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Johannes Dieterich

Südafrika

Ein Länderporträt

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Johannes Dieterich

Südafrika

Ein Länderporträt

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Für meinen Vater, ohne den es mich nie nach Südafrika verschlagen hätte.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, März 2017

entspricht der 1. Druckauflage vom März 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: Stephanie Raubach, Berlin; Bewohner von Soweto (South Western Township), im Südwesten von Johannesburg, vor Mauer-Porträts von Nelson Mandela ©picture-alliance/dpa/epa (Bildnr.: 38485863)

Karte: Christopher Volle, Freiburg

Lektorat: Günther Wessel, Berlin

eISBN: 978-3-86284-390-9

Inhalt

Vorwort

Bestandsaufnahme

Anthropologische Grundlegung – das Völkergemisch am Kap

Südafrikanische Farbenlehre – getrennte Gesellschaft, gefährdete Gemeinschaft

Die Cappuccino-Gesellschaft – unten schwarz, oben weiß

The Paradise

Livingstones Lager

Laptops und lederne Lendenschurze

»In and out of Africa« – das komplizierte Verhältnis Südafrikas zu seinen Nachbarn

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Von der Sonne in die Traufe – vom Hoffnungsträger Nelson Mandela zur allgemeinen Enttäuschung

Der Regenbogenmacher – Nelson Mandela

Der Königssohn

Wenn zwei sich versöhnen, leidet der Dritte

Speere gegen Atombomben

Der Krokodil-Dompteur

Vor dem Bürgerkrieg

Der Versöhner

Über dem Regenbogen

Die Schattenseiten des Heroen

Ronnie und das Ende einer (fast) lebenslangen Liebe – der Niedergang des ANC

Alle Macht dem Volk

»Armed and dangerous«

Klammheimliche Verfassungsfeinde

Ein besseres Leben für alle

Zumas Talfahrt

»Wir haben nicht gekämpft, um arm zu bleiben«

»Bis Jesus Christus wiederkommt«

Vertagte Revolution

Der Zweinationenstaat – eine Ökonomie zwischen superreich und bettelarm

Verkrüppelter Kapitalismus

Glenfiddich im Township-Staub

Blackout – die staatliche Dienstleistungskrise

Schwarze Löcher am Firmament

Räuberei bei Tageslicht

Kloake im Kirschenparadies

Der Buschmann und andere Schrecken

Weiße Täter, schwarze Opfer

Rechtsverzichtserklärung

Diepsloot, der Kamin zur Hölle – vom Leben und Sterben im Slum

Im Namen des Volkes

Wie in den Zeiten der Nilpferdpeitsche »Muti«-Morde und

Hochgeschwindigkeitszüge

Hühnchen für die tote Mutter

High auf HIV-Cocktails

Die Onkel-Ahmed-Läden

Heroin oder Rattengift

Vorhersage veränderlich – Wege und Irrwege aus der Misere

Die Goldwühlmäuse – oder die riskante Renaissance eines Bodenschatzes

Durchs Nadelöhr

Buddeln in der Schattenwirtschaft

Goldkondome und Erdnussbutterbrote

Die Elefanten und das Gras

Privatstaat ohne Bürgersteige – problematische Lösungen der Dienstleistungskrise

Lichtblicke – was hoffnungsfroh stimmt

Die sanfte Faust – Thuli Madonselas Kampf gegen die Korruption

Löschwasser im Schwimmbad

David gegen Goliath

Das Downtown-Duett – wenn Hautfarbe keine Rolle mehr spielt

Dead White Men’s Music

Von Geistern und Sehern

Der Topf am Ende des Regenbogens – eine Schule, die Hoffnung macht

Keine katholische Kaderschmiede

Erst Befreiung, dann Bildung

Die Haare der Anderen

Regenbogenkuckucksheim

»Fuck the Whites«

Von kleinen Füßen, langen Hörnern und der Liebe – die Wiege der einen Menschheit

Das schönste Land der Welt

Das Menschenzeitalter

Ausblick

Anhang

Literatur und Medien – Empfehlungen

Karte

Basisdaten

Danksagung

Über den Autor

Vorwort

In Deutschland fiel die Mauer, und in Südafrika gingen die Gefängnistore auf. Die beiden Ereignisse werden für mich die höchst unterschiedlichen Nationen für immer verbinden: Denn ich hatte das Glück, diese Sternstunden der deutschen und südafrikanischen Geschichte aus der Nähe mitzuerleben. Als Frederik Willem de Klerk, der letzte Präsident der weißen Bevölkerungsminderheit in Südafrika, 1989 an die Macht kam, bereitete er nicht nur die Freilassung Nelson Mandelas vor. Er sorgte auch in anderer Hinsicht für eine vorsichtige Öffnung des von teils ängstlichen, teils verbissenen Bleichgesichtern beherrschten Apartheidstaats. Seitdem konnten sich kritische Korrespondenten aus dem Ausland zumindest wieder Hoffnung auf eine Akkreditierung machen.

Als damals 32-jähriger Journalist mit etwas Afrika-Erfahrung sah ich meine Chance gekommen. Ich fragte bei der Frankfurter Rundschau (FR) und dem Evangelischen Pressedienst (epd) an, ob sie mich in Johannesburg wenigstens notdürftig über Wasser halten würden. Als liberale, der Apartheid kritisch gegenüberstehende Presse hatten sowohl der epd als auch die FR auf eine Arbeitsgenehmigung für einen eigenen Korrespondenten bislang verzichten müssen. Nach einigem Hin und Her erhielt ich vom Kap der Guten Hoffnung tatsächlich grünes Licht – ausgerechnet im November 1989, als die deutsch-deutschen Grenzübergänge plötzlich durchlässig wurden. Mein Chef beim Hessischen Rundfunk griff sich an den Kopf, wie ich mich in einer derart aufregenden Zeit vom Acker machen konnte.

