Mouse – eigentlich Penny – leidet unter einer seltsamen Persönlichkeitsstörung. Wann immer eine ihrer verschiedenen »Seelen« die Herrschaft über Leib und Geist gewinnt, kommt es zu einem Blackout – nur weiß sie das nicht. Andrew Gage, der junge Kollege bei Reality Factory, einer Firma, die sich mit virtueller Realität beschäftigt, erkennt, was mit ihr los ist: Er hat die gleiche Krankheit, nur hält er die Vielzahl seiner »Seelen« – den sexbesessenen Teenager Adam, die freundliche Tante Sam, den gewalttätigen Gideon, den ängstlichen kleinen Jake und viele andere mehr – dadurch in Schach, dass er in seinem Kopf ein Haus für sie alle eingerichtet hat. Andy versucht, Penny zu helfen, die von zwei bösartigen Personen in ihrem Kopf konkret bedroht wird, doch dadurch wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die an Andys tiefstes Geheimnis rühren und die Stabilität seines Seelenlebens gefährden.

 

Hanser E-Book

Matt Ruff

 

Ich und die anderen

 

Roman

 

Aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Michael, Daniel, J. B., Scooter und überhaupt die ganze Bande

 

 

Ich bin, was es an Töchtern gibt in meines Vaters Haus; gleichfalls an Söhnen …

 

– William Shakespeare, Was ihr wollt

Inhalt

I   Gleichgewicht

 

Erstes Buch: Andrew

Zweites Buch: Mouse

Drittes Buch: Andrew

Viertes Buch: Mouse

Fünftes Buch: Andrew

Sechstes Buch: Mouse

 

 

II   Chaos

 

Siebtes Buch: In die Badlands

Achtes Buch: Lake View

Neuntes Buch: Heimkehr

Zehntes Buch: Chief Bradleys Tränen

 

 

III   Ordnung

 

Letztes Buch: Epilog

 

 

Mein Vater rief mich heraus.

Ich war sechsundzwanzig, als ich aus dem See kam, was manche Leute wundert, die sich fragen, wie ich ein Alter haben konnte, ohne eine Vergangenheit zu haben. Aber auch ich wundere mich: Die meisten Leute, die ich kenne, können sich an ihre Geburt nicht erinnern, und – das ist das erstaunlichste – es stört sie gar nicht, daß sie sich nicht erinnern. Meine gute Freundin Julie Sivik erzählte mir einmal, ihre früheste Erinnerung sei eine »Momentaufnahme« von ihrem zweiten Geburtstag, wie sie auf einem Stuhl steht, um die Kerzen auf ihrer Torte auszupusten. Davor, sagte sie, ist nichts, aber das schien sie nicht weiter zu beunruhigen, als sei es die natürlichste Sache von der Welt, zwei Jahre seines Lebens verpaßt zu haben.

Ich erinnere mich an alles, vom ersten Augenblick an: an den Klang meines Namens in der Dunkelheit; den Schock des kalten Wassers; das Algengewirr auf dem Grund des Sees, in dem ich die Augen öffnete. Da unten ist das Wasser schwarz, aber an der Oberfläche, weit über mir, konnte ich Sonnenlicht sehen, und ich trieb darauf zu, von meines Vaters Stimme angezogen.

Mein Vater erwartete mich am Ufer des Sees, zusammen mit Adam und Jake und Tante Sam. Hinter ihnen stand das Haus, Seferis hoch oben auf der Kanzel, von wo aus er den Körper im Auge behielt; und ich spürte, daß mich die anderen – zu scheu, um sich zu zeigen – von den seezugewandten Fenstern und vom Waldrand aus beobachteten. Gideon muß auch zugeschaut haben, von der »Wüste« aus, aber damals wußte ich noch nichts von ihm.

Wahrscheinlich sollte ich das mit dem Haus erklären. Tante Sam sagt, ein guter Geschichtenerzähler verrät wichtige Informationen nur stückchenweise, nach und nach, damit seine Zuhörer das Interesse nicht verlieren, aber ich fürchte, wenn ich nicht schon jetzt alles erkläre, werden Sie nichts verstehen, und das ist noch schlimmer, als das Interesse zu verlieren. Sehen Sie es mir also nach, und ich verspreche, darauf zu achten, Sie später nicht zu langweilen.

