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W. A. Hary

TEUFELSJÄGER: Die 3. Kompilation





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Wichtiger Hinweis

Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li) ist jederzeit nachbestellbar.

 

TEUFELSJÄGER

 

Die 3. Kompilation

W. A. Hary: „Diese Kompilation beinhaltet die Bände 11 bis 15 der laufenden Serie!“

 

Die Schatten der Nacht lauern überall. Und sie würden siegen. Würden! Doch es gibt sie tatsächlich - die Kämpfer des Guten. Nicht immer sind sie erfolgreich, denn selten haben sie Gelegenheit, sich im Kampf gegen das Böse zu trainieren. Weil zu oft der Tod sie vorzeitig ereilt, ehe sie aus ihren Fehlern zu lernen vermögen. Und nicht nur der Tod, denn es gibt Schlimmeres…

 

Achtung: Alte Rechtschreibung, denn die Romane „spielen“ in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts! Zur Erinnerung: Da gab es auch noch kein „Handy“!

 

Impressum

Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de

ISSN 1614-3329

Copyright dieser Fassung 2015 by www.HARY-PRODUCTION.de

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: wah@HaryPro.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

Covergestaltung: Anistasius

 

Vorwort

 

Die Schatten der Nacht lauern überall. Und sie würden siegen. Würden! Doch es gibt sie tatsächlich - die Kämpfer des Guten. Nicht immer sind sie erfolgreich, denn selten haben sie Gelegenheit, sich im Kampf gegen das Böse zu trainieren. Weil zu oft der Tod sie vorzeitig ereilt, ehe sie aus ihren Fehlern zu lernen vermögen. Und nicht nur der Tod, denn es gibt Schlimmeres…

Einer von ihnen, einer der Kämpfer gegen das eigentlich Böse, hieß John Holleway, und er könnte jetzt bestätigen, was ich behaupte, wäre er hier und heute da.

Ob er damals mit seiner Mission scheiterte oder nicht - davon soll meine Geschichte berichten.

Und wenn er scheitern sollte, hätte dies nicht nur Folgen für ihn selber, sondern für einen ganzen Ort, und von hier ausgehend für das ganze Land und letztlich vielleicht sogar... für die ganze Welt!

Ja, ich berichte davon, denn es hat letztlich auch meinen Weg beeinflußt. Obwohl diese Ereignisse lange vor dem Zeitpunkt stattfanden, da die unergründliche Vorsehung mich mit ins Spiel gebracht hat. Ja, lange davor, und deshalb war John völlig auf sich allein gestellt.

Nun, nicht ganz so völlig allein, wie es sich noch herausstellen sollte, aber zumindest ohne meine Hilfe, der ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal etwas von diesen Vorgängen ahnte.

Drücken wir John und den Seinen die Daumen. Hoffen wir, daß er Gelegenheit haben wird, aus seinen Fehlern zu lernen, ehe es für ihn und alle anderen zu spät sein wird...

Euer Mark Tate

 

1


John Holleway warf einen Blick auf die Borduhr: Kurz vor sechs Uhr am späten Nachmittag. Er atmete tief durch. Feierabend. Bald würde er bei seiner Familie sein.

Er rekelte sich etwas im Fahrersitz und blickte hinaus. Die öde Landschaft der Ausläufer der Pennine Chaine wurde abgelöst von stärkerem Pflanzenbewuchs. Kein Fremder ahnte, daß sich inmitten der weiten Öde eine Insel befand: Bredhouse, ein Dorf, beherrschend ein Tal, das eingebettet war in die felsigen Ausläufer des Highlandes, die wie braune Krallenhände in das Land griffen. Bredhouse, zu dem nur eine schlechte Straße führte und wo sich laut der Meinung vieler, die in der Kreisstadt Furlington wohnten, Hase und Fuchs gute Nacht sagten. Bredhouse, in dem John Holleway seit Jahren mit seiner Familie wohnte.

Er selbst war gebürtiger Furlingtoner. Seine Frau hatte den größten Teil ihres Lebens in Bredhouse verbracht. Den restlichen Teil war sie in der Kreisstadt gewesen, wo sie sich kennengelernt hatten. Später, als ihre Eltern so plötzlich nacheinander gestorben waren, hatten sie das alte Haus in Bredhouse renoviert und waren eingezogen. Jahre lag das schon zurück. Zwei Kinder hatten sie inzwischen, und John Holleway fuhr jeden Werktag die über vierzig Meilen nach Furlington und zurück.

Die Landschaft bekam bäuerlichen Charakter. Holleways Wagen kletterte die letzte Steigung hinauf, und dann lag das offene Tal vor ihm. Mitten durch den Ort plätscherte ein breiter Bach, der außerhalb auf Nimmerwiedersehen einfach im Boden versickerte und um diese Jahreszeit eiskaltes Wasser mit sich führte. Die Bewohner von Bredhouse hatten ihm einen seltsamen Namen verliehen: Bloody River. John Holleway hatte bis dato noch nicht herausfinden können, was die Dörfler dazu bewegt hatte, ihn so zu nennen.

