Cover

Tomas Sjödin – Wo du richtig bist | Vom Aufbrechen und Heimatfinden – Aus dem Schwedischen von Hanna Schott – SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22896-0 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26817-1 (lieferbare Buchausgabe)

© der deutschen Ausgabe 2017
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Originally published in Swedish under the title: Den som hittar sin plats tar ingen annans
Original edition published in Swedish under the title: »Den som hittar sin plats tar ingen annans« by Libris förlag, Örebro, Sweden.
Copyright © Libris förlag.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Irtsya (shutterstock.com)
Satz: Christoph Möller, Hattingen

Meinen Kollegen

Inhalt

Über den Autor

Ich glaube, dass es mit dem Namen anfing

Caravaggio, Thomas und ich

Auch er kam aus dem Norden

Reise mit dem Wind

»The first cut is the deepest«

Es wimmelt von Thomassen in Kerala

Hingabe ist der Schlüssel zum Leben

»Kann das hier vielleicht mein Platz werden?«

Mein Kerala heißt Haga

Wie die Sonnenblume sich ausrichtet

Glück ist ein Nebenprodukt

Auf dem Thomasweg

Mein Leben auf ein »Ja« bauen

Der Radiotest

Es beginnt mit einem Ameisenschritt

Mein Platz an Gottes Herzen

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Tomas Sjödin Tomas Sjödin, geboren 1959, ist ein schwedischer Schriftsteller und Pastor und in seiner Heimat durch viele Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Seine Bücher und Kolumnen sind oft autobiografisch geprägt und humorvoll. »Warum Ruhe unsere Rettung ist« war auch in Deutschland ein großer Erfolg.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Ich glaube, dass es mit dem Namen anfing

Es ist Donnerstag, der 7. Juli im Sommer 2016. Ich bin an meinem Arbeitsplatz, in der Smyrna-Kirche, auf der Grenze zwischen den Stadtteilen Haga und Vasastaden, im Herzen von Göteborg. Es ist 10 Uhr 30. Noch eine halbe Stunde, dann werden wir die großen Glastüren öffnen, die auf den Hagaplatz führen, und mit der Essensausgabe anfangen, danach das gemeinsame Singen und der Abendmahlsgottesdienst. Aber schon jetzt bilden die Hilfe suchenden Menschen da draußen eine lange Schlange. Ob bei Sonnenschein oder Schneesturm, der Anblick ist immer derselbe. Wenn wir die Türen öffnen, breitet sich ein mittleres Chaos aus. Alle wollen als Erste hinein, alle wollen sicherstellen, dass sie auch eine der Lebensmitteltüten bekommen, die wir verschenken.

Meine Kollegen und ich bilden einen Kreis um den Tisch im Zimmer des Küsters und sammeln uns für den beginnenden Arbeitstag. Wir verteilen die Aufgaben, erinnern einander daran, was unser Auftrag ist, und fragen, ob etwas Besonderes ansteht.

An diesem Donnerstag sieht unser Stab so aus: Zwei sind seit Langem krankgeschrieben, einige tragen ein Tattoo auf dem Arm – sie haben sich das Jahr stechen lassen, in dem sie einst schweren Missbrauch erlitten haben – und zwei sind Pastoren. Einer hat mit 65 Jahren gerade seine Berufslaufbahn in der Pflege beendet, um Diakon zu werden, ein Betriebswirtschaftsstudent hat zurzeit Semesterferien, ein anderer ist an der Technischen Hochschule. Drei sind schon seit Längerem Rentner. Zwei sind aus dem Iran nach Schweden gekommen, um hier einen Platz zu finden, an dem sie ein Leben führen können, das lebenswert ist. Außerdem sind da noch zwei, die an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilnehmen.

Da stehen wir im Halbdunkel und bilden einen Kreis, einen Ring. Niemand hat gesagt, dass wir uns so hinstellen sollen, es hat sich so ergeben. Als wollten wir mit unseren Körpern das ausdrücken, was wir sind: ein Ring. In diesem Moment geht mir auf, dass auch ich in diesen Ring gehöre. Dass ich hier einen Platz habe, der mich von Grund auf verändert hat. Ich habe mehr als fünfzig Jahre auf der Welt verbracht, mehr als zehn Bücher geschrieben, es geschafft, mehr als dreißig Jahre Pastor unserer Gemeinde zu sein, drei Kinder gezeugt und zwei von ihnen verloren, getrauert und gelernt, mit Trauer zu leben. Aber erst jetzt habe ich begriffen, dass Menschsein heißt, seinen Platz zu finden.

