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Divina Michaelis

Magie des Blutes





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Magie des Blutes

 

 

 

 

 

 

 

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Verletzt

„Ich krieg dich, du Mistvieh!“

Zusammen mit dem Ruf krachte ein Schuss. Ein kräftiger Schlag traf die Wölfin an der Flanke, dem sich sofort ein höllischer Schmerz anschloss, der sich von dort strahlenförmig ausbreitete. Aufjaulend sprang sie hoch und raste, von weiteren Schüssen verfolgt, im Zickzack zwischen den eng stehenden Bäumen hindurch. Schnee stob bei dem schnellen Lauf hinter ihren Pfoten hoch. Weitere Schüsse und deren Einschläge in nächster Nähe folgten, der scharfe Geruch von Schmauchpartikeln verteilte sich in der Luft. Glücklicherweise hatte der Mann sie nur im Bein erwischt, aber es machte sie wütend, dass er überhaupt auf sie schoss. Sie hatte nichts getan, was das rechtfertigen würde.

Für mich gibt es ein Jagdverbot, du Arschloch!‘, dachte sie und hätte ihm das auch am liebsten zugeschrien, wäre es ihr möglich gewesen. Aber wahrscheinlich hätte es ihn eh nicht interessiert.

Mit einem letzten großen Sprung brachte sie sich außer Reichweite der Schusswaffe, dennoch musste sie weiter auf der Hut sein. Ihre Spuren waren im Schnee gut zu sehen und der Mann könnte ihr nachstellen. Noch bestand Gefahr. Obwohl sie sich viel lieber ihrem Schmerz hingegeben und um ihre Wunde gekümmert hätte, musste sie wenigstens so weit laufen, bis sie sicher sein konnte, dass er ihr nicht folgte. Im Moment durfte sie keine Rücksicht auf ihre Verwundung nehmen.

 

Allein die Tatsache, dass ein Wolf durch den Wald lief, schien manchen Menschen eine Höllenangst einzujagen. Alte Vorurteile tauchten wieder auf, das Märchen vom bösen Wolf machte erneut die Runde. Dabei ernährte sie sich auf ihrer Reise lediglich von schwachem und krankem Rotwild, überfahrenen Tieren und einigen Langohren, die dumm genug waren, sich von ihr fangen zu lassen. Die meisten Wölfe taten das und lebten gut damit.

Wenn sie, Anja, es sich hätte aussuchen können, würde sie eine ordentliche Mahlzeit ohne Fell und Knochen bevorzugen, aber in dieser Gestalt musste sie sich damit abfinden, zu leben und zu jagen wie ein Wolf. Doch nicht einmal das gönnte dieser Kerl ihr – und den echten Wölfen wahrscheinlich auch nicht.

 

Ihre Reise in den Norden Deutschlands war bereits ohne schießwütige Männer beschwerlich genug. Aber sie würde nicht darauf verzichten, denn ebenso wie sie war ihr Seelengefährte dort geboren worden. Für jeden Gestaltwandler bestimmte das Schicksal einen Menschen in der Nähe, der zu ihm gehörte, doch niemand wusste, wer das war, bis sie sich begegneten. Wenn sie ihn also jemals finden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Suche an ihrem Geburtsort zu beginnen.

Um sich von ihrem Schmerz abzulenken, dachte Anja über die Gründe nach, die ihre Mutter bewogen hatten, Deutschland zu verlassen. Sie selbst war noch zu klein gewesen, um sich daran erinnern zu können, aber sie kannte die Geschichten trotzdem: Es begann mit dem Verschwinden ihres Bruders. Er hatte im Garten gespielt und ihre Mutter war kurz ins Haus gegangen, um ihm etwas zu trinken zu holen. Als sie wieder herauskam, war er wie vom Erdboden verschluckt. Man vermutete einen Racheakt von jemandem, den ihr Vater hinter Gitter gebracht hatte. Ein monatelanger Albtraum folgte, doch der Junge tauchte nie wieder auf und niemand konnte mit der Entführung in Verbindung gebracht werden. Ein halbes Jahr später wurde Anjas Vater bei der missglückten Festnahme eines Wilderers erschossen. Mit dem Verlust ihrer großen Liebe und ihres Sohnes hielt Anjas Mutter nichts mehr in Deutschland. Im Nachbarland fanden sie ein Zuhause, in dem sie ihre Natur ausleben konnten, ohne die ständige Angst im Nacken, erschossen zu werden. Dennoch wurde ihre Mutter nicht besonders alt. Sie starb am gebrochenen Herzen und für Anja wurde es Zeit, zurückzugehen.