Das Verhältnis, das John zu den Menschen in Bredhouse hatte, konnte man als gut bezeichnen. Dennoch gelang es ihm nicht, etwas über die alten Mythen und Legenden, denen in solch ländlicher Umgebung stets große Bedeutung beigemessen wird, zu erfahren. Er war ihr Freund, aber er war trotzdem keiner von ihnen, obwohl sie ihm das nicht offen zeigten.

Das Tal mit dem Örtchen war eine Sackgasse. Manchmal auch eine Mausefalle, und zwar im Winter, wenn der Schnee den Minipaß, der einziger Zugang zu Bredhouse war, unpassierbar machte. Dann waren sie mitunter bis zu einem Monat lang von der Außenwelt praktisch abgeschnitten, denn die Straße war so schlecht, daß sich niemand mit einem Schneepflug hierher wagte.

Aber John Holleway hatte sich an diese Dinge inzwischen gewöhnt. Er redete sich ein, daß es nichts ausmachte, wenn er seinen Jahresurlaub den Umständen entsprechend nur während der schlimmsten Zeit im Winter nehmen konnte.

Er erwachte aus seinen Gedanken. Erstaunt warf er einen Blick in die Runde. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er den Wagen angehalten hatte. Er runzelte die Stirn. Warum hatte er das getan?

Er überlegte. Da war ein seltsam unruhiges Gefühl in ihm. Unwillkürlich stieß er den Wagenschlag auf und verließ das Fahrzeug. Weit vor ihm waren die mächtigen Rücken der Bergriesen. Sie beherrschten den gesamten Horizont. Der Wind war feucht und kühl, wie der Atem eines lebenden Toten. John Holleway schauderte es bei diesem Vergleich, obwohl er normalerweise eine ziemlich nervenstarke Natur war. Es gab praktisch nichts, was ihn erschüttern konnte.

Es war völlig still hier.

Der Wind wehte zum Dorf hin und verhinderte es, daß irgendein Laut zu dem einsamen Mann heraufdrang. Die Straße wurde sehr dünn frequentiert. John Holleway sah keine Menschenseele, und trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er konnte sich das nicht erklären, aber etwas Unbestimmbares lag in der Luft.

John wurde ärgerlich. Was sollte das Ganze? Was war mit ihm los? Es war Freitag, und er hatte sich auf das verlängerte Wochenende mit seiner Frau gefreut, denn am Montag war ein gesetzlicher Feiertag, und zwar wie hier in England üblich der letzte Montag im Mai anstelle des Pfingstmontags.

John setzte sich wieder in seinen Wagen. Erst jetzt merkte er, daß der Motor ausgegangen war. Er versuchte, ihn zu starten, aber es blieb bei dem Versuch. Es schien fast so, als wollte eine unsichtbare Macht verhindern, daß er nach Hause fuhr.

Der Zorn des Mannes wuchs. Gottlob hatte der Wagen die höchste Steigung der Straße erreicht. Es ging jetzt sanft abwärts in Richtung Dorf. Noch etwa zwei Meilen zu fahren und er hatte die ersten Häuser erreicht. Wenn der Wagen also absolut streiken wollte, konnte er ihn auch ohne Motorantrieb rollen lassen.

John stieg wieder aus, nachdem er den Gang herausgenommen hatte, und schob den Wagen an. Dabei hatte er fast den Eindruck, gegen eine Wand zu drücken. Das Fahrzeug ließ sich kaum bewegen, obwohl es hier schon leicht abschüssig war.

Plötzlich war das Hindernis weg. Der Wagen machte regelrecht einen Satz nach vorn.

John Holleway war ein sehr sportlicher Typ, und trotzdem gelang es ihm nicht, sich rasch genug hinter das Steuer zu werfen. Der Wagen war zu schnell geworden. John prallte ab, verlor den Halt und geriet beinahe unter die Räder. Im letzten Augenblick wich er aus. Haltlos kullerte er über die Straße und blieb erst nach mehreren Umdrehungen liegen.

Sofort sprang er wieder auf die Beine. Mit geweiteten Augen starrte er dem herrenlos davonfahrenden Auto nach. Jetzt schlug auch noch die geöffnete Fahrertür zu, wie von einer unsichtbaren Geisterhand bewegt.

Johns Verstand kapitulierte, als er nach einer vernünftigen Erklärung suchte.

Das Zuschlagen der Tür konnte man noch dem Fahrtwind zuschreiben, aber ansonsten...?

Er sprintete endlich los. Es mußte ihm gelingen, das Fahrzeug einzuholen, ehe ein Unglück passierte. Trotz des recht dürftigen Verkehrs konnte ausgerechnet jetzt ein Auto aus Richtung Dorf kommen. Nicht auszudenken, welche Folgen das haben konnte.

John Holleway keuchte sich schier die Lunge aus dem Leib, aber er kam dem Wagen nicht nahe genug.

Die erste Kurve kam. Außerhalb steiniges Gelände, nach wenigen Yards in Ackerboden übergehend. Es hatte gestern geregnet, weshalb der Boden durchgeweicht war. Wenn der Wagen von der Straße abkam, mußte er unweigerlich steckenbleiben.

