?«

»Irgendwelche Millionen. Ich kann es nie behalten, es ändert sich alle Tage. – Ich bekomme sie übrigens von einem Freund, einem gewissen Herrn von Zecke, der in Haidar-Pascha wohnt. Wissen Sie, wo Haidar-Pascha liegt?«

»Wie soll ich das denn wissen? Ich will doch nicht Steißtrommlerin werden!«

»Nein, natürlich nicht! Entschuldigen Sie … Haidar-Pascha liegt auf der asiatischen Seite des Bosporus …«

»Gott, hören Sie bloß mit dem Quatsch auf, Herr Pagel, was mich das schon interessiert –! Warum grinsen Sie eigentlich immer so –? Stets, wenn ich Sie sehe, grinsen Sie!«

»Das ist doch eine Verletzung aus dem Krieg, gnädiges Fräulein. Verletzung des Nervus sympathicus in seiner zentralen Führung – na, das interessiert Sie wieder nicht. Wissen Sie, so wie die Schüttler schütteln, so grinse ich …«

»Ziehen Sie mich nun durch den Kakao?« rief sie empört. »Ich lasse mich nicht von Ihnen auf den Arm nehmen …«

»Aber, gnädiges Fräulein, ganz bestimmt, es ist eine Kriegsverletzung! Wenn ich weinen muß, sieht es aus, als lachte ich Tränen – in die unangenehmsten Lagen bin ich schon dadurch gekommen!«

»Mit Ihnen weiß man nie, wie man dran ist«, erklärte sie unzufrieden. »Männer wie Sie finde ich einfach ekelhaft.«

»Dafür bin ich aber ungefährlich, das ist wieder ein Vorteil, gnädiges Fräulein.«

»Ja, das sind Sie wirklich!« meinte Weio verächtlich. »Ich möchte wirklich wissen, wie Sie sich anstellen würden, wenn …«

»Wenn was –? Ach, sagen Sie es doch bitte, gnädiges Fräulein! Oder haben Sie Angst –?«

»Angst vor Ihnen –?! Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Ich meine, wie Sie sich anstellen würden, wenn Sie einem Mädchen einen Kuß geben wollten?!«

»Ja, das weiß ich auch nicht«, gestand Pagel kläglich. »Die Wahrheit zu sagen, gnädiges Fräulein, ich habe es mir schon tausendmal überlegt, aber ich bin so schüchtern, und da …«

»Was?« fragte Weio und sah ihn überlegen an. »Sie haben noch nie einem Mädchen einen Kuß gegeben?!«

»Hundertmal habe ich es mir vorgenommen, auf Ehrenwort, gnädiges Fräulein! Aber der Mut, in der entscheidenden Sekunde …«

»Wie alt sind Sie –?«

»Beinahe vierundzwanzig …«

»Und Sie haben noch nie ein Mädchen geküßt?«

»Ich sage Ihnen doch, gnädiges Fräulein, meine Schüchternheit …«

»Feigling!« rief sie voll tiefster Verachtung.

Eine Weile gingen beide schweigend die Allee hoher Linden hinunter, die auf den Teich zuführte.

Dann fing Pagel wieder vorsichtig an: »Gnädiges Fräulein, darf ich Sie was fragen?«

Ungnädig: »Na, man los, Sie – Held!«

»Aber Sie dürfen mir auch nicht böse werden!«

»Fragen Sie!«

»Bestimmt nicht?«

Sehr ungeduldig: »Nein! Fragen Sie doch!«

»Also – wie alt sind Sie, gnädiges Fräulein?«

»Sie Schafskopf! – Sechzehn!«

»Sehen Sie, da werden Sie schon böse – und ich fange doch erst mit Fragen an.«

Wütend mit dem Fuß aufstampfend: »Also fragen Sie doch schon – Sie Jammerkerl!«

»Und Sie werden auch bestimmt nicht böse –?«

»Sie sollen fragen –!!!«

»Gnädiges Fräulein – haben Sie schon mal – einen Mann geküßt –?«

»Ich?« Sie denkt nach. »Natürlich. Hundertmal.«

»Das glaube ich nicht!«

»Tausendmal!«

»I was!«

»Doch – den Papa nämlich!« Und sie bricht in ein schallendes Gelächter aus.