Was mich am anderen Ende der Welt erwartete, war allerdings nicht weniger aufregend. Drei Wochen bevor mein Flieger am 1. März 1990 in Johannesburg landete, war Nelson Mandela mit erhobener Faust durch das Tor des Victor-Verster-Gefängnisses nahe des südafrikanischen Weinstädtchens Paarl geschritten. In der Nachrichtenredaktion des Hessischen Rundfunks kamen mir beim Einlaufen der Bilder, die von Hollywood-Regisseuren nicht eindrucksvoller hätten arrangiert werden können, genauso die Tränen wie drei Monate zuvor beim Mauerfall.

Obwohl sie sich in weit voneinander entfernten Regionen des Globus abspielten, hingen die beiden historischen Ereignisse miteinander zusammen. Ihr gemeinsamer Nenner war Michail Gorbatschows Perestroika, die den im südlichen Afrika heiß ausgetragenen Kalten Krieg beendete. Von sowjetischen, ostdeutschen und kubanischen Militärs unterstützte Armeen und Befreiungskämpfer hatten sich in Angola, Mosambik und Namibia über Jahrzehnte hinweg mit der Militärmaschinerie des Apartheidstaats und deren Stellvertretern bekriegt, die wiederum von den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland unterstützt worden war. Gorbatschows Reformpolitik leitete die Besänftigung der gesamten südafrikanischen Unruheregion ein: 1990 wurde Namibia unabhängig, 1993 legten die mosambikanischen Bürgerkriegsgegner ihre Waffen nieder, in Südafrika kam 1994 der erste schwarze Präsident an die Macht. Mit etwas Verspätung fand im Frühjahr 2002 auch Angola seinen Frieden.

Der Höhepunkt der Normalisierung des Subkontinents war zweifellos die Wende am Kap der Guten Hoffnung. Doch im Gegensatz zu Deutschland, wo lediglich wieder zusammenwachsen sollte, was ohnehin zusammengehörte, war die südafrikanische Wende eine ganz andere Herausforderung. Hier sollte zusammenwachsen, was sich über drei Jahrhunderte lang drangsaliert, bekriegt und verachtet hatte. Aus dem vom Rassismus zerrissenen Land am Kap der Guten Hoffnung eine vereinte Nation zu schmieden, hörte sich wie ein aussichtsloses Unterfangen an. Doch genau das hatten sich Nelson Mandela und seine comrades vom Afrikanischen Nationalkongress, dem ANC, auf die Fahne geschrieben. Als Korrespondent, der den dramatischen Übergang vom Apartheidstaat in eine moderne Demokratie verfolgte, wusste ich um das Privileg, ein derart spannendes Experiment der Menschheit miterleben zu können. Und als bei Nelson Mandelas Amtseinführung im Mai 1994 die Düsenjets des Rassistenregimes über seinen Kopf donnerten, um auf diese Weise ihre Unterwerfung unter den Oberbefehl des Exhäftlings kundzutun, flossen einmal mehr die Tränen.

Für mich und meine Frau Merle – wir hatten uns bei einem Pressefrühstück mit Nelson Mandela kennengelernt – bot Mandelas Wahl 1994 zum ersten dunkelhäutigen Präsidenten Südafrikas die Gelegenheit für einen Szenenwechsel. Merle wollte unbedingt meine deutsche Heimat kennenlernen, weshalb wir uns in Hamburg sieben Jahre lang beregnen ließen. Der in fast jeder Hinsicht wärmere Nachbarkontinent ließ uns indessen nicht los: Mitte 2001 packten wir wieder die Koffer, um mit unserem zwischenzeitlich adoptierten Sohn Marvin nach Südafrika zurückzukehren. Dort gesellte sich später noch Tochter Lerato, mit Haut und Haar »made in South Africa«, dazu.

Eher zufällig hatten wir in unserer Familie Verhältnisse geschaffen, die der gesellschaftlichen Vielfalt am Kap der Guten Hoffnung entsprachen. Merle ist Jüdin. Ihre in Litauen geborenen Großeltern waren nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor den zaristischen Pogromen in ihrer Heimat geflohen. Obwohl er selbst jahrelang in einem deutschen Kriegsgefangenenlager gesessen hatte, nahm Merles Vater den deutschen Schwiegersohn vorbehaltlos auf.

Dass wir sieben Jahre später Marvin adoptierten, hatte nichts mit Gutmenschentum, sondern lediglich mit unserem unerfüllten Kinderwunsch zu tun. Und dass der von einer Tansanierin geborene Knabe eine dunklere Hautfarbe hat als wir, war ebenfalls keiner politischen Programmatik zuzuschreiben. Als adoptionswilliges Paar in fortgeschrittenem Alter hatten wir im kinderarmen Deutschland schlicht keine andere Chance, als unseren Afrika-Trumpf auszuspielen. Er stellte sich in jeder Hinsicht als ein Ass heraus.

Mit Lerato wurde die Rainbow Family schließlich perfekt. Zwanzig Jahre zuvor hätten wir in Südafrika nicht einmal gemeinsam auf einer Parkbank sitzen dürfen: Jetzt waren wir eine Keimzelle der vom anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu benutzten und von Nelson Mandela ausgerufenen Regenbogennation, kein anderer Staat der Welt hätte auf passendere Weise unsere Heimat werden können.