Aber er kam nicht von der Straße ab. Er war führerlos, und trotzdem steuerte er zielsicher durch die Kurve.

Jetzt mochte John Holleway nicht mehr an einen Zufall glauben. Aber er machte sich weiter keine Gedanken über die unbegreiflichen Vorgänge, sondern bemühte sich vielmehr, sein Auto einzuholen.

Hundert Yards weiter gab es die nächste Kurve.

Ohne zu zögern, verließ John die Straße, um dem Fahrzeug den Weg abzuschneiden. Er hetzte über den Acker. Schon nach wenigen Schritten hatten sich an seinen Füßen dicke Erdklumpen gebildet, die Zentner zu wiegen schienen. Der gute Anzug war bis zum Kragen dreckverspritzt, und bei jedem weiteren Schritt gab es platschende und saugende Geräusche.

Aber John Holleway gab nicht auf. Er gab nie auf, so lange es noch eine Chance gab.

Ohne sich darüber zu wundern, zweifelte er keinen Augenblick daran, daß sein Wagen auch die nächste Kurve sicher passieren würde. Es mußte ihm gelingen, auf dieser Abkürzung schneller zu sein.

Ein Blick zur Seite. Eben erreichte das Fahrzeug die zweite Kurve. Wie er sich gedacht hatte: Ein Unsichtbarer schien das Steuer übernommen zu haben.

Einen anderen Menschen hätte bei diesen Vorgängen das Grauen angefallen, nicht so John Holleway. Er war absoluter Realist. In seinem Denken hatten Spekulationen und Phantasiegebilde keinen Platz.

Er gehörte zu dem Typus, der behauptete, nur zu glauben, was seine fünf Sinne wahrnehmen konnten - und damit auch die Wahrheit sprach. Er sah, daß sich sein Wagen selbstständig gemacht hatte. Egal, warum dies so war und wer solches bewerkstelligt hatte, es wurde als gegeben akzeptiert.

Endlich hatte John Holleway das Ende des Ackers erreicht. Die feucht-kühle Luft, die ihm bis auf die Haut ging, konnte ihn nicht abkühlen. Sein Atem ging schwer, und das Herz schlug wie rasend. Aber John Holleway hatte es geschafft. Er schaffte meistens, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.

Mitten auf die Straße stellte er sich. Der Wagen kam mit ständig steigender Geschwindigkeit auf ihn zu.

John Holleway zögerte. War es nicht Wahnsinn, wenn er sich dem Wagen entgegenwarf? War er nicht schon zu schnell geworden?

Dann blieb keine Zeit mehr, weiter über dieses Problem nachzudenken. Das Auto war heran.

John Holleway sprang einfach auf die Kühlerhaube. Einen Moment lang meinte er, sämtliche Knochen würden ihm im Leib brechen. Es gab einen furchtbaren Schlag. Dann wurde John gegen die Windschutzscheibe gefegt. Sie hielt dem Aufprall stand, ebenso wie Johns Körper.

Also ist die Geschwindigkeit geringer gewesen als ich sie eingeschätzt habe, fuhr es ihm durch den Kopf.

Mit den Händen hielt er sich an der Dachrinne fest. Er hätte nie artistische Veranlagung in sich vermutet, aber jetzt bewies er welche. Es gelang ihm, den Türgriff zu erreichen.

Aber es gelang ihm nicht, zu öffnen, denn von innen war die Tür verriegelt!

Nachdem John Holleway diese Erkenntnis gewonnen hatte, konnte er sich nicht mehr länger halten. Das Auto bewegte sich durch eine weitere Kurve, und John wurde durch die Fliehkraft abgeworfen.

In ohnmächtiger Wut ballte er die Hände zu Fäusten. Jetzt konnte er nichts mehr tun. Jetzt konnte er sich nur noch aufrappeln und dem Wagen nachsehen, dabei hoffend, daß das immer schneller werdende Fahrzeug keinen größeren Schaden anrichtete.

John hatte Glück gehabt. Er war genau in einem Gebüsch gelandet, das man am Straßenrand gepflanzt hatte. So waren nur der Anzug verdorben und seine Hände zerschunden.

Mehr war ihm nicht passiert. Der Wagen verschwand hinter einer Baumgruppe.

Unwillkürlich hielt John den Atem an, denn das Fahrzeug mußte jeden Augenblick die ersten Häuser von Bredhouse erreichen.

Der von ihm erwartete furchtbare Krach blieb aus. John Holleway setzte sich in Bewegung. Sein Lauf wurde schneller. Dann hatte er die Baumgruppe erreicht und umrundete sie.

Wie angewurzelt blieb er stehen. Er traute seinen Augen nicht.

Und zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinem Verstand.


*


Sie hatten sich im Hotelzimmer versammelt, und zwar im Zimmer von Raymond Walsh und Anne Rhodes.

»Mensch, wo bleibt Ray denn?« meckerte Guy Slayton.

»Daß du immer so ungeduldig sein mußt«, meinte seine Freundin Fran Nichols vorwurfsvoll. Sie saß neben Guy auf dem Bett.