»Na also!« sagt Pagel schließlich, als sie sich beruhigt hat. »Sie haben auch nicht den Mut.«

Weio ist empört: »Ich habe nicht den Mut –?«

»Nein, Sie sind genauso feige wie ich.«

»Doch habe ich einen Mann geküßt! Nicht bloß den Papa. Einen jungen Mann, einen mutigen Mann« – ihre Stimme singt jetzt fast –, »nicht so einen Jämmerling wie Sie …«

»Das glaube ich nicht …«

»Doch … Doch … Er hat sogar einen Schnurrbart, eine kleine blonde Bürste, die sticht – und Sie haben keinen!«

»Na also!« sagt Pagel niedergeschlagen. »Und Sie sind wirklich erst sechzehn, gnädiges Fräulein?«

»Ich bin sogar erst fünfzehn«, erklärt sie triumphierend.

»Sie haben aber Mut«, sagt er bewundernd. »Ich würde nie so mutig sein können. Aber natürlich«, tröstet er sich, »haben Sie nie einen Mann geküßt. Sie haben sich nur von einem Mann küssen lassen. Das ist noch etwas anderes! So einen Mann beim Kopf kriegen und abküssen, das könnten Sie auch nicht.«

»Das könnte ich nicht?« ruft sie mit flammenden Augen. »Was denken Sie denn von mir?«

Er schlägt vor ihren Blicken die Augen nieder. »Bitte, bitte, gnädiges Fräulein! Ich habe nichts gesagt. Doch, doch, Sie können es, ich glaube es auch so … Bitte, bitte, tun Sie es nicht … Ich habe solche Angst …«

Aber sein Flehen hilft ihm nichts. Ihre flammenden Augen, ihr halbgeöffneter Mund sind ihm näher gekommen, er mag Schritt für Schritt hinter sich treten. Und nun legt sich ihr Mund auf den seinen …

Doch im gleichen Augenblick spürt Weio eine Verwandlung. Als hätten ihre Lippen ihm Kraft eingeflößt, fühlt sie sich eisern festgehalten zwischen seinen Armen, seine Lippen erwidern den Kuß … Jetz will sie sich ihm entziehen, jetzt bekommt sie Angst … Aber der Kuß dieser Lippen wird heißer und heißer, noch möchte sie widerstreben, und schon fühlt sie sich nachgeben. Der eben noch stolz aufgerichtete Kopf fügt sich, schmiegt sich … Ihr Rücken wird weich, sie hängt in seinen Armen …

»Oh!« seufzt sie und geht schon unter in dem lang entbehrten Meer. »Oh, du …«

Aber sein Arm hält sie nicht mehr, er stellt sie zurück, fest auf die Erde. Sein Gesicht ist wieder fern ihrem Gesicht, es sieht jetzt ernst aus, nichts mehr von dem Lächeln …

»So, gnädiges Fräulein, das war das!« sagt Pagel ruhig. »Wer so schwach wie Sie ist, sollte nicht mit Männern spielen!«

»Sie sind gemein!« ruft sie mit flammenden Wangen, zwischen Zorn und Scham. »So etwas tut ein feiner Mann nicht.«

»Es war gemein!« gibt er zu. »Aber ich mußte etwas von Ihnen wissen, und die Wahrheit hätten Sie mir nie gesagt. Jetzt weiß ich es. – Hier«, er greift in die Tasche, »diesen Brief, diese Abschrift eines Briefes fand ich auf dem Büro, in einem Buch versteckt, er ist doch wohl von Ihnen –?«

»Och, der olle dumme Brief!« sagt sie verächtlich. »Darum machen Sie nun so ein Theater! Was der Meier sich einbildet, daß er davon eine Abschrift macht! Sie hätten das Dings ruhig zerreißen sollen, statt mich so gemein reinzulegen …«

Pagel sieht sie prüfend an, während er den Brief in kleinste Stücke zerreißt. »So«, sagt er, schüttelt das Häufchen und steckt es dann in die Tasche. »Das wird umgehend verbrannt. – Aber eine Abschrift gibt es mindestens noch auf der Welt, und wenn die nun dieser Herr Meier an Ihren Vater schickt – was dann?«

»So was kann sich doch jeder zurechttippen!« ruft sie.