Im Juli 2001 nach Johannesburg zurückgekehrt, empfing uns allerdings ein Land, das dem Traum von der neuen, egalitären Gesellschaft kaum nähergekommen war. Nelson Mandela hatte die Präsidentschaft an Thabo Mbeki abgetreten. Der machte sich vor allem damit einen Namen, dass er die Aids-Pandemie, die in keinem Land der Welt schlimmer als in Südafrika tobte, für ein Hirngespinst rassistischer Wissenschaftler hielt. Das Land wurde außerdem von einer Kriminalitätswelle heimgesucht, die ebenfalls jedem globalen Vergleich spottete – die verängstigten Johannesburger zogen sich hinter immer höhere, meist noch von Starkstromleitungen getoppte Mauern zurück.

So auch wir. Die Käfige, in die sich Johannesburgs wohlhabendere Familien verziehen, sind freilich golden. Im Innern sind die urbanen Festungen oft als regelrechte Freizeitparks ausgestattet: Mit Schwimmbad, Trampolin, Klettergerüst, Baumhaus und – in der Luxusausführung – Skateboard-Rampe oder Tennisplatz. Weil es ein urbanes öffentliches Leben schon aus Sicherheitsgründen höchstens in Einkaufszentren gibt, spielt sich das soziale Leben in Johannesburg weitgehend in den privaten Burghöfen ab: mit braai genannten Grillpartys, Tennisturnieren und Schwimmfesten für Kinder.

Außenstehende vermuten hinter den Mauern verängstigte Bleichgesichter, die um ihren Besitz und ihre Privilegien bangen. In Wahrheit sind die Festungen jedoch zumindest tagsüber mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft bevölkert, die sich außerhalb der Umwallungen nur selten begegnen. In unserem Compound, der aus zwei Grundstücken und mehreren Gebäuden besteht, treffen außer unserer vielfarbigen Kernfamilie unsere Haushälterin, eine Mieterin aus dem Zululand, der simbabwische Gärtner sowie die größtenteils indischstämmigen Angestellten meiner Frau aufeinander. Es handelt sich um ein Miniaturmodell des neuen Südafrika, in dem neue Verhaltensweisen einzustudieren sind – ein Atelier des Regenbogenstaats.

Im Gegensatz zu Marvin, der sich eingeschlossen fühlt und für jeden Ausflug in die Außenwelt einen der Elternteile als Chauffeur gewinnen muss, ist unsere Haushälterin Rosina froh über die Festungsmauern. Entgegen weitverbreiteter Auffassung werden schwarze Südafrikaner nämlich noch wesentlich häufiger zu Opfern von Verbrechen als weiße. Neben der hohen Kriminalitätsrate klagt Rosina über die von Macho-Männern beherrschte Gesellschaft, die hohe Inflationsrate und ihren viel zu hohen Blutdruck – sie weiß allerdings auch die Errungenschaften ihrer neu konstituierten Heimat zu schätzen. Schließlich wird Rosina inzwischen nicht mehr als Leibeigene behandelt, die aus der eigenen Tasse trinken muss und nichts aus dem Kühlschrank der Herrschaft nehmen darf. Das Verhältnis zu ihren heutigen Chefs entspricht neuzeitlichen Standards – mit Arbeitsvertrag, geregelten Arbeitszeiten und Mitgliedschaft in der Haushälterinnengewerkschaft. Dass Rosina neben Kochen, Putzen und Kleiderwaschen immer wieder auch als Beraterin in Angelegenheiten afrikanischer Denk- und Lebensweise in Anspruch genommen wird, lässt die acht Sprachen sprechende Putzfrau mit Abitur großherzig zu.

Gewiss würde Rosina mit ihren Arbeitgebern tauschen – aber nur, was das Einkommen angeht. Ansonsten fühlt sie sich in ihrer Haut und Gemeinschaft wesentlich wohler als in der atomisierten Welt ihrer bleichgesichtigen Chefs. Am Wochenende pflegt sie mit Tausenden von Glaubensgeschwistern beim Gottesdienst der afrikanischen Zionskirche die ganze Nacht über zu singen und zu tanzen. Und wenn die 38-jährige Großmutter in ihrem Privatleben auch von unzähligen Problemen geplagt wird, hat sie doch ebenso viele Verwandte und Freunde, die ihr bei deren Überwindung zur Seite stehen.

Dagegen fühlt sich ihre Arbeitgeberin Merle vom ersten Vierteljahrhundert des neuen Südafrikas schon grundsätzlicher enttäuscht. Sie hatte sich in ihren Studentenjahren der Antiapartheidbewegung angeschlossen: Als Jüdin war sie gegenüber dem staatlich verordneten Rassismus empfindlicher als viele ihrer Kommilitonen. Die Euphorie, mit der Merle zunächst den neuen demokratischen Staat begrüßt hatte, ist inzwischen jedoch einer gründlichen Enttäuschung gewichen: Die Eskapaden der ANC-Regierung – ihre Misswirtschaft, Inkompetenz und Korruption – haben dem Traum vom globalen Modellstaat stark zugesetzt. Weiße Überlegenheitsfanatiker, für die ein schwarz regiertes Südafrika schon immer nur im Ruin enden konnte, fühlen sich dagegen bestätigt.

Merle zählt allerdings nicht zu den larmoyanten Bleichgesichtern, die sich von ihrer Heimat zumindest innerlich längst verabschiedet haben. Wie viele Südafrikaner, die wissen, dass Rom nicht an einem Tag und nicht von den Senatoren, sondern von seinen Bürgern errichtet wurde, sucht sie aus dem Unvollkommenen das Beste zu machen: Sie gründete ein kleines Online-Unternehmen, das Johannesburger über sämtliche für Nachwuchs und Familie relevanten Belange informiert, und trägt auf diese Weise sowohl zur Entlastung der gestressten Großstadtbewohner als auch des unter einer Arbeitslosenquote von 27 Prozent ächzenden Arbeitsmarktes bei. Inzwischen beschäftigt Merle mehr als ein halbes Dutzend Angestellte – und weil sie schnell herausfand, dass indischstämmige Südafrikanerinnen die gewissenhaftesten Arbeitnehmer sind, stehen der jüdischen Chefin heute fünf muslimische Beschäftigte zur Seite.