»Hört auf!« Anne Rhodes winkte ab. »Ihr wißt doch, wie Ray ist. Er tut immer so geheimnisvoll, und wenn er dann kommt, meint er, etwas besonders Tolles auf Lager zu haben.«

Fran kicherte, und Guy Slayton kratzte seinen Vollbart. Dann nahm er die Nickelbrille ab und begann sie zu putzen.

Seit über einer Stunde saßen sie nun schon hier. Die beiden jungen Pärchen waren befreundet. Sie studierten alle vier Chemie an der Universität in London. Raymond Walsh stammte aus sehr wohlhabendem Hause und war somit automatisch zu ihrem Chef avanciert.

Schließlich finanzierte er ihren gemeinsamen Urlaub. Guy Slayton bereute das zum ersten Mal.

Bisher war alles recht schön gewesen. Eines Tages, kurz vor Beginn der Semesterferien, hatte Raymond die Katze aus dem Sack gelassen.

Er hatte einen Kleinbus gekauft, und mit diesem hatten sie einen Trip kreuz und quer über die Insel machen wollen. Überall hatten sie nur kurz Station gemacht. Heute waren sie hier in Furlington angekommen. Wie immer hatte Ray ein billiges Hotel ausgesucht und zwei Doppelzimmer gemietet. Und hier saßen sie nun, nachdem Ray die kleine Versammlung einberufen hatte.

Fran Nichols stand auf und zog den Reißverschluß ihrer grünen, verwaschenen Armeejacke auf.

»Ganz schön warm hier«, kommentierte sie ihr Tun. Dann zerrte sie die Jacke von den Schultern und legte sie auf das Bett. Darunter hatte sie einen wollenen Rollkragenpulli an. Auf einen BH hatte sie verzichtet. Deutlich zeichneten sich die jungen Knospen ihrer festen Brüste unter dem Pulli ab.

Fran schritt zum Fenster. Guy setzte seine Brille auf und schaute seiner Freundin nach. Fran war sehr schlank. Ihre Hüften waren schmal, die Beine lang. Sie steckten in engen, verwaschenen Jeans.

»Wo gehst du hin?« erkundigte sich Guy Slayton und zog ebenfalls seine Militärjacke aus. Er war ähnlich gekleidet wie seine Freundin.

Fran Nichols antwortete nicht. Sie zog die Gardine beiseite und spähte auf die Straße hinunter. Es herrschte kaum Betrieb.

»Möchte wissen, wieso es dieses Jahr nicht warm wird«, murmelte sie. »Jetzt haben wir schon den achtundzwanzigsten Mai, und der Frühling kommt hier nur sehr zögernd.«

Anne zuckte die Achseln.

»Mir egal. Vielleicht liegt es daran, daß dieses Furlington relativ hoch liegt?«

Auch sie hatte eine grüne Militärjacke und verwaschene Jeans an. Diese Kleidung schien bei ihnen obligatorisch zu sein.

Annes Kurven waren etwas ausgeprägter. Ihr Busen war schwer und die Hüften breiter. Die Lippen waren sinnlich und der Blick leicht verschlafen. Sie war ein Mädchen, das das Blut der Männer zum Wallen bringen konnte. Ihr gegenüber erschien Fran blaß und zerbrechlich. Trotzdem hätte Guy Slayton nie getauscht. Er liebte seine Freundin.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Ein großer, breitschultriger junger Mann polterte herein: Raymond Walsh.

Er war mit seinen fünfundzwanzig Jahren der Älteste der Vierergruppe, obwohl in seinen Augen der Schalk eines Sechzehnjährigen blitzte. Seine Militärjacke stand vorn offen und gab einen breiten, stark gewölbten Brustkorb frei. Er hatte die Figur eines Modellathleten und auch die gleiche Kraft. Ihm gegenüber wirkte Guy Slayton eher wie ein Langstreckenläufer.

»Hallo, Fans, da bin ich wieder!«

Anne Rhodes sprang freudig auf und lief ihm entgegen. Mit dem linken Arm griff er besitzergreifend nach ihr, den rechten stieß er gegen die Decke.

»Freunde, wir haben das Große Los gezogen!« verkündete er theatralisch.

Guy verzog das Gesicht.

»Mach es kurz, wir haben lange genug gewartet!«

Raymond Walsh ging nicht auf die Bemerkung ein. Sein Gesicht verzog sich zu einem jungenhaften Lächeln.

»Der Geheimtip des Jahrhunderts!«

Er machte eine Kunstpause.

Fran betrachtete ihn. Es sah so aus, als himmelte sie Walsh an, aber Guy Slayton wußte, daß dem nicht so war. Ray hatte keine Chance bei ihr. Sie waren nichts weiter als gute Freunde.

»Geheimtip?« fragte sie neugierig.

Raymond Walsh warf sich in die Brust. »Ja, er heißt Bredhouse! Das ist ein winziges Örtchen. Angeblich sagen sich dort Hase und Fuchs gute Nacht. Ich sage euch, das ist genau das, was wir gesucht haben.«

»Was sollen wir dort?« erkundigte sich Guy mit einem gelangweilten Unterton in der Stimme.