»Sicher!« gibt er zu. »Aber Sie haben schon Stubenarrest – es scheint also bereits ein Verdacht zu bestehen. Ohne den Verdacht hätte die Abschrift wenig Beweiskraft. Aber mit dem Verdacht –?«

»Ich habe das Original wieder. Wenn ich nichts zugebe, kann man mir gar nichts beweisen!«

»Aber man kann Sie überlisten!«

»Mich doch nicht!«

»Von mir haben Sie sich sehr schnell überlisten lassen!«

»Es sind nicht alle so heimtückisch wie Sie!«

»Kleines Fräulein«, mahnt Pagel freundlich, »jetzt wollen wir ausmachen, daß Sie von nun an höflich zu mir sind, genau so, wie ich höflich zu Ihnen bin. Wir wollen diesen Brief, der jetzt zerrissen ist, vergessen. Was ich getan habe, sieht nicht sehr hübsch aus. Aber es ist doch immer noch besser, als wenn ich zu Ihrer Frau Mutter gegangen wäre und geklatscht hätte, nicht wahr? – Vielleicht müßte ich das sogar tun, aber ich mags nicht …«

»Tun Sie bloß nicht so feierlich!« spottet sie. »Sie werden auch schon Liebesbriefe geschrieben und bekommen haben.« Aber ihr Spott hat die alte Kraft nicht mehr.

»O ja«, sagt er ruhig, »aber ich bin noch nie ein Lump gewesen. Ich habe noch nie fünfzehnjährige anständige Mädchen verführt. – Kommen Sie«, sagt er und faßt sie am Arm, »wir wollen zu Ihrer Mutter gehen. Sicher macht sie sich schon Sorgen.«

»Herr Pagel!« sagt sie flehend und wehrt sich gegen das Weitergehen. »Er ist doch kein Lump!«

»Natürlich ist er das, und Sie wissen es auch ganz gut!«

»Nein!« ruft sie und kämpft mit Tränen. »Warum sind alle jetzt so schlecht zu mir?! Früher war es doch anders!«

»Wer ist schlecht zu Ihnen –?«

»Ach, Mama, die mich ewig quält, und Hubert …«

»Wer ist Hubert? Heißt er Hubert?«

»Nein doch! Unser Diener, Hubert Räder …«

»Der weiß davon?«

»Ja«, sagt sie weinend, »lassen Sie doch bitte meinen Arm los, Herr Pagel, Sie drücken ihn ja kaputt!«

»Verzeihung – Der Diener quält Sie also?«

»Ja … Er ist so gemein …«

»Und wer weiß noch davon?«

»Was Bestimmtes keiner.«

»Inspektor Meier nicht?«

»Ach der! Der ist doch abgereist!«

»Also der auch. – Wer noch?«

»Der Förster – aber der weiß nichts Bestimmtes.«

»Wer noch?«

»Keiner – bestimmt nicht, Herr Pagel! Sehen Sie mich nicht so an, ich habe Ihnen alles gesagt. Ganz bestimmt!«

»Und der Diener quält Sie? Wie quält er Sie?«

»Er ist gemein – er sagt gemeine Sachen, und er steckt mir gemeine Bücher unters Kopfkissen.«

»Was für Bücher?«

»Ich weiß doch nicht – von der Ehe, mit Bildern …«

»Kommen Sie«, sagt Pagel und faßt wieder ihren Arm. »Seien Sie mutig. Jetzt gehen wir zu Ihren Eltern und sagen ihnen alles. Sie sind in den Händen von lauter Lumpengesindel; die quälen Sie, bis Sie nicht mehr ein noch aus wissen – bestimmt, Ihre Eltern verstehen das. Jetzt sind sie ja nur mit Ihnen böse, weil sie fühlen, Sie lügen … Kommen Sie, gnädiges Fräulein, seien Sie mutig – ich bin doch von uns beiden der Feigling.« Und er lächelt ihr ermutigend zu.

»Bitte, bitte, lieber, lieber Herr Pagel, tun Sie das nicht!« Ihr Gesicht ist von Tränen überströmt, sie hat seine Hände gefaßt, als wolle er ihr fortlaufen mit der schlimmen Botschaft, sie streichelt ihn … »Wenn Sie es meinen Eltern sagen, ich schwöre Ihnen, ich gehe ins Wasser … Wozu wollen Sie es ihnen denn sagen? Es ist ja doch alles aus!«

»Es ist alles aus?«

»Ja, ja«, weint sie. »Seit drei Wochen kommt er doch schon nicht mehr.«

Er denkt nach, er überlegt.