Haus, See, Wald und »Wüste« befinden sich alle in Andy Gages Kopf, beziehungsweise in dem, was Andy Gages Kopf gewesen wäre, wenn er noch lebte. Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: die Mißhandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie. Dann wurden die einzelnen Fragmente zu eigenständigen Seelen, den gemeinsamen Erben von Andys Leben.

Damals gab es noch kein Haus, lediglich einen dunklen Raum in Andy Gages Kopf, in dem alle Seelen gemeinsam hausten. In der Mitte des Raums ragte eine Säule aus gleißendem Licht auf, und jede Seele, die in das Licht trat oder hineingezogen wurde, fand sich draußen wieder, in Andy Gages Körper, ohne jede Erinnerung daran, wie sie dorthin geraten oder was seit ihrem letzten Ausstieg geschehen war. Wie Sie sich vorstellen können, war das ein beängstigendes, schreckliches Dasein, um so schrecklicher, als die Übergriffe des Stiefvaters keineswegs aufhörten. Von den sieben ursprünglichen Seelen, die von Andy Gage abstammten, wurden fünf später ebenfalls ermordet, und selbst die zwei überlebenden sahen sich gezwungen, sich aufzuspalten, um mit der Situation fertig zu werden. Als sie endlich von Horace Rollins freikamen, lebten in Andy Gages Kopf bereits über hundert Seelen.

Da erst begann der eigentliche Kampf. Im Laufe vieler Jahre gelang es den zwei überlebenden ursprünglichen Seelen – Aaron, meinem Vater, und Gideon, meines Vaters Bruder –, sich immerhin ein ausreichendes Gefühl von Kontinuität zusammenzustückeln, um zu begreifen, was mit ihnen geschehen war. Mit Hilfe einer guten Ärztin namens Danielle Grey arbeitete mein Vater daran, Ordnung zu schaffen. Anstelle des dunklen Zimmers konstruierte er in Andy Gages Kopf einen geographischen Raum, eine sonnige Landschaft, in der die Seelen sich sehen und miteinander sprechen konnten. Er erschuf das Haus, so daß sie eine Wohnung hatten; den Wald, damit sie einen Ort hätten, an den sie sich zurückziehen konnten; und das Kürbisfeld, damit die Toten anständig begraben werden konnten. Gideon, eine selbstsüchtige Seele, wollte mit alldem nichts zu tun haben und tat alles in seiner Macht Stehende, um die Landschaft zu zerstören, bis mein Vater sich schließlich gezwungen sah, ihn in die Wüste zu schicken.

Die Anstrengung, das Haus zu vollenden, erschöpfte meinen Vater so sehr, daß er kaum noch Lust hatte, sich mit der Außenwelt abzugeben. Irgend jemand mußte aber den Körper steuern; und so ging mein Vater an dem Tag, als die letzte Schindel festgenagelt war, an den See hinunter und rief meinen Namen.

Was mich an anderen Menschen ebenfalls verwundert, ist die Tatsache, daß viele gar nicht wissen, was Sinn und Zweck ihres Lebens ist. Das macht ihnen in der Regel schon zu schaffen – jedenfalls mehr als ihre Unfähigkeit, sich an ihre Geburt zu erinnern –, aber ich kann es überhaupt nicht nachempfinden. Zu wissen, wer ich bin, ist gleichbedeutend damit, zu wissen, warum ich bin, und ich habe schon immer gewußt, wer ich bin, vom ersten Augenblick an.

Mein Name ist Andrew Gage. Als ich aus dem See stieg, war ich sechsundzwanzig Jahre alt. Ich wurde mit meines Vaters Kraft geboren, doch ohne seine Müdigkeit; mit seiner Beharrlichkeit, doch ohne seinen Schmerz. Ich wurde dazu aufgerufen, das Werk zu Ende zu führen, das mein Vater begonnen hatte: eine Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte, für die ich aber geschaffen worden war.

I  Gleichgewicht

 

 

Erstes Buch

 

Andrew

 

1

 

Penny Driver lernte ich zwei Monate nach meinem achtundzwanzigsten Geburtstag kennen – oder zwei Monate nach meinem zweiten, je nachdem, wie man rechnen will.