»Das fragst du noch?« rief Ray. Er ließ sein Mädchen stehen, ging zum Bett und hieb Guy auf die Schulter, daß dieser drohte, zu Boden zu gehen.

»Mensch, was bist du nur für ein Schlappschwanz? Dieses Bredhouse ist urwüchsige Natur!«

Guy ärgerte sich im stillen über den »Schlappschwanz«, ließ sich aber nichts anmerken.

»Also gut, wenn du meinst. Gehen wir hinaus in die Natur, atmen wir frische Luft ein, geschwängert mit dem Duft von Kuhmist und, und, und...«

»Na, siehst du. Dann ist ja alles in bester Butter«, sagte Ray mit seiner lauten Stimme.

»Und wann soll die Reise beginnen?«

Ray zog seine Jacke aus und warf sie auf das Bett. Sein Pullover steckte in den Jeans, die von popfarbigen, superbreiten Hosenträgern gehalten wurden. Er hakte seine Daumen dahinter und ließ die Hosenträger schnellen. »Morgen, mein Freund«, versprach er. »Heute abend wollen wir uns erst einmal dieses Nest hier namens Furlington ansehen und uns einen ordentlichen hinter die Binde gießen.«

Anne Rhodes lachte. »Aber nicht, daß ich dich wieder den ganzen Weg zum Hotel schleppen muß«, rief sie. »Du bist mir zu schwer.«

Sie lachten alle.

Guy Slayton hatte seinen leisen Groll vergessen. Er war jetzt selber neugierig auf dieses Bredhouse.

Aber irgendwo in seinem Innern meldete sich eine warnende Stimme, die allerdings zu leise war, um von ihm beachtet zu werden.

Welche Gefahren sollten ihnen schon in einem kleinen, abgelegenen Dörfchen wie Bredhouse drohen?


*


John Holleway rieb sich die Augen, aber das Bild blieb unverändert: Der Wagen war nicht weitergerollt! Im Gegenteil: Er hatte gewendet!

Das setzte dem unglaublichen Vorgang die Krone auf.

Das Fahrzeug stand jetzt mit dem Kühler in Richtung Furlington. Die Fahrertür hatte sich geöffnet. Sie stand einladend weit offen.

Vorsichtig kam John Holleway näher. Er traute dem friedlichen Bild nicht. Dafür hatte er in den letzten Minuten zuviel Unmögliches erlebt.

Unschlüssig blieb er neben dem Wagen stehen. Er versuchte, hinter dem Ganzen einen Sinn zu erkennen.

Eigentlich lag es klar auf der Hand: Irgendwer hatte irgendwie den Wagen gelenkt.

Es war eine unmißverständliche Aufforderung für John Holleway, die Rückkehr nach Furlington anzutreten!

Aber warum?

Diese Frage mußte vorerst ungeklärt bleiben.

Und John Holleway war ein sturer Kopf. Jetzt würde er erst recht dem Ort nicht den Rücken kehren. Wenn der Wagen verrückt spielte, dann mußte er halt darauf verzichten. Er konnte sich auch zu Fuß auf den Weg machen.

Kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt, als er sich auch schon in Bewegung setzte.

Es war sein Glück, daß er dabei den Wagen nicht aus den Augen ließ.

Das Fahrzeug hatte ein gespenstisches Eigenleben. Es schlug mit der Tür nach ihm. Das Lenkrad bewegte sich, und der Wagen kam ins Rollen. Mit einem gewaltigen Sprung brachte sich John Holleway in Sicherheit.

Der Spieß wurde umgedreht: Hatte er vorher Jagd auf sein Auto gemacht, so machte jetzt der Wagen Jagd auf ihn! Es gab für John nur eine Möglichkeit: Er mußte zwischen die Bäume. Dorthin konnte ihm das verrückt gewordene Fahrzeug nicht folgen.

Es tat es dennoch. John hörte hinter sich ein Krachen und Bersten. Die Bäume schüttelten sich.

Er blickte über die Schulter. Der Wagen versuchte, durch den viel zu schmalen Durchlaß zwischen zwei Bäumen zu kommen. Die Haube und die beiden vorderen Kotflügel waren nur noch Schrott. Die Hinterräder mahlten hilflos. Sie gruben sich in den Untergrund.

John Holleway stand stocksteif da. Nicht nur, daß er Angst hatte, sondern es war ihm bewußt, daß er nur hier, zwischen den Bäumen, in relativer Sicherheit war.

Etwas bohrte sich in sein Gehirn. Er spürte den unbändigen Wunsch, in Richtung Furlington zu fliehen, aber es gelang ihm, sich dem stummen Befehl zu widersetzen.

Daraufhin rollte der Wagen zurück. John wußte sofort, was das zu bedeuten hatte: Er nahm Anlauf!

Das Ding beschleunigte wie eine Rennmaschine. In den nächsten Sekunden mußte es die Baumgruppe erreicht haben.

John warf sich herum und ergriff die Flucht.

Hinter ihm entstand ein Inferno. Der Wagen hatte die Bäume erreicht.