(Es ist unvermeidlich, daß in dieser Sekunde das Bild einer – ach! entschwundenen – Petra vor seinen Augen steht. Schon seit vielen Sekunden. Schon, als er diese Lippen unter den seinen spürte, diesen Körper schwach werden fühlte, der sofort der Verlockung der Lust nachgab, nicht der Lockung der Liebe. – Schon stieg das Bild auf, fern, aber klar, ein Gesicht, hold und gefaßt, aus den Zeiten ihn grüßend. Er wollte es nicht, aber ohne es zu wollen, mußte er fortwährend vergleichen: Was hätte sie hier getan? Hätte sie das gesagt? So würde sie nie gehandelt haben …

Und das holde, ferne Gesicht, tausendmal angesehen, das Gesicht des Mädchens, das ihn verlassen hatte, das er verlassen hatte, triumphierte über das Gesicht der behüteten höheren Tochter.

Es triumphierte – und aus dem Triumph der Verlassenen kam es wie eine Mahnung, wenigstens zu dieser gut zu sein, ihr nicht die ganze Last aufzuladen … Bist du bei mir zu hart gewesen, sei es nicht wieder bei dieser! klang es.)

Er denkt nach, er überlegt, sie liest auf seinem Gesicht.

»Was ist er?« fragt er.

»Leutnant.«

»Bei der Reichswehr?«

»– ja!«

»Kennen ihn Ihre Eltern?«

»Ich – glaube nicht. Ich weiß nicht genau.«

Wieder denkt er nach. Daß es ein Offizier ist, ein Mann also, der, er mag sein, wie er will, einem gewissen Ehrenkodex unterliegt, ist eine kleine Beruhigung. Wenn der Junge sich einmal vergessen hat, sich dann erschrocken zurückzog, ist es gewissermaßen nicht so schlimm. Dann war’s irgendeine Unüberlegtheit, vielleicht im Rausch – keine Wiederholung ist zu fürchten. Man müßte das wissen. Er müßte fragen. Er sieht sie prüfend an. Aber kann man denn ein so junges Mädchen fragen, ob es nur einmal geschah, ob es Folgen hatte –?

Wenn es nur einmal geschehen ist, denkt er, war es eine Unüberlegtheit. Ist es mehrere Male geschehen, war es eine Gemeinheit.

Dann muß man es den Eltern sagen.

Er sieht sie wieder an. Nein, er mag nicht danach fragen. Vielleicht muß er sich später Vorwürfe machen, aber er mag es nicht. (Wieder das ferne Bild.)

»Es ist bestimmt ganz aus?« fragt er noch einmal.

»Ganz bestimmt!« beteuert sie.

»Sie schwören das?« fragt er, obwohl er weiß, wie nutzlos solche Schwüre sind.

»Ich schwöre es!«

Er hat ein ungemütliches Gefühl. Irgend etwas stimmt nicht, in irgendeinem Punkt muß sie ihn belogen haben.

»Wenn ich schweigen soll, müssen Sie mir eines versprechen. Aber ehrenwörtlich.«

»Ja, gerne …«

»Wenn dieser Herr – Leutnant sich wieder an Sie wenden sollte, geben Sie mir sofort Nachricht. Versprechen Sie mir das? Geben Sie Ihre Hand!«

»Ehrenwort!« sagt sie und gibt ihm ihre Hand.

»Also gut. Gehen wir. Suchen Sie irgendeinen Vorwand, daß Sie mir heute abend möglichst spät Ihren Diener Räder rüberschicken.«

»Großartig!« ruft sie begeistert. »Was werden Sie mit ihm machen?«

»Ich werde den Jungen sein eigenes Geschrei hören lassen«, sagt er grimmig. »Er wird Sie nicht wieder quälen.«

»Und wenn er zu Papa läuft?«

»Das müssen wir riskieren. Aber er wird nicht zu Papa laufen, ich werde ihm so angst machen, daß ihm die Lust dazu vergeht. Erpresser sind immer feige.«