Da ihre finanziellen Mittel mit der Beerdigung ihrer Mutter aufgebraucht waren, hatte sie nicht viele Möglichkeiten gehabt, um nach Deutschland zu kommen. Ihr erster Ansatz, per Anhalter zu reisen, endete in einer versuchten Vergewaltigung. Um nicht noch einmal in so eine Lage zu geraten, schlug sie sich nun als Wolf durch. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihr das so kurz vor dem Ziel ebenfalls zum Verhängnis werden würde.

 

Bestimmt zwanzig Kilometer hatte sie immer stärker humpelnd zurückgelegt. Mittlerweile war es auch dunkel geworden und der Schmerz so stark, dass sämtliche Versuche, sich mit Grübeleien abzulenken, fruchtlos verrauchten. Erschöpft verkroch sie sich in einer windgeschützten Kuhle, um sich von den Strapazen ein wenig auszuruhen. Ihre Flanke brannte wie Feuer. Das Fleisch an dieser Stelle fühlte sich heiß an und pochte. Die Kugel musste schnellstens heraus!

Als Mensch könnte sie das Geschoss entfernen, aber dafür bräuchte sie Werkzeug und – sie drehte den Kopf und schaute auf den tiefen Schnee ringsum – warme Kleidung. Beides stand ihr hier nicht zur Verfügung. Vielleicht, wenn sie es bis zur nächsten Ansiedlung schaffte …

Das Heulen eines Wolfsrüden ließ sie aufhorchen und sorgte dafür, dass sich ihre Nackenhaare sträubten. Sein Ruf galt jeder Wölfin in der Umgebung. Er suchte eine Partnerin zur Gründung eines Rudels. Da keine Fähe antwortete, nahm sie an, in diesem Gebiet die einzige zu sein, die dem am Nächsten kam. Als wenn sie nicht genug Probleme hätte. Schwerfällig erhob sie sich und hoffte, dass er sie noch nicht gewittert hatte. Sie sollte zusehen, dass sie einen Unterschlupf fand, zu dem er ihr nicht folgen würde und wo sie die Möglichkeit hatte, endlich die mistige Kugel loszuwerden.

Aufmerksam hielt sie die Nase in den Wind und sog die Luft ein. Das Glück war ihr hold. Ein ganz leiser Hauch tierischer Ausdünstungen, von Pferden stammend, wurde ihr angetragen. Wo Pferde standen, waren Menschen und ihr Werkzeug oft nicht allzu weit. Also lief sie in die angedachte Richtung und bemerkte bereits auf halbem Weg, dass sich zu dem Pferdeduft auch der eines Menschen und diverse andere bekannte Gerüche gesellten. Hoffnungsvoll legte sie noch einen Zahn zu, auch wenn sie dadurch das Gefühl hatte, ihr müsste das Bein abfallen. Ein Gehöft würde ihre Rettung sein.

Als der Hof in ihr Blickfeld geriet, begann sie sich vorsichtiger und nur noch in den Schatten zu bewegen. Die Aufmerksamkeit des Besitzers konnte sie nicht gebrauchen, denn er wusste ja nicht, dass sie keine schlechten Absichten hegte. Folglich schlich sie sich von einem zugeschneiten Busch zum nächsten, suchte Deckung hinter einer kleinen Mauer, dem Auto und nicht zuletzt hinter ein paar Tonnen, in denen im Sommer Regenwasser gesammelt wurde. Ihr dunkelbraunes Fell half ihr dabei, sich in den Schatten der Nacht zu verstecken, aber allein darauf verlassen wollte sie sich nicht.

Die Stalltür war geschlossen, wenn auch lediglich mit einem Klinkbeschlag versehen. Als Wölfin war es ihr dennoch unmöglich, ihn zu öffnen. Ihr fehlte der Daumen, der dazu nötig war, den Hebel zu betätigen, damit sich der Riegel innen hob. Jeder Versuch, dieses mit ihren Pfoten zu tun, brächte neben einem Misserfolg nur unnötigen Lärm hervor und den wollte sie unbedingt vermeiden.

Von drinnen hörte sie das unruhige Schnauben der Pferde. Natürlich. Sie witterten den Wolf. Wieder sah sie sich um, suchte einen alternativen Unterschlupf zum Stall, aber außer dem Wohnhaus war da nichts, das sich annähernd eignete. Immerhin hoffte sie im Stall auch etwas zu finden, mit dem sie die Kugel entfernen konnte.

Ihre Flanke schmerzte höllisch und pochte stark. Das viele Laufen hatte ihr alles andere als gutgetan. Außerdem ließ die Adrenalinwirkung nach, sodass die Schmerzen ihre Sinne benebelten und sie bleierne Müdigkeit überfiel. Sie sollte sich beeilen, und wenn der einzige Weg in den Stall nur über die Menschengestalt möglich war, musste sie sich eben trotz der frostigen Temperaturen wandeln. Das war nur logisch, aber ihr Widerwille, ihre nackte Haut der Kälte der Winternacht auszusetzen, ließ sie zögern.

