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Bertelsmann Stiftung · Das Progressive Zentrum (Hrsg.)

Soziale
Marktwirtschaft:
All inclusive?

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Industrie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Dr. Henrik Brinkmann

Lektorat: Heike Herrberg

Herstellung: Christiane Raffel

Umschlaggestaltung und Layout: Büro für Grafische Gestaltung – Kerstin Schröder, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-805-1 (Print)

ISBN 978-3-86793-825-9 (E-Book PDF)

ISBN 978-3-86793-826-6 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Industrie vs. Dienstleistung: Was sind die Voraussetzungen für das spezifisch deutsche Produktionsmodell und was muss Politik dazu beitragen?

Henrik Brinkmann, Manuel Gath

Industrie 4.0 als innovatives Arrangement zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft

Wolfgang Schroeder

Das deutsche Produktionsregime und seine Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik. Industrie vs. Dienstleistung – oder doch etwas ganz Neues?

Werner Abelshauser

Industrie vs. Dienstleistungen? Plädoyer für eine integrierte Sichtweise

Alexander Eickelpasch

Die Autoren

Abstract

INDUSTRIE VS. DIENSTLEISTUNG: WAS SIND DIE VORAUSSETZUNGEN FÜR DAS SPEZIFISCH DEUTSCHE PRODUKTIONSMODELL UND WAS MUSS POLITIK DAZU BEITRAGEN?

Henrik Brinkmann, Manuel Gath

Zur Buchreihe

Die Bundesrepublik Deutschland steht gut da. Wirtschaftliche Kennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt, die Exportquote oder auch die Beschäftigungsentwicklung und das Steueraufkommen zeichnen das Bild einer rundum gesunden und vor ökonomischer Stärke strotzenden Volkswirtschaft. Ein ähnlich einheitliches Bild von unserer Gesellschaft zu zeichnen, will hingegen nicht gelingen: In der öffentlichen, politischen und akademischen Debatte geht es immer häufiger um soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Menschen, Regionen, ja selbst Branchen wie der exportorientierten Industrie auf der einen und dem lokalen Dienstleistungsgewerbe auf der anderen Seite. Dabei ist nicht allein entscheidend, ob der Befund einer ungerechter gewordenen Gesellschaft empirisch in all seinen Facetten Bestand hat. Schon die Debatte beweist, dass das Thema gesellschaftlich relevant ist.

Die große Zahl ökonomischer und ökologischer Krisen der vergangenen Jahre hat vielen die Grenzen des bisherigen Wachstumsmodells deutlich gemacht. Die westlichen Industriegesellschaften, auch Deutschland, müssen sich kritisch hinterfragen lassen.

Zeitgleich lässt sich hierzulande ein Verlust von Vertrauen in die gesellschaftliche Leistung unserer Wirtschaftsordnung beobachten. Spätestens seit der weltweiten Finanzkrise hat sich nicht nur global, sondern auch in Deutschland die Einkommens- und Vermögensungleichheit in vielen Bereichen erhöht – die Chancen hingegen sind geringer geworden. Unser gesellschaftliches Selbstverständnis beinhaltet das Versprechen von Bildungs- und Entwicklungschancen für das Individuum und die Ermöglichung von sozialem Aufstieg. Wenn diese Perspektive für immer größere Teile der Gesellschaft nicht realisierbar ist, gefährdet das die Akzeptanz für unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.

Eine der Grundideen der Sozialen Marktwirtschaft ist die einer Markt- und Wettbewerbsordnung, in der wirtschaftliches Wachstum und sozialer Ausgleich Hand in Hand gehen. Vor diesem Hintergrund stellen sich zentrale Fragen, auf die Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Antworten finden müssen. Werden die Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft noch eingelöst? Wie krisenfest bzw. -anfällig ist unser Wirtschaftssystem? Welche Anforderungen stellen die Bürgerinnen und Bürger an unsere Wirtschafts- und Sozialordnung? Vor welchen Herausforderungen stehen wir in Zukunft wirtschaftlich und gesellschaftlich? Kurzum: Was muss getan werden, um weiterhin für alle Menschen in Deutschland ein gutes Leben zu ermöglichen?

Im Rahmen mehrerer Diskussionsrunden mit Vordenkern1 der in Deutschland etablierten Parteien, Wissenschaftlerinnen und Unternehmern haben die Bertelsmann Stiftung und Das Progressive Zentrum gemeinsam mit den Teilnehmenden Thesen, Positionen und Konzepte erörtert. Daraus ist ein vielfältiges Leitbild für eine zukunftsfähige und gesellschaftsorientierte Soziale Marktwirtschaft entstanden, die ein inklusives Wachstum möglich machen soll. Der vorliegende Band soll Diskussionen anregen und Denkanstöße geben, mit welchen Maßnahmen unser Wirtschaftsmodell zukunftsfest gemacht werden kann. Unser Ziel ist es, heute einen Beitrag zu leisten, damit die Weichen für morgen richtig gestellt werden.