»Horchen Sie mal, ob die auf dem Büro noch reden? Gott, ich sehe sicher schrecklich aus. Bitte, geben Sie mir mal schnell Ihr Taschentuch, ich muß meins verloren haben – nein, ich habe gar keins eingesteckt. Sie will ich nie wieder belügen, selbst nicht in Kleinigkeiten. Gott, was sind Sie für ein Kerl, das hätte ich nie gedacht. – Wenn ich nicht schon verliebt wäre, würde ich mich auf der Stelle in Sie verlieben.«

»Die Sache ist aus, gnädiges Fräulein«, sagt Pagel trocken. »Vergessen Sie das bitte nicht. – Sie haben es mir geschworen.«

»Aber natürlich. Und nun denken Sie, daß Sie –«

Pagel hebt die Achseln. »Mein liebes gnädiges Fräulein«, sagt er, »niemand kann einem Menschen helfen, der mit Gewalt in den Dreck will. Mir ist wirklich nicht nach Witzen zumute. – So, und nun wollen wir uns mal unter dem Fenster bemerkbar machen. Die Debatte dort drin scheint wirklich uferlos.«

 

4 Studmann erläutert einen Pachtvertrag

 

»Gnädige Frau«, hatte Herr von Studmann gesagt und Frau von Prackwitz den Schreibtischstuhl zurechtgerückt, den der Rittmeister seiner Frau gerne einräumte. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie rief. Aber wir haben hier eine Besprechung, bei der Sie dabeisein müßten. Wir reden nämlich vom Geld …«

»Wirklich?« sagte Frau Eva, nahm den Rasierspiegel auf und betrachtete sich prüfend darin. »Das ist freilich ein ganz neues Thema für mich! Achim redet davon nicht häufiger als jeden Tag …«

»Ich bitte dich, Eva!« rief der Rittmeister.

»Und warum redet mein Freund Prackwitz alle Tage von Geld? Weil er keines hat. Weil die kleinste Rechnung ihn schon in Aufregung bringt. Weil die Pachtzahlung am ersten Oktober wie ein Alpdruck auf ihm lastet. Weil er immer daran denkt, ob er es auch schaffen wird …«

»Sehr richtig, Studmann, ich mache mir eben Sorgen. Ich bin ein vorsorglicher Kaufmann …«

»Wir wollen uns einmal deine finanzielle Situation ansehen. Reserven hast du keine, die laufenden Ausgaben werden aus laufenden Einnahmen bezahlt, das heißt aus Viehverkäufen, aus Frühkartoffelverkäufen, aus der Ernte … Reserven hast du keine …«

Studmann rieb sich nachdenklich die Nase. Die gnädige Frau bespiegelte sich. Der Rittmeister lehnte am Ofen, war gelangweilt, hoffte aber inbrünstig, daß Studmann (»dieses ewige Kindermädchen!«) wenigstens so viel Takt besitzen würde, nicht von den Spielschulden anzufangen. –

»Nun kommt der erste Oktober«, sagte von Studmann, immer noch sehr nachdenklich. »An diesem ersten Oktober ist die Jahrespacht bar auf den Tisch des Herrn Geheimrats von Teschow zu legen. Die Jahrespacht beträgt, wie bekannt sein dürfte, dreitausend Zentner Roggen. Soweit ich mich unterrichtet habe, ist etwa ein Preis von sieben bis acht Goldmark pro Zentner anzusetzen, das wäre eine Summe von zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Goldmark, in Millionen und Milliarden nicht ausdrückbar. Schon darum nicht, weil uns der Roggenpreis in Papiermark am ersten Oktober nicht bekannt ist …«

Von Studmann sah seine Opfer versonnen an, aber sie merkten noch nichts.