Mit unvermindert hoher Geschwindigkeit traf er auf das Hindernis. Das Metall kreischte protestierend. Fetzen lösten sich und flogen dem fliehenden John Holleway um die Ohren.

Erst als er über fünfzig Yards zwischen sich und der Baumgruppe zurückgelegt hatte, wagte er, langsamer zu werden. Vorsichtig warf er einen Blick zurück.

Nein, das verhexte Fahrzeug konnte ihm nicht mehr gefährlich werden. Es war nur noch ein Häufchen verbeultes Blech, auf ein Drittel seiner ursprünglichen Länge zusammengeschoben.

Mit gemischten Gefühlen kam John Holleway wieder zurück. Erst als er sicher war, daß ihm keine Gefahr mehr drohte, wagte er aufzuatmen. Dann machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Bredhouse.

Es war nicht mehr weit. Nur noch ein paar hundert Yards.

Die Sonne stand über dem Horizont, als er die ersten Häuser erreicht hatte. Eine unnatürliche Stille herrschte in dem Dorf. Und da war wieder das mulmige Gefühl in Johns Magengegend. Er wußte, daß hier etwas nicht stimmte, konnte aber nicht sagen, was es war. Das Erlebnis mit dem Auto verdrängte er vorläufig. Es war abgeschlossen. Was würde ihn hier noch erwarten?

Er betrat das Dorf. Kein Mensch auf der gepflasterten Straße. John verstand das nicht. Unaufhörlich ließ er seine Blicke kreisen. Nicht einmal an den Fenstern zeigte sich jemand. Wieso war niemand auf den Lärm aufmerksam geworden?

Ein Motorgeräusch.

John Holleway zuckte zusammen.

Das Geräusch kam von außerhalb.

Er fuhr herum. Noch war nichts zu sehen. Er erkannte nur das Wrack seines Fahrzeuges bei der Baumgruppe, die die Sicht auf den weiteren Verlauf der Straße verbarg.

Und dann bog ein Wagen um die Kurve. Es war ein klappriger Ford. Ein amerikanischer Straßenkreuzer, der kaum durch die Straßen des Dorfes paßte. Das Ding war mindestens zwanzig Jahre alt, und jeder kannte den Besitzer: Sean Thompson, der Bürgermeister des Örtchens. Sean war gleichzeitig auch der Polizist, und für manche hatte er sogar die Rolle des Geistlichen übernommen, denn einen solchen gab es seit Jahren nicht mehr in Bredhouse.

Sean Thompson hing mit abgöttischer Liebe an seinem alten Auto. Er hängte einen Großteil seiner Freizeit daran, um es immer wieder auf Vordermann zu bringen. John Holleway mußte fast bei dem Gedanken grinsen, wie Thompson wohl reagiert hätte, hätte sich sein Ford so benommen wie das Auto, das jetzt als Wrack eingekeilt zwischen den Bäumen hing.

Das machte ihm bewußt, daß Sean Thompson diese Sorge offenbar nicht zu haben brauchte. Der Bürgermeister setzte nur seine Geschwindigkeit herab, als er des Wracks ansichtig wurde. Dann fuhr er weiter. Sein Blick heftete sich auf die einsame Gestalt von John Holleway. Der klapprige Ford hielt bei ihm an. Sean kurbelte die Fensterscheibe herunter.

»He!« machte er.

»He!« antwortete John. Sonst sagte er nichts. Er überließ Sean Thompson die Initiative.

»Was'n passiert? Unfall gehabt, wie?« Das war die typische, abgehackte Sprechweise des Bürgermeisters und Dorfpolizisten.

»Wie man es nimmt«, sagte John vorsichtig. »Der Wagen hat sich sozusagen selbständig gemacht.«

»Hast aber ganz schön Glück gehabt. Sehe, daß du nicht verletzt bist. Nur Anzug kaputt.«

John Holleway mußte jetzt doch und trotz allem unwillkürlich grinsen, obwohl er sich in den Jahren seines Hierseins längst an die Sprechweise des Mannes gewöhnt hatte.

»Kommst du aus Furlington?« fragte John.

»Ja, hatte was zu erledigen.« Sean runzelte nachdenklich die Stirn. »Warst'e nicht arbeiten heute?«

»Warum?«

»Wrack steht falsch. Kamst'e nicht aus Furlington?«

»Doch. Der Unfall war ziemlich kompliziert.'«

»Ansprüche?«

»An keinen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich war ganz allein.«

John Holleway hatte beschlossen, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Das hätte ihm sonst vielleicht ein paar Jährchen in der Klapsmühle eingebracht.

Sean Thompson atmete sichtbar auf. »Willste mitfahren?« erkundigte er sich.

John winkte ab.

»Nein, danke. Es macht mir nichts aus, wenn ich einmal zu Fuß laufen muß.«

Er hatte sich rechtzeitig daran erinnert, was passiert war, als ihn Sean Thompson das letzte Mal mitgenommen hatte. Der Ford hatte plötzlich gestreikt, und John hatte dem stolzen Besitzer dabei helfen müssen, den Wagen wieder flottzubekommen. Das hatte über zwei Stunden in Anspruch genommen, und als er endlich wieder zu Hause gewesen war, hatte ihn seine Frau nicht wiedererkannt, so war John mit Öl und Schmierfett verschmiert gewesen. Nein, da ging er wirklich lieber zu Fuß.