An anderen Orten höre ich, wie ich als Autor vorgestellt werde, als Kolumnist einer großen Tageszeitung oder als Stimme, die man vom Radio kennt. Hier kümmert das niemanden. Die Menschen, die wir heute treffen werden, wissen kaum etwas von uns. Sie sind einzig mit Überleben beschäftigt.

Man könnte sagen, dass ich und meine engsten Kollegen die Arbeit leiten, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir oder zumindest ich bin ein Teil dieses Rings, ein Teil von etwas Größerem. Ich brauche diesen Platz hier, und die anderen brauchen ihren Platz ebenso. So wie wir hier stehen, kämpfen wir nicht um unseren Platz – wir schaffen ihn. Und manchmal, wenn ein neuer Freiwilliger dazukommt, dann erzählen wir einander von unseren Wegen und wie wir aus ganz unterschiedlichen Hintergründen kommend hier zusammengefunden haben.

An diesem Tag, dem 7. Juli, muss ich mich kneifen, um wirklich zu kapieren, dass ich meinen Platz gefunden habe. Ich bin einer von ihnen. Meine Geschichte ist ganz anders als die der anderen, aber was ich zu erzählen habe, fügt sich zu den anderen Geschichten. Ich bin Tomas. Und dieser Name ist hier nicht unwichtig.

Ich glaube sogar, alles begann mit dem Namen. Und mit einer lang gehegten Sehnsucht: mehr über meinen Namensvetter zu erfahren, über Thomas, den am häufigsten missverstandenen Jünger Jesu. Es geht natürlich um mehr als den Namen, den wir gemeinsam haben, schließlich ist Thomas nicht gerade ein seltener Name. 84 493 Menschen in Schweden heißen mit Vornamen Tomas, 45 von ihnen schreiben sich mit einem Z am Ende. Unser Name bedeutet nicht Zweifler, wie die meisten glauben, sondern Zwilling. Als mir klar wurde, dass es dann ja einen Zwillingsbruder oder eine Zwillingsschwester des biblischen Thomas gegeben haben muss, nahm meine Suche Fahrt auf.

Wer war der andere Zwilling, der, der nie genannt wird? Oder ist genau das der springende Punkt: dass all die Millionen Menschen, die sich im Laufe der Geschichte mit Thomas verwandt fühlten, seine Zwillingsbrüder und -schwestern sind? Alle, die einfach glauben wollten, aber kämpfen mussten, um vertrauen zu können? Die wie Thomas sehen wollten, ehe sie glauben konnten – in seinem Fall die Wundmale der Kreuzigung? Ich sehe all diese Leute, als hätten sie im Laufe der Geschichte eine lange Schlange gebildet – und ich selbst stehe ganz an ihrem Ende.

Seit mein Kinderglaube zu wanken begann, habe ich meine Zuflucht bei dem Jünger Jesu gefunden, mit dem ich mich am ehesten verwandt fühlte. Für mich ist er nicht der Zweifler. Er ist Didymos, der Zwilling, der Ambivalente, der Patron der Realisten.

Was die Bibel über ihn sagt, ist äußerst knapp, dennoch ist seine Persönlichkeit deutlich ausgeleuchtet. Er selbst scheint nicht immer zu wissen, was er glaubt, aber er bleibt sich immer treu. Die wenigen Worte, die von ihm überliefert sind, geben uns genau wie seine Lebensgeschichte einen deutlichen Eindruck davon, wie vielschichtig seine Persönlichkeit ist, die Persönlichkeit eines Menschen, der Gegensätze verbindet, und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig.

Im Laufe der Jahre habe ich viele Gespräche mit Thomas geführt, habe bei ihm Schutz gesucht, wenn ich mich den Glaubensstarken unterlegen fühlte, habe mich an ihn gehalten, wenn mir vorgeworfen wurde, kleingläubig zu sein. Und vor ein paar Jahren dann hatte ich die Eingebung, der nächsten Spur zu folgen, der ich in Sachen Thomas begegnen würde, und wäre sie noch so verwischt.

Anfänglich war ich gar nicht so sehr am historischen Thomas interessiert, und ich bin mir sicher, dass er selbst es nicht gewollt hätte, als jemand betrachtet zu werden, dem man folgen sollte, und erst recht nicht als jemand, dem man ein literarisches Denkmal setzt. Aber schon bald wurde ich von seiner Geschichte regelrecht verschluckt.