Sondern der Rittmeister sagte: »Ich finde es sehr dankenswert, Studmann, daß du dich mit allen diesen Dingen beschäftigst. Aber sie sind uns – verzeih! – bekannt. Die Pacht ist etwas hoch, aber ich habe ja eine ganz nette Ernte draußen stehen, und da ich jetzt die Leute bekomme …«

»Entschuldige, Prackwitz«, unterbrach Studmann, »du siehst das Problem noch nicht. Du hast am ersten Oktober Herrn von Teschow den Wert von dreitausend Zentnern Roggen zu übergeben. Da die Goldmark ein fiktiver Begriff ist, in Papiermark, zum Roggenpreis am ersten Oktober …«

»Das verstehe ich alles, lieber Studmann, es ist mir bekannt, daß …«

»Du kannst aber«, fuhr der unerbittliche Studmann fort, »nicht dreitausend Zentner Roggen an einem Tage dem Händler abliefern. Du brauchst, nach deinen Arbeitsbüchern zu urteilen, etwa vierzehn Tage dazu. Sagen wir also, du lieferst am zwanzigsten September dreihundert Zentner Roggen ab. Der Händler gibt dir, sagen wir mal, dreihundert Milliarden dafür. Du legst die dreihundert Milliarden in deinen Geldschrank für die Zahlung am ersten Oktober. In der Zeit vom zwanzigsten September bis zum dreißigsten fällt die Mark weiter, wie wir es in der letzten Zeit erlebt haben. Für die dreihundert Zentner am dreißigsten September bekommst du vom Händler, sagen wir mal, sechshundert Milliarden. Dann stellen die dreihundert Milliarden in deinem Geldschrank nur noch den Wert von hundertfünfzig Zentnern Roggen dar. Du müßtest noch einmal hundertfünfzig Zentner nachliefern … Das ist doch klar?«

»Erlaube mal«, sagte der Rittmeister verwirrt. »Wie war das? Dreihundert Zentner sind plötzlich nur hundertfünfzig Zentner …«

»Herr von Studmann hat ganz recht«, rief Frau von Prackwitz lebhaft. »Aber das ist ja schrecklich. Das kann ja kein Mensch leisten …«

»Es ist durch vierzehn Tage ein Wettlauf mit der Inflation«, sagte Herr von Studmann. »Und uns wird dabei der Atem ausgehen.«

»Aber die Inflation braucht doch nicht immer so weiterzugehen!« rief der Rittmeister empört.

»Nein, natürlich nicht. Aber das weiß man nicht. Es hängt von so vielem ab: von der Haltung der Franzosen an der Ruhr, der Festigkeit der jetzigen Regierung, die den Ruhrkampf unter allen Umständen fortsetzen will, also Geld über Geld braucht, von der Haltung Englands und Italiens, die jetzt noch gegen das Ruhrabenteuer Frankreichs sind. Von tausend Dingen also, auf die wir keinen Einfluß haben – aber wir müssen jedenfalls am ersten Oktober zahlen.«

»Und man kann das, Herr von Studmann?«

»Man kann das, gnädige Frau.«

»Sieh da!« rief der Rittmeister halb lachend, halb ärgerlich. »Unser lieber Studmann! Erst ängstigt er uns, und nun hat er die Rettung in der Hand!«

»Es gibt nämlich«, sagte Studmann ganz ungerührt, »Leute, die an einen bodenlosen Fall der Mark glauben, die auf Baisse spekulieren, wie man so sagt. Die sind bereit, dir schon heute dein Korn abzukaufen, Prackwitz, zahlbar am ersten Oktober, lieferbar Oktober – November … Ich habe da ein paar Angebote …«

»Ein Heidengeld werden die Brüder an meinem Korn verdienen!« rief der Rittmeister erbittert.

»Aber du kannst Papa die Pacht pünktlich und richtig geben, Achim! Darauf kommt es doch an.«

»Gib mir die Wische, Studmann«, sagte Prackwitz grämlich. »Ich seh sie mir mal durch. So eilig wird es ja nicht sein. Jedenfalls bin ich dir sehr dankbar …«

»Die zweite Frage ist die«, begann Herr von Studmann nun, »ob es überhaupt einen Zweck hat, die Pachtung zu bezahlen …«

Er schwieg und sah die beiden an. Aus den Wolken gefallen, dachte er. Wie die Kinder …

»Aber wie –?« fragte Frau von Prackwitz verwirrt. »Papa muß doch sein Geld haben?«

»Was du dir da wieder ausgedacht hast, Studmann!« widersprach der Rittmeister sehr ärgerlich. »Als wenn es nicht schon ohnedies Schwierigkeiten genug gäbe! Sich auch noch Schwierigkeiten ausdenken –!«

»Es steht doch im Vertrage«, rief Frau von Prackwitz wieder, »daß wir die Pachtung sofort verlieren, wenn nicht pünktlich und vollständig gezahlt wird!«

»Ich erfülle meine Verpflichtungen –!« erklärte der Rittmeister eisern.