Die stets traditionell mit Kopftuch gekleidete Nazmeera hat kein Problem mit ihrer andersgläubigen Arbeitgeberin – solange diese tolerant bleibt und für einen eigenen Staat der Palästinenser eintritt. Die Mutter von vier Kindern folgt mit ihrer Familie den Regeln der Scharia: Das hindert sie allerdings nicht daran, auch die Vielfalt unseres Compounds zu schätzen. Nazmeera zieht es sogar vor, als Teil einer Minderheit im südafrikanischen Regenbogenstaat statt in einer islamischen Republik zu leben: »Das gibt mir mehr Freiheit, meine Religion so zu leben, wie ich will.« Eine »Rückkehr« in die Heimat ihrer indischen Urgroßeltern kommt für Nazmeera nicht in Frage: Lieber will sie am Aufbau eines vielfältigen und toleranten Staats beteiligt sein.

Zu dem natürlich auch Hilton gehören soll – selbst wenn unser Gärtner wie Millionen anderer Afrikaner aus allen Ecken und Enden des Kontinents nicht wegen der Toleranz und Vielfalt, sondern des schnöden Geldes wegen ans Kap der Guten Hoffnung kam. Seine simbabwische Heimat ist wirtschaftlich längst gründlich ruiniert. Der 26-Jährige lebt in ärmlichsten Verhältnissen in einem Slum und sendet jeden Rand, auf den er verzichten kann, zu seiner Familie nach Hause. Hilton davon zu überzeugen, mit uns an einem Tisch zu essen, erforderte Überredungskunst. Inzwischen erzählt er uns sämtliche Tragödien, von denen sein Leben gespickt ist. Kürzlich kam sein zweijähriger Sohn bei einem Autounfall ums Leben, seine Frau erlitt eine Fehlgeburt, er selbst wird immer wieder von der Polizei aufgegriffen und nach Simbabwe deportiert, weil er keine Aufenthaltsgenehmigung hat. Zwei Wochen später steht er dann wieder vor der Tür.

Vermutlich haben Geschichten wie diese zum Entschluss unserer Tochter beigetragen: Sie will einmal reich sein, und zwar noch reicher als wir. In Leratos Welt waren Schwarze bislang arm und Weiße begütert. Nur selten hatte sich ein Repräsentant des neuen schwarzen Mittelstands in unseren Compound verirrt. Kürzlich zog jedoch ein dunkelhäutiger Regierungsbeamter in unser Nachbarhaus ein: Er bewirtet auf seiner Veranda bis in die späte Nacht hinein laut und lebenslustig seine Freunde – und dreht ab und zu mal eine Runde mit seinem nagelneuen BMW. Seitdem ist für unsere 14-jährige Tochter die Gleichung »schwarz gleich arm« nicht länger gültig. Jetzt ist sie überzeugt davon, dass Menschen dunkler Hautfarbe das Leben wesentlich lockerer nehmen als blasse Exemplare wie wir. Könnte sie sich ihre Adoptiveltern aussuchen, gab sie kürzlich bekannt: Sie würde sich schwarze Eltern wählen.

»So weit sind wir also gekommen«, sagt Merle, die selbst in schweren Verletzungen noch das Positive sieht. Wäre es bis vor gar nicht allzu langer Zeit überhaupt vorstellbar gewesen, dass ein Kind lieber dem Teil der Bevölkerung angehören will, der über Jahrhunderte nur schlechtgemacht, entwürdigt und benachteiligt wurde? Fast 25 Jahre nach der großen Wende ist Südafrika zweifellos anders und wesentlich sympathischer geworden. Die Bevölkerung teilt sich Grünflächen oder Konsumtempel wie die glitzernden Johannesburger Einkaufszentren. Die schwarze Township Soweto mutet mit ihren Teerstraßen, Kinderspielplätzen und Museen nicht mehr wie ein Ghetto, sondern wie ein lebenswertes Stadtviertel an. Und in zahllosen Schulen drücken Kinder ganz unterschiedlicher Provenienz gemeinsam die Bank.

Gleichzeitig stehen jedoch Compounds wie der unsere einer überwältigenden Mehrheit der schwarzen Bevölkerung noch immer höchstens zum Broterwerb offen. Noch immer verdienen weiße Südafrikaner durchschnittlich fünfmal mehr als schwarze. Und noch immer leben 40 Prozent der dunkelhäutigen Südafrikaner unterhalb der Armutsgrenze. Niemand konnte erwarten, dass mehr als drei Jahrhunderte des Unrechts und der Unterdrückung in zwei Jahrzehnten ungeschehen gemacht werden könnten. Genauso wenig kann jedoch behauptet werden, dass lediglich mehr Zeit vergehen muss, um die Transformation der Gesellschaft zu den gewünschten Ergebnissen zu führen.

Denn im neuen Südafrika läuft Entscheidendes schief. Korruption, Vetternwirtschaft und Patronage-Politik drohen das Fundament eines stabilen Staatswesens zu unterspülen. Der Zusammenbruch öffentlicher Dienste – vor allem der Strom- und Wasserversorgung – ist nur ein Indiz für den wohl gefährlichsten Bazillus am Kap der Guten Hoffnung: Viele der Volksvertreter und Staatsdiener sind weniger am Gemeinwohl als am eigenen Vorteil, am Füllen der eigenen Tasche interessiert. An erster Stelle der dritte Präsident des neuen Südafrika, Jacob Zuma, unter dessen Ägide der Staat zu einem Selbstbedienungsladen für eine kleine Elite verkam.