Jake war an dem Morgen, wie an fast jedem Morgen, als erster auf: Er stürmte bei Sonnenaufgang aus seinem Zimmer, polterte die Treppe hinunter ins Gemeinschaftszimmer, und der Lärm seiner Sprünge löste unter den übrigen Seelen des Hauses eine Aufwach-Kettenreaktion aus. Jake ist fünf Jahre alt, und zwar schon seit 1973, als er aus den Trümmern einer toten Seele namens Jacob hervorging; er ist ein erwachsener Fünfjähriger, aber im Grunde seines Herzens noch immer ein Kind, und Rücksichtnahme gehört nicht eben zu seinen Stärken.

Jakes Getrampel riß Tante Sam aus dem Schlaf, und sie fluchte sofort los; Tante Sams Fluchen weckte Adam im Zimmer direkt nebenan; und Adam, der zwar durchaus alt genug wäre, um auf anderer Leute Schlafbedürfnis Rücksicht zu nehmen, sich aber oft dagegen entscheidet, stieß mehrere Variationen von indianischem Kriegsgeheul aus, bis mein Vater gegen die Wand hämmerte und ihm befahl, die Klappe zu halten. Spätestens da waren alle wach.

Ich hätte versuchen können, das alles zu ignorieren. Im Gegensatz zu den anderen schlafe ich nicht im Haus, sondern im Körper, und wenn man im Körper ist, sind selbst die lautesten Hausgeräusche lediglich ferne Echos in Andy Gages Kopf, und sie lassen sich beliebig ausblenden – es sei denn, sie kommen von der Kanzel. Aber Adam weiß das natürlich, und jedesmal, wenn ich versuche, den Wecker zu überhören, ist er in Null Komma nix draußen auf der Kanzel und kräht wie ein Hahn, bis ich den zarten Wink verstanden habe. An manchen Tagen lasse ich ihn krähen, bis er heiser wird, nur damit er nicht vergißt, wer hier der Boß ist; aber an diesem bestimmten Morgen klappten meine Augen auf, sobald Jake den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte.

Das Zimmer, in dem ich schlief – in dem der Körper schlief –, befand sich in einem renovierten Haus aus der Jahrhundertwende in Autumn Creek, Washington, vierzig Kilometer östlich von Seattle. Das Haus gehörte Mrs. Alice Winslow, die meinen Vater schon 1992 als Pensionsgast aufgenommen hatte, als es mich noch gar nicht gab.

Wir hatten einen Teil des Erdgeschosses gemietet. Die Wohnung war groß, aber vollgerümpelt, was eine unvermeidliche Begleiterscheinung einer multiplen Persönlichkeit ist, selbst wenn man sich alle Mühe gibt, seine realen, materiellen Besitztümer nicht über ein notwendiges Minimum hinaus anwachsen zu lassen. Vom Bett aus sah ich, ohne auch nur den Kopf zu bewegen: Tante Sams Staffelei, Pinsel und Farben und zwei unbemalte Leinwände; Adams Skateboard; Jakes Plüschpanda; Seferis’ Kendoschwert; meine Bücher; meines Vaters Bücher; Jakes kleines Regal mit Büchern; Adams Playboy-Sammlung; Tante Sams Stapel von Reproduktionen; einen Farbfernseher mit Fernbedienung, der früher meinem Vater gehört hatte, aber mittlerweile in meinen Besitz übergegangen war; einen Videorecorder, der zu drei Fünfteln mir, drei Zehnteln Adam und einem Zehntel Jake gehörte (lange Geschichte); einen CD-Player, der zur Hälfte mir, zu einem Viertel meinem Vater, einem Achtel Tante Sam und je einem Sechzehntel Adam und Jake gehörte (noch längere Geschichte); ein Gestell mit CDs und Videokassetten unterschiedlicher Provenienz und Zugehörigkeit; und einen Rollkorb voll schmutziger Wäsche, auf die niemand Anspruch erheben wollte, die aber größtenteils meine war.

Das alles konnte ich sehen, ohne auch nur die Augen zu bewegen; und außer dem Schlafzimmer gab es noch ein Wohnzimmer, einen großen begehbaren Schrank, ein Bad, das durchaus die Bezeichnung »Vollbad« verdient hätte (wenn Sie den Kalauer verzeihen), und die Küche, die wir uns mit Mrs. Winslow teilten. Die Küche war allerdings nicht so vollgerümpelt; Mrs. Winslow kochte uns die meisten Mahlzeiten und achtete streng darauf, daß unsere persönlichen Lebensmittelvorräte nicht mehr Platz beanspruchten als ein Kühlschrankfach und zwei Regale in der Speisekammer.