»Wenn du es kannst!« meinte Herr von Studmann. Und eifriger: »Höre zu, Prackwitz, unterbrich mich mal nicht. Hören Sie bitte auch zu –. Es wird ein wenig peinlich, ich muß von Ihrem Herrn Vater sprechen … Nun, reden wir von Verpächter und Pächter. Denn auch für dich wird einiges Bittere abfallen, mein lieber Prackwitz, für dich, den Pächter …

Das Studium dieses Pachtvertrages ist nicht uninteressant. Wenn man sich hineinvertieft, wird man an den Vertrag von Versailles erinnert, über dem die Devise steht: ›In die Hölle mit dem Besiegten!‹ Über diesem Pachtvertrag stehen die Worte: ›Wehe dem Pächter!‹«

»Mein Vater …«

»Der Verpächter, gnädige Frau, nur der Verpächter. Ich will nicht von all den kleinen niederträchtigen Bestimmungen reden, die sich zu Katastrophen auswachsen können. Der Fall mit dem elektrischen Licht hat mir die Augen geöffnet. Mein lieber Prackwitz, wäre ich nicht gewesen, du wärest schon über diese Kleinigkeit gestürzt, und du solltest darüber stürzen. Aber ich war da, und der Gegner zog sich zurück. Er wartet, daß du über die Pachtzahlung fallen sollst, und du wirst darüber fallen …«

»Mein Schwiegervater …«

»Mein Vater …«

»Der Verpächter«, sprach von Studmann mit starker Stimme, »hat den Pachtpreis mit anderthalb Zentner Roggen pro Morgen festgesetzt. Erste Frage: Ist das eine tragbare Pacht?«

»Sie ist vielleicht ein bißchen hoch …«, fing der Rittmeister wieder einmal an.

»Die staatlichen Domänen hier in der Nähe zahlen sechzig Pfund Roggen pro Morgen, du zahlst weit über das Doppelte. Und wohlgemerkt: Die Domänenpächter hatten zum letzten Termin nur Abschlagszahlungen zu leisten und werden beim kommenden Termin wahrscheinlich gar nichts zahlen. Sie verlieren darum ihre Pachtung nicht; du aber, wenn du nicht pünktlich und vollständig zahlst, nun, du weißt ja, deine Frau hat es eben gesagt …«

»Mein Bruder in Birnbaum …«

»Richtig, gnädige Frau, Ihr Herr Bruder in Birnbaum zahlt, wie er überall stöhnend erzählt, dem Verpächter die gleiche Pacht. Aber, was dem einen Kinde recht ist, ist dem andern Kinde – zu teuer. Man hört nämlich überall, daß Ihr Bruder in Wirklichkeit nur neunzig Pfund bezahlt, seinem Vater aber hat versprechen müssen, nur von hundertfünfzig Pfund zu reden. Warum er das tun soll …«

»Mein lieber Studmann, das wäre ja so etwas wie Betrug. Ich bitte dich sehr …«

»Mein Bruder … mein Vater …«

»Kann man diese Pachtsumme also schon als recht hoch bezeichnen, so könnte ja Neulohe immerhin ein so vorzügliches Gut sein, daß selbst eine ungewöhnlich hohe Pachtsumme berechtigt wäre. Ich habe in diesem Büro«, sagte Herr von Studmann und ließ einen ernsten, mißbilligenden Blick über die Regale schweifen, »keine mustergültige Ordnung vorgefunden. Nein, verzeihe bitte, Prackwitz. Aber eines war mustergültig: nicht ein Buch aus der Zeit deines Vorgängers war mehr aufzufinden, nichts, aus dem man über Erträge Neulohes in früheren Jahren Aufschluß bekommen könnte. Aber schließlich gibt es andere Wege. Der Leutevogt hat Druschlisten geführt, auf dem Finanzamt gibt es Aufzeichnungen, die Händler führen Eingangsbücher – nun, mit einiger Mühe bin ich schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß Neulohe auch in früheren Jahren nur einen Durchschnittsertrag von fünf bis sechs Zentner Roggen auf den Morgen hatte …«