Und das alles in Nelson Mandelas Regenbogennation, die nach dem südafrikanischen Prinzip des ubuntu, eines solidarischen Humanismus, errichtet werden sollte. »Umuntu ngumuntu ngabantu«, sagen die Zulus und meinen damit, dass der Mensch erst durch und mit anderen Menschen zum Menschen wird. Nelson Mandela hat diesen Grundsatz in seiner außergewöhnlichen Biografie gelebt und ihn zum Leitmotiv seines egalitären Modellstaats gemacht. Doch die Bevölkerung am Kap der Guten Hoffnung tut sich schwer, die Vision ihres Gründervaters am Leben zu erhalten. Dieses Buch beschreibt ein Land, das von einem großartigen aber flüchtigen Versprechen überspannt wird – gleich dem Regenbogen, dem die einzigartige Nation ihren Namen verdankt.

Johannesburg, im Januar 2017

Johannes Dieterich

Bestandsaufnahme

Anthropologische Grundlegung – das Völkergemisch am Kap

Wer ein wenig in der Welt herumgekommen ist, weiß, dass der Franzose Rotwein trinkt, eine Baskenmütze trägt und die irdischen Genüsse des Lebens liebt. Der Russe trinkt Wodka, tanzt dann ausgelassen und versinkt schließlich in tiefe Schwermut, die im Idealfall Bücher wie Schuld und Sühne oder Sinfonien wie die Pathétique hervorbringt. Der Deutsche trinkt Bier, weiß alles besser und rast mit seiner in Stuttgart oder München konstruierten Limousine wie eine gesengte Sau über die Autobahn. Und der Südafrikaner?

Vom Südafrikaner gibt es kein Klischee. Das liegt schon daran, dass man sich den Kapländer immer gleich in zwei Versionen vorstellen muss: in schwarzer und weißer Ausführung. Doch damit ist es nicht getan – denn schließlich gibt es noch die coloureds (Mischlinge) und die asians (Asiaten). Bei diesen Kategorien handelt es sich jedoch um grobschlächtige Klassifizierungen der abgedankten Apartheidherrscher, die in Wahrheit vollkommen verschiedene Menschengruppen umfassen. Als coloureds wurden außer den europäisch-afrikanischen Mischlingen auch die Urbewohner Südafrikas (Buschleute und »Hottentotten«) bezeichnet sowie Malaien, die bereits vor 300 Jahren als Sklaven ans Kap verschleppt wurden. Selbst Chinesen wurden zu coloureds gestempelt und hatten in den Wohngebieten der Mischlinge zu leben, während Japaner als honourable whites (Weiße ehrenhalber) durchgingen. Umgekehrt galten als »Asiaten« nur die vom südasiatischen Subkontinent stammenden Menschen aus Nepal, Sri Lanka, Bangladesch, Indien oder Pakistan: Eine ziemlich chaotische Ordnung, die da geschaffen wurde.

Wer Südafrika besser kennt, weiß, dass selbst das nicht genug ist. Auch innerhalb der schwarzen und weißen Bevölkerung gibt es bedeutsame Unterschiede. Hier die Afrikaans sprechenden Buren, deren Vorfahren bereits seit 1652 aus Holland, Deutschland und Frankreich ans Kap der Guten Hoffnung kamen und ein äußerst angespanntes Verhältnis zu den später aus Großbritannien dazustoßenden Siedlern hatten. Zweimal kam es sogar zu brutal geführten Waffengängen, den sogenannten Burenkriegen. Die Animositäten zwischen den Boere und den Rooinecke (Rotnacken, wie die Buren die aus Europa kommenden und von der ungewohnten Sonne verbrannten Briten zu nennen pflegen) leben noch heute fort.

Auf der anderen Seite, unter den schwarzen Südafrikanern, erfolgt die Feinabstimmung nach sprachlichen Kriterien: Hier die Sprachfamilie der Nguni, zu denen die Xhosa, Zulu, Ndebele und Swazi gehören. Dort die Tswana, Sotho, Pedi, Shangaan und Venda. Die Apartheidherrscher suchten diese Unterschiede für die eigene Machterhaltung auszunutzen und wiesen den Volksgruppen getrennte Reservate zu, die sie euphemistisch homelands, Heimatländer, nannten. Dagegen legte der Afrikanische Nationalkongress (ANC) großen Wert darauf, solche ethnischen Differenzen zugunsten der gemeinsamen Identität als unterdrückte Afrikaner herunterzuspielen. Anders als in vielen anderen afrikanischen Staaten, deren Grenzen von den Kolonialisten willkürlich gezogen worden waren, kam es nach der Entkolonialisierung Südafrikas 1994 nicht zu ethnisch motivierten, tribalistischen Zusammenstößen, obwohl die scheidende weiße Minderheitsregierung alles versuchte, die Animositäten zwischen der Inkatha-Partei der Zulus und dem damals von Xhosas (der »Xhosa Nostra«) dominierten ANC noch anzuheizen. Ganz sind die Ressentiments zwischen den verschiedenen Volksgruppen allerdings auch im neuen Südafrika nicht ausgeräumt.

Als wir unsere Tochter im Alter von vier Jahren eine afrikanische Sprache lernen lassen wollten, dachten wir an Zulu, als die von den meisten schwarzen Südafrikanern gesprochene Sprache. Das brachte jedoch unsere Freundin Schupi (Muttersprache: Pedi) auf die Palme. Sie sah darin einen unziemlichen Triumph der imperialistischen Zulus, deren König Shaka Anfang des 19. Jahrhunderts Krieg und Verheerung über das Landesinnere Südafrikas gebracht hatte, und die als größte Bevölkerungsgruppe im Staat noch heute ziemlich herrisch sein können. Die Konsequenz der Sprachdebatte: Lerato lernte gar keine afrikanische Sprache. Und als sie später in der Schule neben Englisch zumindest eine weitere der elf offiziellen südafrikanischen Sprachen wählen sollte, entschied sie sich für Afrikaans, die berüchtigte Sprache der einstigen Unterdrücker, weil das ihrem akzentfrei beherrschten Deutsch sehr nahe ist und ohne großen Einsatz eine gute Note versprach. Ihre Zulu lernenden Klassenkameraden fallen dagegen reihenweise durch.