Ich stand auf und verfügte uns ins Bad, damit das Morgenritual beginnen konnte. Als erstes kamen die Zähne dran. Aus unerfindlichen Gründen macht es Jake richtig Spaß, sie zu putzen, also laß ich ihn immer: Ich zog mich auf die Kanzel zurück und überließ ihm solange den Körper. Ich blieb allerdings wachsam. Wie schon gesagt, ist Jake ein Kind; Andrew Gages Körper aber ist erwachsen, eins siebzig groß, und er hängt auf Jakes Seele wie ein viel zu großer Anzug. Jake bewegt sich darin ziemlich unbeholfen und hat oft Schwierigkeiten, die Entfernung zwischen seinen Extremitäten und der Außenwelt richtig einzuschätzen; und da wir nun mal nur den einen Schädel haben, wäre es für uns alle tragisch, wenn er sich bücken müßte, um einen heruntergefallenen Zahnpastatubenverschluß aufzuheben, und sich dabei den Kopf am Waschbecken einschlüge. Also ließ ich ihn nicht aus den Augen.

An diesem Morgen lief die Sache ohne Unfälle ab. Er putzte uns die Zähne mit gewohnter Gründlichkeit: hin und her, rauf und runter, ohne einen einzigen Zahn auszulassen, nicht mal einen von den problematischen ganz hinten. Ich wünschte, er könnte die Prozedur mit der Zahnseide auch gleich übernehmen, aber das ist denn doch ein bißchen zu schwierig für ihn.

Ich nahm den Körper wieder an mich und absolvierte eine kurze Sitzung auf dem Klo. Das ist meistens meine Aufgabe, gelegentlich bittet mein Vater allerdings, sie übernehmen zu dürfen – sich genüßlich auszukacken, sagt er, gehört zu den wenigen Dingen von draußen, die er wirklich vermißt. Adam stellt sich manchmal ebenfalls zur Verfügung, gewöhnlich unmittelbar nachdem der neuste Playboy gekommen ist; aber alles in allem lasse ich ihn nicht häufiger als ein-, zweimal im Monat ran, weil die anderen sich aufregen könnten.

Nach dem Stuhlgang kam die Morgengymnastik. Ich legte mich auf die Badematte und übergab an Seferis, damit er sein Training absolvierte: zweihundert Sit-ups, gefolgt von zweihundert Liegestützen, davon die letzten hundert abwechselnd mit dem rechten und dem linken Arm. Als ich von der Kanzel zurückkehrte, empfingen mich schmerzende Muskeln und schweißnasse Haut, aber ich beklagte mich nicht. Der Körper hat einen richtigen Waschbrettbauch, und ich kann schwere Lasten heben.

Als nächstes ließ ich Tante Sam und Adam je zwei Minuten lang unter die Dusche. Früher hatten sie sich darin abgewechselt, wer zuerst durfte, aber Tante Sam mag das Wasser viel heißer als Adam, und Adam »vergaß« ständig, die Temperatur entsprechend zu regulieren, bevor er den Körper abgab, also heißt es jetzt jeden Morgen: erst Tante Sam, dann Adam, dann ich – und Adam weiß ganz genau: wenn er mir Eiswasser oder Seife in den Augen hinterläßt, kann er sich sein Duschprivileg für eine Woche abschminken.

Als ich an die Reihe kam, seifte ich mich rasch ein (die anderen geben sich eher selten mit richtigem Waschen ab), spülte und trocknete mich ab und ging dann ins Schlafzimmer zurück, um mich anzuziehen. Mein Vater kam auf die Kanzel heraus, um mir bei der Kleiderwahl zu helfen. Außerhalb der Wohnung ist der Körper ausschließlich mir unterstellt, also müßte es eigentlich in meiner alleinigen Verantwortung liegen, was tagsüber getragen wird, aber Tante Sam meint, ich hätte, was Kleidung anbelangt, nicht den geringsten Geschmack, und ich glaube, mein Vater hat deswegen irgendwie Schuldgefühle.

»Nicht das Hemd«, riet er, nachdem ich die Sachen aufs Bett gelegt hatte.