Als Zwillingsseele habe ich mich an ihn gehängt – ohne zu ahnen, wohin mich das führen würde. Ich begann mit dem Gedanken zu spielen, ich selbst wäre sein Zwilling, der andere, unbekannte, ein Zwilling im Zweifel und im Glauben. Ich ließ Thomas schließlich jemanden sein, mit dem ich mich über alles unterhalten konnte, von Ambivalenz bis Abenteuer. Und ich versuchte ein Muster in dem zu erkennen, was sich als seine Geschichte erwies: der Weg von der Ausgrenzung hin zur Aufgabe und zum Dienst an etwas, das weit größer war als alles, was er hätte ahnen können.

Dass das historische Material so dürftig ist, wie es nun mal ist, betrachte ich nicht als Nachteil. Ich sehe darin eher die Möglichkeit, verschiedene Deutungen und gedankliche Wege auszuprobieren. Es lässt auch dem Gedanken an den anderen Zwilling mehr Platz. Und: Ich kann meine eigene Geschichte in die Lücken hineinschreiben.

Die meisten glauben, der Name des Thomas sei von Anfang an sowohl ein Titel als auch ein Rufname gewesen. Mit dieser Bezeichnung ging man auf Nummer sicher. Da Zwillinge ja von vielen verwechselt werden – etwas, womit vor allem eineiige Zwillinge zu leben lernen müssen –, ist es das Sicherste, man sagt einfach nur »der Zwilling«, wenn man einen der beiden meint.

Einige glauben, dass Thomas der Zwillingsbruder von Jesus war, was den theologischen Begriff des divine double prägte. Ich selbst halte den Gedanken für abwegig. Wenn es so gewesen wäre, hätten die Berichte, die die Evangelien von Jesu Geburt in Bethlehem geben, es erwähnt.

Was aber lockt mich da? Was mich anzieht, ist ein Gefühl, für das Thomas steht: vom innersten Kreis der Jünger ausgegrenzt zu sein. Mit anderen Worten, das Gefühl, nicht gut genug zu sein für die »geistlichen Eliten«. Was mich anzieht, ist auch die freimütige Art, in der er den Gottessohn anspricht. Was mich anzieht, ist sein Mut, grundehrlich zu sein, lästig zu werden und sich das Recht herauszunehmen, zu zweifeln und Dinge infrage zu stellen, auch wenn niemand sonst das zu tun scheint. Was mich anzieht, ist aber auch sein Mut, sich überzeugen zu lassen, wenn neue Fakten auftauchen, dass er so schnell von einer Haltung des Zweifels zu einer Haltung des Anbetens zu wechseln wagt. Im Zeitalter des Suchens ist es wichtig anzumerken, dass es nicht verwerflich ist, tatsächlich zu finden, was man gesucht hat.

Mich überkam eine maßlose Neugierde, was Thomas’ große Seereise nach Indien angeht. Denn wenn man seinen Fußspuren folgt, landet man zuletzt immer dort. Vieles spricht dafür, dass der Jünger Jesu, der am ehesten als »Wackelkandidat« betrachtet wurde, am Ursprung einer Kirche steht, die heute zirka sieben Millionen Gläubige zählt und durch die Jahrhunderte von einem trotzigen Glauben bestimmt war. Eine Kirche, ähnlich zwiegespalten wie Thomas’ Gefühle oder, wenn man will: eine Kirche mit vielen verschiedenen Erscheinungsformen.

In einem meiner Bücher – Reservkraft (Kraftreserve)1 – habe ich über das Wort »Gemeinschaft« geschrieben, ein Schlüsselwort unseres Lebens. Das Buch erschien 2004. Seitdem hat sich in unserer Familie, wie ich sie dort beschrieben habe, viel verändert. Zwei unserer Söhne, Karl-Petter und Ludvig, sind uns im Alter von 15 und 14 Jahren genommen worden. In der Leere, die die beiden Jungen zurückgelassen haben, leuchtet das Wort Gemeinschaft nur noch heller.

Ich beschließe, eine besondere Gemeinschaft zu suchen und mich für eine Zeit in die Gesellschaft des Jüngers, Apostels und Missionars Thomas zu begeben. Es ist eine Entscheidung, die mich zu einer langen Reise führt, einer Reise, bei der sich herausstellen wird, dass es um mich selbst geht und um uns alle, die wir unseren Platz im Leben suchen.