Wer annahm, dass die obsessiven rassischen Klassifizierungen im neuen Südafrika allmählich verschwinden würden, sieht sich getäuscht. Die Generation meiner Kinder hat die kompromittierenden Kategorien sogar noch weiter verfeinert: Sie spricht außer von Schwarzen, coloureds und Weißen noch von yellow bones (Schwarze mit hellerer Haut), von light skinned (Mischlinge mit heller Haut) oder von coconuts. Bei Letzteren handelt es sich um Menschen, die wie eine Kokosnuss außen braun und innen weiß sind – also wie unsere Kinder als Schwarze in einem weißen Elternhaus oder in »europäischer Kultur« aufwachsen. Der Unterschied zwischen unserer Generation und der unserer Kinder ist jedoch, dass diese mit ihrer feinjustierten äußeren Beschreibung keine charakterlichen Eigenschaften mehr verbinden – dass also schwarz nicht automatisch gewalttätig und ungebildet, weiß überheblich und coloured identitätslos bedeutet. Für sie ist die Farbe der Haut kaum bedeutender als der Anstrich eines Hauses: Mein Sohn kommt mal mit einer schwarzen, dann mit einer weißen und schließlich mit einer braunen Freundin nach Hause.

Die alten südafrikanischen Rasseneinteilungen gründen auf Theorien, die vor allem in Deutschland Anfang des vergangenen Jahrhunderts entwickelt worden waren – der Begründer der Apartheid, Hendrik Verwoerd, hatte in den 1920er Jahren in Deutschland studiert. In der Wissenschaft redet man längst nicht mehr von Rassen: Äußere Merkmale wie Haare, Haut und Schädelform haben sich zur Unterscheidung möglicher Unterarten des Homo sapiens als unbrauchbar erwiesen. Genetisch kann ein Afrikaner einem Europäer ähnlicher sein als ein Berliner dem anderen. Auch wer Rasse eher kulturell definieren will, scheitert am Kap: Denn dort gilt sowohl ein südafrikanischer Zulu als auch ein Jolof aus dem Senegal als schwarz, obwohl sie kulturell so viel Ähnlichkeit miteinander haben wie ein Bayer mit einem St. Petersburger. Noch absurder war die Zuordnung eines Buschmanns, eines malaiischen Sklaven oder des Kindes eines deutschen Vaters und einer Xhosa-Mutter in die Klasse der coloureds. In diese Kategorie stopften die Rassentrenner alles hinein, was weder schwarz noch weiß noch asiatisch war.

Um die Verwirrung vollends perfekt zu machen, haben die Klassifizierungen inzwischen auch noch eine politische Dimension angenommen. Auf dieser Ebene unterscheidet sich ein schwarzer Südafrikaner von einem weißen dadurch, dass dieser unter der Apartheid gelitten hat, während jener davon profitierte. Deshalb bezeichnen sich politisch denkende Inder oder coloureds als schwarz, weil auch sie zu den Entrechteten gehörten. Dagegen hat dann allerdings ein traditioneller Zulu wieder etwas einzuwenden: Er würde sich ungern mit dem Nachfahr muslimischer Sklaven aus Malaysia in eine Gruppe pressen lassen. Das alles muss man am Kap der Guten Hoffnung mitdenken, wenn man von Rassen spricht. Unter diesen Umständen wäre es natürlich am besten, das untaugliche und vorbelastete Konzept ganz fallen zu lassen – aber dann wäre man nicht in Südafrika angekommen.

Südafrikanische Farbenlehre – getrennte Gesellschaft, gefährdete Gemeinschaft

Chumani Maxwele hatte irgendwann die Nase voll. Morgen für Morgen musste der Politikstudent den versteinerten Cecil Rhodes passieren, der seit über 80 Jahren mitten auf dem Campus der renommierten Universität von Kapstadt auf einem Podest saß – den Blick angestrengt auf das afrikanische Hinterland gerichtet, das der britische Erzimperialist in großen Stücken unter die Kontrolle des Königlichen Empires brachte. »Ich behaupte, dass wir die erlesenste Rasse dieser Welt sind«, brachte Cecil Rhodes die Hybris der Europäer zum Ausdruck. »Je mehr wir von dieser Erde bewohnen, desto besser für die Menschheit.«

Im März 2015 sammelte Chumani Maxwele ein Eimerchen Kot aus den Plumpsklos, die in den Slums des Touristenmekkas Kapstadt noch immer gang und gäbe sind, und warf es Sir Cecil Rhodes kurzerhand an den Kopf. Er habe es satt, der Ausgeburt des europäischen Imperialismus Tag für Tag über den Weg laufen zu müssen, erklärte der Politikstudent: »Rhodes muss weg.«

Und so geschah es auch. Nachdem Hunderte, mehrheitlich dunkelhäutige Studenten mehrere Wochen lang mit täglichen Sit-ins vor der Statue protestiert hatten, lenkte die Universitätsverwaltung schließlich ein und bestellte einen Kran, der den berüchtigten Eroberer behutsam, aber entschlossen vom Sockel holte – er wurde im Universitätskeller endgelagert. Doch dabei blieb es nicht.