»Beißt es sich mit der Hose?« fragte ich und versuchte, mich an die Faustregel zu erinnern. »Ich dachte, Bluejeans passen zu allem.«

»Tun sie auch«, sagte mein Vater. »Aber manche Sachen beißen sich mit allem, sogar mit Bluejeans.«

»Du findest es häßlich?« Ich hob das Hemd hoch und sah es mir kritischer an. Schottenkaro: rot und grün auf knallgelbem Grund. Ich hatte es mir nebst ein paar anderen Schnäppchen im Winterschlußverkauf besorgt, und ich fand, daß es fröhlich aussah.

»Es ist häßlich«, sagte mein Vater. »Wenn es dir wirklich gefällt, kannst du es ja in der Wohnung tragen, aber ich würde dir nicht empfehlen, es der breiteren Öffentlichkeit zuzumuten.«

Ich war unschlüssig. Das Hemd gefiel mir tatsächlich, und ich kann es nicht ausstehen, auf etwas zu verzichten, bloß weil es einen schlechten Eindruck auf andere Leute machen könnte. Andererseits habe ich ein starkes Bedürfnis, einen guten Eindruck zu machen.

»Es ist deine Entscheidung«, sagte mein Vater geduldig.

»Na gut«, sagte ich, immer noch widerwillig. »Dann zieh ich eben was anderes an.«

Wir zogen uns fertig an. Schließlich band ich mir die Uhr um und verglich die Uhrzeit mit dem Wecker auf meinem Nachttisch. 7:07, sagte der Wecker, MON 21. APR. Was Wochentag und Datum betraf, war meine Uhr derselben Meinung, was die Uhrzeit anging, weniger.

»Zwei Minuten auseinander«, stellte mein Vater fest.

Ich zuckte die Achseln. »Die Armbanduhr geht nach«, erinnerte ich ihn.

»Dann solltest du sie reparieren lassen.«

»Ist nicht nötig. Sie ist gut so, wie sie ist.«

»Die Uhr vom Videorecorder solltest du auch in Ordnung bringen.«

Das war ein ewiger Zankapfel zwischen uns beiden. Mein Vater hatte früher Dutzende von Uhren gehabt, die verhindern sollten, daß er Zeit verpaßte; mir bereitete das allerdings weniger Kopfzerbrechen, da mir meines Wissens nie auch nur eine einzige Sekunde entgangen war, und deswegen hatte ich den Bestand auf eine Uhr pro Zimmer reduziert. Diese Entscheidung hatte Anlaß zu erheblichen Auseinandersetzungen gegeben – ebenso die Tatsache, daß es mir nicht gelang, die verbleibenden Uhren exakt aufeinander abzustimmen. Insbesondere meine unbekümmerte Einstellung zur Uhr des Videorecorders trieb meinen Vater zum Wahnsinn: Wenn mal der Strom ausgefallen war oder jemand das Gerät vom Netz getrennt hatte, konnte sie tagelang »12:00:00« blinken, ehe ich mich dazu aufraffte, sie wieder einzustellen.

»So wichtig ist das nun wirklich nicht«, sagte ich, barscher als eigentlich beabsichtigt. Die Sache mit dem Hemd hatte ich noch immer nicht geschluckt. »Ich mach’s schon noch.«

Mein Vater antwortete nicht, aber ich spürte, daß er sich ärgerte: Als ich mich weigerte, das Videogerät direkt anzusehen, merkte ich, daß er es aus dem Augenwinkel zu fixieren versuchte.

»Ich mach es schon noch«, wiederholte ich und verließ das Schlafzimmer. Ich ging durch das Wohnzimmer – dessen Uhr im Vergleich zum Wecker um sage und schreibe eine Minute vorging – und dann den Flur entlang in die Küche, wo Mrs. Winslow uns schon mit dem Frühstück erwartete.

»Guten Morgen, Andrew«, sagte Mrs. Winslow, noch ehe ich auch nur den Mund aufgemacht hatte. Sie wußte immer sofort Bescheid. Meistens kam ich als erster, aber selbst wenn ich den Körper heute jemand anderem überlassen hätte, wäre es Mrs. Winslow nicht entgangen. In der Hinsicht war sie wie Adam: eine fast übersinnlich begabte Menschenkennerin. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Ja, danke.« Normalerweise ist es ein Gebot der Höflichkeit, die Gegenfrage zu stellen, aber Mrs. Winslow litt unter chronischer Schlaflosigkeit. Sie schlief schlechter als alle, die ich kannte – ausgenommen Seferis, der überhaupt nicht schläft.