Zu diesem Band

Lange ist man davon ausgegangen, dass hoch entwickelte Industriegesellschaften, allen voran die westeuropäischen Industrieländer, sich im Laufe der Zeit zwangsläufig zu Dienstleistungsgesellschaften entwickeln würden. Dennoch gehört Deutschland zu den ganz wenigen OECD-Ländern, die ihre industrielle Wertschöpfung relativ stabil halten konnten. Von einer Deindustrialisierung kann hierzulande keine Rede sein. Doch es ist unbestritten, dass der Dienstleistungssektor wächst und mit ihm die breite Auffächerung aller möglichen Arten von Dienstleistungsgewerbe: Von Logistikunternehmen bis zu Friseursalons ziehen sich industrielle wie soziale Dienstleistungen kreuz und quer durch die Gesellschaft.

Industrie und Dienstleistungen sind keine Gegensätze. In Deutschland bilden auf industrielle Anker ausgerichtete Dienstleistungen sogar das wirtschaftliche, aber auch das gesellschaftliche Rückgrat. So sind durch die enge Verzahnung von Industrie und Dienstleistungen nicht nur immer wieder Innovationen in die Gesellschaft getragen worden, sondern das Arbeiten in der Produktion und die Teilhabe am Wertschöpfungsprozess bilden für viele Menschen auch nach wie vor eine wichtige Identifikationsfläche. Was dem nordrheinwestfälischen Ruhrgebiet der Kumpel, das ist dem hessischen Rüsselsheimer der Autobauer.

Diese regional gegründete Identifikation hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist geprägt von regionalen Verbundsystemen, die als Netzwerk von industrieller Fertigung und angegliederten Dienstleistungsunternehmen langfristig und systematisch interagieren. Diese Verflechtung spezialisierter Dienstleistungen mit einem industriellen Kern macht das Spezifikum der deutschen Wirtschaftsstruktur aus und will zu den Debatten über Post-Industrie oder einen Rückbau des verarbeitenden Gewerbes nicht recht passen.

Jede Massengesellschaft ist auf ein gutes Zusammenspiel zwischen Unternehmen und Individuen angewiesen. Grundpfeiler dieses Zusammenspiels, für das die Identifikation eine Voraussetzung ist, war der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist kein Zufall, dass diese Periode der Prosperität im kollektiven Gedächtnis durchweg positiv besetzt ist. Nicht immer wird dabei die Rolle starker, sozialpartnerschaftlich agierender Gewerkschaften ausreichend gewürdigt. Diese haben dazu beigetragen, dass der Wohlstand durch steigende Löhne und wachsende Beschäftigung bei vielen Menschen ankam. Sie haben aber immer auch Anpassungen möglich gemacht. Die enge Symbiose von Kapital und Arbeit, auch als »Rheinischer Kapitalismus« bezeichnet, über Jahrzehnte unterstützt und befördert von stabilen politischen wie sozialpartnerschaftlichen Institutionen, hat den traditionellen Industrien über alle Umbrüche ermöglicht, sich technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen und auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu bleiben.

Durchaus als Teil des institutionellen Gefüges ist auch das duale Ausbildungssystem zu verstehen. Eine exzellent qualifizierte und gut bezahlte Facharbeiterschaft ist die Basis für das deutsche Wirtschaftsmodell. Aus historischer Perspektive stellt sich die Frage, ob es klug ist, die Antwort auf den viel zitierten Fachkräftemangel allein in einer immer weitergehenden Akademisierung zu suchen. Vielleicht ist eine duale Ausbildung auf der Höhe der Zeit, die flexibel auf technische und gesellschaftliche Veränderungen reagiert und individuelle Lösungen zulässt, ein wichtiger Teil der Antwort. Dies gälte dann für technische Berufe in der Industrie, aber ebenso für soziale Dienstleistungen.

Es wird immer eine gesellschaftliche Herausforderung bleiben, sich kontinuierlich und stets aufs Neue auf Veränderungen einzustellen, zu reagieren und sich anzupassen. Auch hier ist der Blick zurück hilfreich. Die Geschichte der deutschen Wirtschaft, besonders der Industrie, ist vor allem eine Geschichte der Innovation und des fortschreitenden Wandels. Während in anderen Weltregionen die Industrie teils drastisch an Relevanz und Wettbewerbsfähigkeit, aber auch an Innovationsfähigkeit verloren hat, haben Unternehmen hierzulande immer wieder neue Ideen entwickelt, umgesetzt und auf diese Weise neue Märkte erschlossen.