Maxweles Kot-Attacke machte Schule und wurde zum Auftakt eines regelrechten Denkmalkriegs, der mehr als zwei Jahrzehnte nach der Geburt des neuen Südafrikas das Kap der Guten Hoffnung heimsuchte. Überall im Land gerieten Monumente in die Wurflinie der Standbilderstürmer: Verschont blieben nicht einmal die im Zentrum von Johannesburg aufgestellte Statue von Mahatma Gandhi (der trotz seines beherzten antiimperialistischen Kampfes rassistische Auffassungen gehabt haben soll) und der bronzene Abguss eines reiterlosen Pferdes in Port Elizabeth (das den weißen Eindringlingen als Beförderungsmittel diente).

Bald eilten den angegriffenen Standbildern Verteidiger zur Seite, die – kaum überraschend – allesamt heller Hautfarbe waren. Eine weiße Schlagersängerin kettete sich – die alte Nationalhymne des Landes schmetternd – an das Denkmal Paul Krügers in Pretoria, um den einstigen Buren-Präsidenten vor einer finalen Schändung zu retten. Sie wurde wiederum von Historikern unterstützt, die darauf hinwiesen, dass man Geschichte nicht durch die Beseitigung ihrer Relikte ungeschehen machen könne (und dass das reiterlose Bronzepferd in Port Elizabeth in Wahrheit der unschuldig leidenden Kreatur in den Burenkriegen gewidmet war). Selbst die ANC-Regierung rief die Bilderstürmer zur Mäßigung auf: Statt die Monumente mit Exkrementen zu beschmutzen, sollten sie ihren Protest lieber in herkömmliche Bahnen lenken. Und schließlich stellte der liberale weiße Kolumnist Max du Preez resigniert fest: »Die Regenbogennation liegt in Scherben!«

Damit hatte er nicht einmal ganz unrecht. Denn tatsächlich war es keinem anderen als dem Gründervater der Regenbogennation, Nelson Mandela, zuzuschreiben, dass die kompromittierten Heroen überhaupt noch dermaßen lange auf ihren Sockeln ausharrten. Mandela hatte den Südafrikanern eingebläut, die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit zu nehmen. Mit der Mandela-Rhodes-Stiftung, die Stipendien an mittellose Studenten vergibt, war er sogar selbst eine Allianz mit den Nachlassverwaltern des Erzimperialisten zugunsten der Ausbildung künftiger Generationen eingegangen. Viele weiße Südafrikaner hatten Mandelas Versöhnungsbotschaft allerdings dahingehend verstanden, dass sie auch im neuen Südafrika nicht von ihren lieb gewonnenen Vorstellungen und Privilegien lassen müssten. Als ob mit der politischen Wende 1994 bereits alles Wesentliche geschehen wäre.

In Wahrheit war der politische Machtwechsel nur der erste Schritt einer Reise, deren Ende noch längst nicht abzusehen ist. Noch immer entscheidet in Südafrika über den Verlauf eines Lebens, ob dieses in eine dunkle oder helle Hülle eingepackt begonnen hat. Im ersten Fall wächst man in der Regel in einer Township oder auf dem Land in einem Kraal auf, besucht eine staatliche Schule – die oft bis zu 90 Kinder in einer Klasse haben, dafür jedoch kein Glas in den Fenstern, geschweige denn Computer in den Klassenzimmern – und wird später größte Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden. Weiße Kinder wachsen dagegen auf einer Farm, im Dorfzentrum oder in einer der städtischen Suburbs auf, besuchen eine Privatschule und kommen später, wenn sie nicht ganz auf den Kopf gefallen sind, irgendwo in der freien Wirtschaft unter – oder übernehmen die Farm.

Gewiss dringen immer mehr schwarze Südafrikaner in die bislang weißen Domänen ein. Sie ziehen als Angehörige des Mittelstands in Stadtviertel, die einst Bleichgesichtern vorbehalten waren, schicken ihre Kinder in integrierte Schulen und arbeiten im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen, in denen rassische Segregation und Exklusivität verboten sind. Sie sind die Hoffnungsträger der Regenbogenfraktion. Spätestens nach Feierabend gehen die schwarzen und weißen Arbeitskollegen aber meist noch getrennte Wege: Zum Abhängen begeben sich die Johannesburger Bleichgesichter nach Parkhurst, während ihre dunkelhäutigen Kollegen eher Sandton oder Melville anpeilen. Samstags ziehen die Weißen in Scharen zum Rugby, Schwarze suchen das Fußballstadion auf. Alle Schaltjahre kommt es mal vor, dass ein Rugby-Spiel im Orlando Stadium in Soweto ausgetragen wird: Dann zeigen sich die Südafrikaner von ihrer besten Seite und inszenieren das Schauspiel von der Regenbogennation. Weiße Familien fallen in ihren allradgetriebenen Karossen in die ausschließlich von Schwarzen bewohnte Mega-Township ein, packen ihre tragbaren Grills aus und verbrüdern sich biertrinkend mit ihren dunklen Landsleuten. Die Medien berichten zwei Tage über das Spektakel. Und am dritten Tag ist wieder alles beim Alten.