Sie war bestimmt schon seit fünf Uhr auf und hatte sich an den Herd gestellt, sobald sie die Dusche gehört hatte. Es war zugleich ein Beweis ihrer Gutherzigkeit und ihrer Zuneigung zu uns, daß sie das so bereitwillig auf sich nahm; wie alles andere auch, was am Morgen geschah, war das Frühstück eine Gemeinschaftsaktion, und die Vorbereitung erforderte nicht wenig Arbeit. Ich setzte mich nicht zu einer Mahlzeit an den Tisch, sondern zu einer Folge von mehreren, jeweils sorgfältig portionierten Imbissen, beginnend mit einem halben Teller Rührei und einem Becher Kaffee für mich. Ich aß mich satt und räumte dann den Körper für die übrigen Seelen, die ihrerseits nacheinander Mrs. Winslow begrüßten.

»Guten Morgen, meine Liebe«, sagte Tante Sam hoheitsvoll. Tante Sams Frühstücksanteil bestand aus einer Tasse Kräutertee und einer Scheibe Weizentoast mit Pfefferminzgelee; früher hatte sie dazu eine halbe Zigarette geraucht, aber mein Vater überredete sie, im Austausch gegen ein bißchen zusätzliche Zeit draußen darauf zu verzichten. Sie nippte an ihrem Tee und knabberte zierlich an ihrem Toast, bis Adam ungeduldig wurde und sich auf der Kanzel laut räusperte.

»Guten Morgen, schöne Frau«, sagte Adam in gespielt schäkerndem Ton. Adam gibt gern vor, ein großer Frauenheld zu sein. Tatsächlich machen ihn Frauen im Alter zwischen Zwölf und Sechzig nervös, und wäre Mrs. Winslows Haar nicht grau gewesen, hätte er wohl kaum den Mut gehabt, ihr gegenüber so forsch aufzutreten. Während er sein Frühstück verschlang – ein halbes frisch gebackenes Toastbrötchen und eine Scheibe Bacon –, bedachte er sie mit seiner Vorstellung eines verführerischen Zwinkerns; aber als Mrs. Winslow zurückzwinkerte, bekam Adam einen Schreck, Bacon in die falsche Röhre und einen ausgewachsenen Hustenanfall.

»Guten Morgen, Mrs. Winslow«, sagte Jake, seine kindlich hohe Stimme noch heiser von Adams Gewürge. Er machte sich unbeholfen über das Schälchen Cheerios her, das für ihn bereitstand. Sie goß ihm außerdem ein Gläschen Orangensaft ein, und er streckte die Hand zu schnell danach aus. Das Glas (eigentlich ein Plastikbecherchen; das war schon häufiger passiert) flog auf den Boden.

Jake erstarrte. Bei jedem anderen hätte er augenblicks den Körper geräumt. So aber krümmte er die Schultern, ballte die Fäuste, spannte alle Muskeln an und machte sich auf einen Schlag auf die Knöchel oder eine schallende Ohrfeige gefaßt. Mrs. Winslow achtete darauf, nicht zu schnell zu reagieren; anfangs tat sie sogar so, als habe sie gar nichts bemerkt, um dann, ganz beiläufig, zu sagen: »Ojemine, ich muß das Glas zu nah an den Tischrand gestellt haben.« Dann stand sie langsam auf, ging an die Spüle und feuchtete einen Lappen an, um die Pfütze aufzuwischen.

»Tut mir leid, Mrs. Winslow«, stammelte Jake. »Ich –«

»Jake, Liebes«, sagte Mrs. Winslow, während sie den Tisch abwischte, »du weißt doch, daß Florida ein riesiger Staat ist, nicht? Die haben dort Unmengen von Orangensaft; da gibt’s noch mehr als genug.« Sie füllte seinen Becher auf und hielt es ihm diesmal direkt hin; er umklammerte es mit beiden Händen. »So«, sagte Mrs. Winslow. »Nichts passiert. Es sieht nur aus wie Gold.« Jake kicherte, aber richtig entspannte er sich erst, als er wieder im Haus war.

Seferis grüßte lediglich mit einem Kopfnicken. Sein Frühstück war das einfachste: ein kleiner Teller gesalzene Radieschen, die er sich einzeln in den Mund steckte und wie Bonbons zerknabberte. Mittlerweile hatte sich auch Mrs. Winslow an ihr Frühstück gesetzt: aufgebackene kleine Brötchen mit Marmelade. Als sie das Marmeladenglas nicht aufbekam, reichte sie es Seferis.