Sean Thompson zuckte die Achseln und fuhr weiter.

John Holleway schaute nachdenklich hinterdrein und wunderte sich, warum die fremde Macht ausgerechnet von seinem Wagen Besitz ergriffen hatte.


*


Es war noch immer unnatürlich ruhig in dem Ort. Nachdem das Motorengeräusch von Thompsons Wagen sich verloren hatte, waren nur noch das traurige Heulen des Windes in den Dachschindeln der Häuser und Johns Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören.

John schaute sich immer wieder aufmerksam um. Die Unruhe, die von ihm Besitz ergriffen hatte, nahm zu.

Er kam am Dorfkrug vorbei. Auch hier alles ruhig.

Im nächsten Augenblick spürte John ein scharfes Ziehen in seinem Kopf. Gleichzeitig damit kamen aus dem halb geöffneten Fenster des Dorfkruges Stimmengewirr, Lachen und Musik.

John Holleway runzelte verwundert die Stirn. Er zögerte, weiterzugehen. Der kurze Schmerz in seinem Kopf war wieder verebbt.

Einem inneren Antrieb folgend ging John zur Tür. Der Eingang war durch ein großes L gekennzeichnet.

Das bedeutete fully licensed. Also durfte dieser Pub alle alkoholischen Getränke ausschenken, während Pubs mit dem Zeichen U (unlicensed) bestimmten Beschränkungen unterworfen sind.

John Holleway öffnete und trat ein. Das Innere des public houses war gut besucht. Das wunderte John, denn normalerweise begann der Betrieb freitags abends erst eine Stunde später.

Ein paar der Anwesenden erkannten ihn und winkten ihm zu.

Mechanisch schritt John zur Theke. Er fühlte sich nicht recht wohl in seiner Haut. Irgend etwas war anders als sonst.

Er bestelle sich ein Ale und mußte darauf warten. Diese Zeitspanne benutzte er dazu, sich umzusehen.

Alles war scheinbar so wie sonst, und doch gab es ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. John kam nur nicht dahinter, was das sein könnte.

Und dann wußte er es.

Er kannte jeden einzelnen der Anwesenden persönlich. Es gab fröhliche Gemüter darunter, eher muffige, aber auch gelassene. Im Moment aber benahmen sich alle gleich! Alle legten dieselbe Fröhlichkeit an den Tag.

John schüttelte den Kopf über sich selbst. Was waren das für Gedanken, die sich da in sein Gehirn einnisteten?

Sein Bier kam. Er griff automatisch danach und trank es zur Hälfte leer. Das Bier hatte einen seltsamen Nachgeschmack. Aber er maß dem keine Bedeutung zu. Ein Blick auf die Uhr hinter dem Tresen. Es war inzwischen schon fast sieben.

John erschrak. Hatte er schon soviel Zeit verloren?

Er griff wieder nach seinem Bier. Er mußte sich beeilen. Seine Frau würde sich gewiß schon Sorgen um ihn machen. Es wäre das erste Mal, daß John freitags später nach Hause käme.

Er war Abteilungsleiter bei einer Bank in Furlington und als solcher stets bemüht, daß es vor dem Wochenende keine Überstunden gab. Das war zu einer Art Tradition bei ihm geworden.

John hob das Glas an die Lippen.

Riecht auch komisch, registrierte er unwillkürlich.

Er setzte das Glas wieder ab und stellte es auf den Tresen zurück. Mißtrauisch beäugte er es.

Plötzlich begann sich alles um ihn zu drehen.

Verdammt, durchschoß es ihn, was hat mir der Wirt in das Glas getan?

Jedes Geräusch um ihn erstarb. Die Gesichter rotierten. Johns Hände krampften sich um den Rand der Theke. Er bekämpfte die Schwindel. Die wilden, kreisenden Bewegungen verlangsamten sich etwas. Deutlich erkannte er jetzt die Gesichter. Sie waren ohne Ausdruck. Alle Augen waren lauernd auf ihn gerichtet. Eine eisige, fast feindliche Atmosphäre schlug ihm entgegen.

Heißer Zorn stieg in John auf. Aber er merkte, daß dabei die Schwindel stärker wurden. Deshalb beherrschte er sich.

Plötzlich eine Stimme. Sie schien ihm ins Ohr zu flüstern, aber nein, sie erklang direkt in seinem Gehirn!

»Verschwinde, ehe es für dich zu spät ist, ehe du zuviel weißt! Verschwinde, sonst muß ich dich vernichten!«

John kniff die Augen krampfhaft zusammen und öffnete sie wieder. Nichts hatte sich verändert.

Die Männer an den Tischen erhoben sich lautlos. Wie abwartend blieben sie stehen.

Kein Laut drang an die Ohren Johns, außer dem hechelnden Geräusch seines eigenen Atems.