Die Südafrikaner brauchen gar keine Gesetze mehr, um sich voneinander fernzuhalten. Der Johannesburger Emmarentia-Park wird fast ausschließlich von Weißen, der Zoo-Park von Indern, der Joubert-Park im Zentrum der Stadt allein von Schwarzen frequentiert. Persönliche Feste wie Geburtstage oder Hochzeiten sind meist ziemlich einfarbige Angelegenheiten – höchstens mit ein paar Tupfern der jeweiligen Kontrastfarbe versehen, die als Ausnahmen die Regel bestätigen. Südafrikanische Sitcoms werden entweder für Schwarze mit fast ausschließlich schwarzer Besetzung in für Schwarze konzipierten Fernsehprogrammen – oder für Weiße mit fast ausschließlich weißem Ensemble im für Weiße vorgesehenen TV-Programm ausgestrahlt. Als eine Produktionsfirma bereits kurz nach der Wende eine buntere Szenerie ausprobieren wollte, sei das von den Zuschauern als »zu gekünstelt« abgelehnt worden, erzählt die Schauspielerin Brümilda van Rensburg. Wenn ich mit meiner dunkelhäutigen Tochter einen der trostlosen öffentlichen Spielplätze in Johannesburg aufsuchte, brachen die zahlreichen, ihre weißen Zöglinge beaufsichtigenden schwarzen Kinderfrauen in schallendes Gelächter aus. Ihnen kam es vor, als ob beim Entwickeln der Bilder etwas schiefgelaufen wäre – unter die schwarz-weißen Abzüge war ein weiß-schwarzes Negativ geraten.

Jährlich erhält Südafrikas Menschenrechtskommission fast 4000 Beschwerden über Fälle von Ungleichbehandlung, die meist mit der Hautfarbe des Klägers zu tun haben. Ob das nun weiße Polizisten sind, die ihre Hunde auf wehrlose schwarze Immigranten hetzen, oder Friseure, die keine schwarzen Kunden bedienen wollen, weil sie sich (angeblich) mit deren Haarstruktur nicht auskennen. Regelmäßig wird auch noch das längst verbotene K-Wort (für Kaffir) verwendet, und in der Provinzstadt Louis Trichardt gab es mehr als 20 Jahre nach der Apartheid in einem Bürogebäude noch separate Toiletten für Schwarze und Weiße. Besonders interessant sind die subtilen Diskriminierungsfälle – wie die kulturellen Vorurteile in den standardisierten Eignungstests für Jobbewerber. Darin würden die in der westlichen Welt üblichen individualistischen Problemlösungsvorschläge besser bewertet als kollektive afrikanische Entscheidungsprozesse, beschweren sich dunkelhäutige Kandidaten. Auf diese Weise hätten sie von vornherein schlechtere Chancen.

Gelegentlich sorgen die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen auch für merkwürdige Entgleisungen. Mcebo Dlamini, Präsident der Studentenvertretung der Johannesburger Witwatersrand-Universität, stimmte einst auf seiner Facebook-Seite ausgerechnet ein Loblied auf Adolf Hitler an: »Ich bewundere das Charisma und die organisatorischen Fähigkeiten dieses Mannes«, schwärmte das überzeugte ANC-Mitglied, das während der Studentenstreiks im Herbst 2016 eine entscheidende Rolle spielte. Seine Bewunderung begründete Dlamini mit der Behauptung, Hitler habe die Deutschen »aus den Klauen der Kommunisten befreit und wieder groß gemacht« – und so die Grundlage dafür geschaffen, dass heute in aller Welt deutsche Autos gefahren werden. Höchste Zeit also, dass auch »die guten Seiten« des Führers beleuchtet würden.

Das sei ungefähr so, als ob man einen Vergewaltiger für seine prächtige Erektion lobt, warf eine aufgebrachte Kommentatorin ein. Vor allem in liberalen weißen Kreisen sorgten Dlaminis Äußerungen für blankes Entsetzen. Der Studentenführer wurde als »schwarzer Faschist« gebrandmarkt und kurze Zeit später – allerdings wegen eines anderen Vorfalls – seines Amtes enthoben. In Wahrheit sei es ihm gar nicht um Adolf Hitler gegangen, gab Dlamini erst später die eigentlichen Beweggründe seines Affronts bekannt: Er habe lediglich die »Heuchelei der Weißen« aufdecken wollen, die von Schwarzen verlangten, stets dieselben Idole lieben und dieselben Bösewichter verachten zu müssen.

Noch immer ist Südafrika in klar definierte Lager aufgeteilt. Die Stellungen sind meist dermaßen offensichtlich, dass man selbst als Ausländer gleich weiß, ob es sich bei einem Anrufer in einer Radio-Talkshow um einen Weißen oder Schwarzen handelt – man muss nur die Wortwahl und die Perspektive beachten. Ein dunkelhäutiger Anrufer beklagt sich über mangelnde Jobs, steigende Preise und zusammengebrochene Sozialstrukturen. Er spricht von community und our traditions und ist der Überzeugung, dass »der Westen«, wozu auch die weißen Mitbürger zu zählen sind, die Afrikaner und ihren Kontinent niederzuhalten sucht. Dagegen beschwert sich ein bleicher Anrufer am liebsten über die Ineffizienz der neuen Verwaltung, den Kollaps öffentlicher Dienstleistungen wie der Wasser- oder Stromversorgung (Annehmlichkeiten, die viele schwarze Südafrikaner noch bis vor 20 Jahren gar nicht in Anspruch nehmen konnten) und ist der Überzeugung, dass they (womit die Schwarzen und ihre Regierung gemeint sind) das Land in den Ruin treiben werden.

Auch in der Politik sind die Lager klar abgesteckt. Schwarze wählen so selbstverständlich den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) wie Weiße die Demokratische Allianz (DA) – obwohl die DA schon seit geraumer Zeit von einem Schwarzen geführt wird. Doch Mmusi Maimane wird vom ANC als dunkelhäutiger Lakai der im Hintergrund agierenden weißen Herrschaft oder kurz: als ein »gemieteter Eingeborener« verleumdet. Eine Ministerin meint sogar: »Er ist wie ein dressierter Affe, der weiter tanzt, selbst wenn er sich bereits in Freiheit befindet.« Auf der anderen Seite sehen sich weiße Südafrikaner mit Jacob Zuma in ihrem Stereotyp vom »schwarzen Mann« bestätigt: ungebildet, vom Sexualtrieb angefeuert, hochgradig korrupt.