Es ist nur für kurze Zeit‘, versuchte sie sich in Gedanken selbst Mut zuzusprechen. ‚Nur so lange, bis ich die Tür geöffnet habe. Im Stall ist es viel wärmer.‘ Dennoch zögerte sie noch weitere Minuten.

Und dann sah sie ihn, den Rüden. Er stand am Waldrand und beobachtete sie, offenbar uneins mit sich, ob er es wagen sollte, ihr zu folgen oder nicht. Das gab für sie den Ausschlag.

Binnen Sekunden stand Anja in ihrer Gestalt als Frau nackt vor dem Holzgebäude, vor Kälte zitternd. Ein blutiges Rinnsal lief ihr am Bein hinunter, in der Nacht schwarz wirkend auf ihrer hellen Haut. Anja legte die Hand auf den Griff der Stalltür, betätigte den Hebel und zog die Tür auf.

Mit dem lauten Quietschen, das durch die Dunkelheit der Nacht brüllte, hatte sie nicht gerechnet und hielt kurz inne. Hoffentlich hatte das niemand gehört. Besorgt blickte sie zum Haus, doch noch blieb alles dunkel. Dafür fing es jetzt an, dicke, nasse Flocken zu schneien.

Es half alles nichts, sie musste aus der Kälte heraus. Bibbernd schlüpfte sie durch den Spalt vor sich und zog die Tür, so langsam es ging, hinter sich zu. Trotz dieser Vorsicht machte sie erneut einen Höllenlärm.

Neben dem starken Geruch von Pferden umhüllte sie komplette Finsternis und nun halfen ihr nicht einmal ihre guten Wolfsaugen, für die das Restlicht im Wald ansonsten mehr als ausreichend war. Einen Lichtschalter zu suchen, wagte sie nicht, zu groß war die Möglichkeit der Entdeckung, wenn der Schein durch Fenster und Ritzen nach außen drang.

Verdammt! Wie sollte sie so Werkzeug finden? Außerdem war es auch hier drinnen nicht so warm, dass sie es sich erlauben konnte, längere Zeit nackt herumzulaufen. Sie krümmte die Zehen auf dem eisigen Betonboden, fühlte Krümel und Strohreste, die sich in ihre Fußsohlen drückten, und spürte, wie die Kälte nach ihr griff. Wenn sie nicht unterkühlen wollte, musste sie sich schnell zurückverwandeln. Aber dann wäre es ihr wieder nicht möglich, die Kugel zu entfernen. Andererseits ging das aufgrund der Dunkelheit sowieso nicht, also musste sie den Tag abwarten und hoffen, dass sie bis dahin niemand entdeckte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in ihrem Bestreben, die Kugel loszuwerden, das Ganze nicht zu Ende gedacht hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sich eine ihrer vermeintlich guten Ideen als unbrauchbar herausstellte, aber meistens wendete sich im Nachhinein doch alles zum Guten. Wenigstens war sie hier erst einmal vor dem Rüden in Sicherheit.

Noch immer verhielten sich die Pferde unruhig, weshalb sie sich behutsam vorwärts tastete, um sie zu besänftigen. Momentan roch sie sowohl nach Mensch als auch etwas nach Wolf und die Reittiere würden wahrscheinlich Ruhe geben, wenn sie sie nicht mehr als Gefahr ansähen. Folglich murmelte sie ein paar beruhigende Worte, während sie sich am Holz orientierend von Box zu Box schlich und die sechs Pferde und Ponys tätschelte, damit sie sich an ihren Geruch gewöhnten.

Beim letzten Verschlag angekommen zitterte sie bereits so heftig, dass sie kaum noch zu einer vernünftigen Bewegung fähig war und jeder Gedanke nur das Streben nach Wärme verfolgte. Wenigstens betäubte die Kälte den Schmerz – wie sie auch alles andere betäubte –, aber gerade jetzt litt sie lieber daran, als zu erfrieren. Inzwischen war es ihr beinahe egal, ob sie die Pferde mit ihrer Rückverwandlung erschreckte, sie tat es einfach.

Glücklicherweise blieben die Tiere ruhig, aber es dauerte geraume Zeit, bis ihr wieder einigermaßen warm war, so sehr steckte ihr die Kälte mittlerweile in den Knochen. Sie suchte sich einen Platz, der möglichst weit weg von der zugigen Tür war, rollte sich zusammen und schlief augenblicklich ein.