Seine Hände packten den Tresen fester. Er richtete sich auf, die Zähne zusammenbeißend. Er wußte, daß er ein Mensch mit einem stählernen Willen war. Bisher war es noch niemandem gelungen, ihn unterzukriegen, auch beim Militär nicht. Obwohl er vor dem Aufheben der allgemeinen Wehrpflicht sogar Offiziersanwärter gewesen war, war er stets nur der eigenen Vernunft gefolgt und nicht der Willkür anderer.

Das hatte ihm sogar einen Spitznamen eingebracht: Ire. Obwohl er kein Ire war, aber denselben sturen Kopf besitzen konnte, wenn es darauf ankam.

Und jetzt setzte er seinen Willen ein. Er spürte, daß ihn jemand beeinflussen wollte. Instinktiv begehrte alles in ihm dagegen auf, auch wenn das Teufelszeug, das man ihm ins Bier geschüttet hatte, seine Widerstandskräfte schwächte.

»Ihr Schweine!« lallte er. Ein erneuter Schwindelanfall warf ihn fast zu Boden. »Ihr verdammten Schweine! Was habt ihr mit mir vor?«

Die Tür öffnete sich.

John hörte es deutlich, obwohl in seinen Ohren ein eigenartiges Brausen entstanden war, das sich mehr und mehr verstärkte. Es war das Rauschen des eigenen Blutes.

Er brauchte allen Willen, um den Kopf zur Tür zu wenden. Alles war verschwommen und taumelte hin und her, obwohl in Wirklichkeit er selbst es war, der an der Theke hin und her schwankte.

Da war eine Gestalt, die sich auf ihn zu bewegte. Aus dem verschwommenen Zerrbild schälte sich ein verwaschenes Gesicht. Es war das von Sean Thompson.

»Na, noch einen zur Brust genommen?«

Klang es nicht ironisch? Nein, da war doch ein leutseliger Unterton.

Mißtrauen entstand in John Holleway. Er bekämpfte weiterhin seine Schwindel und wollte etwas sagen, aber nur ein Lallen kam über seine Lippen.

Sean Thompson hob erstaunt die Augenbrauen.

»Nanu, was ist denn los, John? Verträgst du nichts mehr? Du kannst doch nicht in der kurzen Zeit so betrunken sein.«

Wieder machte John den vergeblichen Versuch, etwas zu sagen.

»Na, laß mal, Mann«, rief Sean Thompson und klopfte ihm auf die Schulter. »Kann jedem mal passieren. Manchmal trinke ich auch einen über den Durst. Was ist übrigens mit dem Wrack draußen vor dem Dorf? Willst du dafür sorgen, daß es entfernt wird?«

Der redet anders, flüsterte eine innere Stimme. John horchte unwillkürlich auf. Für einen Augenblick war sein Blick klar. Und in diesem Augenblick löste sich die Gestalt von Sean Thompson in Nichts auf. An ihre Stelle trat eine ungefähr gleichgroße Strohpuppe. Ja, eine Strohpuppe. Ganz primitiv. Billiges, grob gewebtes Sackleinen, einfach mit Stroh vollgestopft. Der Kopf war durch Abbinden mit einer Schnur entstanden. Die Arme und Beine hatte jemand angenäht.

Und diese Strohpuppe redete mit der Stimme Thompsons, dabei aufrecht neben John stehend.

Erneute Schwindel setzten John zu. Seine Hände krallten sich fest um den Rand des Tresens, daß das Weiße der Knöchel hervortrat.

Als er sich wieder dem Bürgermeister zuwandte, war die Strohpuppe verschwunden.

Sean Thompson grinste wohlgefällig. Er griff nach Johns Bier und schob es näher.

»Na los, trinke, mein Freund! Vielleicht ist es das letzte Mal?« Seine Stimme klang verändert, als würde ein anderer durch seinen Mund sprechen. In seine Augen trat ein gefährliches Flackern. »Du hast alle Warnungen in den Wind geschlagen, John Holleway. Ich habe dich schon vorher erkannt. Du störst meine Pläne. Bisher konnte ich nichts gegen dich tun, aber meine Macht wächst stündlich. Ich werde jetzt versuchen, dich zu vernichten. Ich hoffe für dich, daß es mir gelingt, sonst muß ich nämlich schärfere Maßnahmen ergreifen.«

John Holleway hörte die Worte, verstand aber ihren Sinn nicht.

»Wahnsinn!« murmelte er mit schwerer Zunge vor sich hin. Er empfand alles wie einen bösen Alptraum. Seine Sinne waren total verwirrt.

Und dann sah er die geschlossene Front. Alle Besucher des Dorfkrugs rückten auf ihn zu. Ihre Gesichter waren starre, ausdruckslose Masken. Dann sah John Holleway nur noch Strohpuppen, die sich bewegten wie Menschen, als hätte ihnen jemand Leben eingehaucht. Und diese Puppen hoben die Arme und griffen nach dem Mann, um ihn zu vernichten, wie Sean Thompson es angedroht hatte.

Sean Thompson?

John Holleway wandte sich ihm zu und lallte: »Hilfe!«

Aber auch da stand nur eine Strohpuppe.