Gehen wir aber auch zukünftig so vorausschauend und erfolgreich die vor uns liegenden Herausforderungen an? Nicht nur die Bedingungen einer in die Defensive geratenen Globalisierung fordern unser exportgetriebenes Wachstumsmodell fortwährend heraus – die Digitalisierung aller Lebensbereiche macht auch vor unserer Wertschöpfung nicht halt. Deutschland ist das Land der Hidden Champions, die aus dem Mittelstand heraus oft im industriellen Sektor zu weltweiten Marktführern erwachsen sind. Zu den größten Unternehmen der Welt gehören heute jedoch hauptsächlich amerikanische IT-Konzerne, die etablierte Strukturen infrage stellen, Marktstrukturen aufbrechen und unser Verständnis von Industrie und Dienstleistungen völlig verändern. Es stellt sich die Frage, ob und wie wir Wertschöpfung neu denken müssen, um wegzukommen von einem Fokus auf Produktion – hin zu einem Fokus auf Qualifikation. Wenn Innovation künftig nicht mehr nur auf Produkte bezogen werden kann, sondern bereits auf das grundlegendere Unternehmensverständnis, müssen wir ganz anders und neu über die erforderlichen Qualifikationen von Arbeiterinnen und Arbeitern nachdenken.

Insbesondere stellt der digitale Wandel gänzlich neue Anforderungen an Qualifizierung und Weiterbildung, aber auch an politische Weichenstellungen und strategische Wirtschaftspolitik. Wolfgang Schroeder stellt dar, welche Rolle die Industrie 4.0 als wirtschaftlich-politische Antwort auf die Digitalisierung in Deutschland spielt. Er beschreibt die deutsche Debatte über Industrie 4.0 als am evolutionären Wandel bereits bestehender Prozesse ausgerichtet und geht der Struktur dieses Diskurses auf den Grund. Herausforderungen und Bedingungen, die an eine Digitalisierung unserer Industrie geknüpft sind, seien beispielsweise Datensicherung, Beschäftigungssicherung und Weiterbildungs- sowie Qualifizierungsanpassungen. Letztlich ist seine Einschätzung, dass sich unsere Form der Wertschöpfung nur durch eine inklusive Gestaltung dieser Transformationsprozesse erhalten lässt.

Die Gesellschafts- und Sozialpolitik hat in jedem Land ganz spezifische kulturelle Wurzeln, die nicht beliebig verändert werden können. Für die Bundesrepublik bilden funktionierende Institutionen der Sozialpartnerschaft und soziale Kohäsion handfeste komparative Vorteile. Die Soziale Marktwirtschaft ist bis heute Ausdruck dieses gewachsenen Verständnisses von Wachstum und Ausgleich.

Werner Abelshauser arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass schon längst nicht mehr von einer industriellen Revolution die Rede sein kann, sondern man vielmehr von wirtschaftlichen Revolutionen sprechen müsse, die sich fortlaufend weiterentwickeln. Auch er betont die historisch gewachsenen sozialen wie ökonomischen Vorteile des deutschen Produktionsmodells, die bis heute einen Standortvorteil Deutschlands im globalen Wettbewerb markierten. Eine moderne Industriepolitik könne auf dieser Erfolgsgeschichte aufbauen. Man dürfe sie allerdings nicht politisch motiviert auf der grünen Wiese planen, sondern müsse an den existierenden oder neu entstehenden industriebasierten Ankern andocken. Diese industriellen Kerne und ihr Dienstleistungsumfeld gelte es dann, ganz in der guten Tradition der Sozialen Marktwirtschaft, langfristig zu begleiten und zu fördern, von Abelshauser als »Ordnungspolitik der sichtbaren Hand« bezeichnet.

Die These, dass hoch entwickelte Volkswirtschaften sich zu reinen Dienstleistungsgesellschaften entwickelten, nimmt Alexander Eickelpasch zum Anlass, einen empirischen Blick auf die Entwicklung in Deutschland zu werfen. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Wertschöpfung sei zwar rückläufig, aber gleichzeitig gebe es große Teile industrieinduzierter Dienstleistungen, die untrennbar mit industrieller Arbeit verknüpft seien. Der Autor plädiert daher für eine integrierte Perspektive und schlägt den Begriff »Netzwerk Industrie« vor, um den strukturellen Veränderungen innerhalb des industriellen Sektors, auch mit Blick auf die Beschäftigung, Rechnung zu tragen.

1Für eine bessere Lesbarkeit verwenden wir meist entweder die weibliche oder die männliche Form personenbezogener Substantive. Wenn nicht anders erwähnt, sind damit beide Geschlechter gemeint.

INDUSTRIE 4.0 ALS INNOVATIVES ARRANGEMENT ZUR WEITERENTWICKLUNG DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

Wolfgang Schroeder