»Viel zu niedrig, Studmann!« rief der Rittmeister triumphierend. »Du bist eben kein Landwirt …«

»Ich habe bei dem – Verpächter eine Stichprobe gemacht. Er wußte ja nicht, warum ich fragte, er wollte mich ein bißchen reinlegen, er denkt wie du, ich bin kein Landwirt … Aber ich bin ein Mann, der rechnen kann; wer reingelegt wurde, war der andere, Herr von Teschow. Der Verpächter hat mir gegen seinen Willen bestätigt: fünf bis sechs Zentner Durchschnittsertrag, mehr darf man nicht annehmen. Es ist eben viel Sand in den Außenschlägen, sagte der Verpächter.«

»Aber dann zahle ich ja …« Der Rittmeister hielt bestürzt inne.

»Jawohl«, sagte Studmann unbeugsam, »du zahlst fünfundzwanzig bis dreißig Prozent deiner Roherträge als Pacht. Das dürfte wohl kaum tragbar sein. – Wenn Sie sich erinnern wollen, gnädige Frau«, erklärte Herr von Studmann freundlich, »damals, im Mittelalter, zahlten die Bauern an ihren Grundherrn den ›Zehnten‹, den zehnten Teil ihrer Roherträge also. Das war nicht tragbar, schließlich empörten sich die Bauern und schlugen ihre Herren tot. Ihr Herr Gemahl zahlt nicht den Zehnten, nein, er zahlt den Vierten – aber einem Totschlag möchte ich doch widerraten.«

Herr von Studmann lächelte, er war glücklich. Das Kindermädchen konnte erziehen, der Lehrer durfte belehren – er vergaß darüber ganz die Verzweiflung seiner Hörer. Ein Kind, dem sein Spielzeug entzweigegangen ist, findet es nicht sehr tröstlich, wenn es darüber belehrt wird, wie es dieses Entzweigehen hätte vermeiden können …

»Aber was sollen wir tun?« flüsterte die gnädige Frau tonlos. »Was sollen wir bloß anfangen –?«

»Mein Schwiegervater hat sicher keine Ahnung von alldem«, sagte der Rittmeister. »Man muß ihm das einmal vorstellen. Du bist so geschickt und ruhig, Studmann …«

»Und das Schweigegebot an den Sohn in Birnbaum?«

Der Rittmeister verstummte.

Von neuem begann Herr von Studmann: »Bis hierher kann man noch immer an einen Verpächter glauben, der sehr gern Geld verdient. Zu gerne. Etwas gierig, nicht wahr? Aber leider ist es noch schlimmer …«

»Bitte nicht, Herr von Studmann! Es ist jetzt wirklich genug.«

»Nein, höre wirklich auf …«

»Man muß alles wissen, sonst handelt man falsch. Die Roggenpacht beträgt dreitausend Zentner – anderthalb Zentner pro Morgen –, sie entspricht einer Gutsgröße von zweitausend Morgen. Und als so groß ist das Gut auch im Pachtvertrag angegeben …«

»Stimmt das auch wieder nicht?«

»Ich habe immer gehört, daß Neulohe zweitausend Morgen groß ist, schon viel früher«, sagte die gnädige Frau.

»Es ist auch richtig, Neulohe ist zweitausend Morgen groß«, bestätigte Herr von Studmann.

»Na also –!« rief der Rittmeister aufatmend.

»Neulohe ist zweitausend Morgen groß – aber wie groß ist die Fläche, die du bestellst, Prackwitz? Von den zweitausend Morgen gehen Wege und Unland ab, Feldraine, Wasserlöcher in den Schlägen, Steinhaufen. Es gehen auch ein paar Stücke ehemaliges Ackerland ab, die mit Fichten aufgeforstet sind – da kannst du dir einen Weihnachtsbaum holen, Prackwitz, ohne den Forstbesitzer fragen zu müssen …«

»Na ja, so Kleinigkeiten. Ich weiß, die eine Kuschelecke …«

»Es geht aber auch ab: der Riesenhofplatz, die Leutehäuser, hier das Beamtenhaus, deine Villa mit Garten, es geht auch ab –: das Schloß und der Park –! Ja, mein lieber Prackwitz, du zahlst deinem Schwiegervater Roggenpacht noch für das Haus, in dem er wohnt!«