Seferis’ Größenverhältnis zum Körper ist das genaue Gegenteil von Jakes: Seine Seele ist zwei Meter siebzig groß, und in Andy Gages unscheinbarer Gestalt eingezwängt, strahlt er eine unbändige Kraft und Energie aus. Er bekam den Deckel mit einer schlichten Drehung von Daumen und Zeigefinger auf – ein Kunststück, das ich, obwohl ich dieselben Muskeln benutze, niemals zustande gebracht hätte.

»Efcharistó«, sagte Mrs. Winslow, als Seferis ihr das Glas mit einer schwungvollen Bewegung zurückgab.

»Parakaló«, erwiderte Seferis und steckte sich ein weiteres Radieschen in den Mund. Als alles aufgegessen war, schaltete Mrs. Winslow den kleinen Schwarzweißfernseher auf der Anrichte an und goß meinem Vater, der jetzt noch ein Weilchen bei ihr sitzen würde, einen frischen Kaffee ein. Sie sahen sich gern zusammen die Nachrichten an. Mrs. Winslow hatte das früher mit ihrem Mann getan, und ich könnte mir denken, daß die Gesellschaft meines Vaters sie irgendwie daran erinnerte; umgekehrt verschaffte dieses zwanglose Beisammensein mit Mrs. Winslow meinem Vater eine Ahnung von dem normalen Familienleben, das er sich immer gewünscht hatte. Dieser Morgen verlief allerdings weniger erfreulich als sonst. Die wichtigste Nachricht der Halb-acht-Sendung war das Neuste über die Lodge-Tragödie; der Bericht nahm meinen Vater sogar noch mehr mit als die falsch gehende Uhr des Videorecorders, und sie drückte auch beträchtlich auf Mrs. Winslows Stimmung.

Vielleicht erinnern Sie sich ja an die Lodge-Story; da zur gleichen Zeit auch ein ähnlicher Fall die Medien beschäftigte, fand sie landesweit nicht soviel Beachtung, wie man unter anderen Umständen hätte erwarten können, aber sie machte durchaus Schlagzeilen. Warren Lodge war ein Platzwart aus Tacoma, der mit seinen beiden Töchtern im Olympic National Park zelten gefahren war. Zwei Tage nach Beginn des Campingurlaubs sah die Staatspolizei Mr. Lodges Jeep auf der Route 101 Schlangenlinien fahren und hielt ihn an. Mr. Lodge – er schien völlig außer sich zu sein und hatte eine tiefe Kratzwunde am Kopf – behauptete, ein Puma sei in ihr Lager eingedrungen und habe ihn angegriffen, worauf er das Bewußtsein verloren habe. Als er wieder zu sich gekommen sei, habe er das Zelt seiner Töchter völlig zerfetzt vorgefunden, ihre Schlafsäcke seien zerrissen und blutbeschmiert gewesen, und die Mädchen selbst – Amy, zwölf, und Elizabeth, zehn – verschwunden und trotz mehrstündiger Suche unauffindbar.

Es konnte die Wahrheit sein. Angriffe von Pumas sind im Nordwesten der Staaten keine Seltenheit, und Mr. Lodge sah stark genug aus, um mit etwas Glück einen Ringkampf mit einer Raubkatze überlebt zu haben. Aber als ich ihn im Fernsehen sah – am Tag nachdem die Polizei ihn angehalten hatte, hielt er eine Pressekonferenz ab, in der er um freiwillige Helfer für die Suche nach seinen Mädchen bat –, verspürte ich ein zunehmend unbehagliches Gefühl. Mr. Lodges Geschichte konnte stimmen, aber irgend etwas an der Art, wie er sie erzählte, stimmte nicht. Erst Adam, der von der Kanzel aus in Mr. Lodges tränenüberströmtes Gesicht blickte, faßte meine dumpfe Ahnung in Worte: »Er ist der Puma.«

Seit diesem Augenblick – also seit mittlerweile fast einer Woche – warteten wir darauf, daß die Polizei zu demselben Schluß kommen würde. Bislang war in der Öffentlichkeit zwar nicht die leiseste Andeutung eines Verdachts ausgesprochen worden, aber Adam meinte, wenn die Bullen nicht völlig inkompetent waren, mußten sie sich ihren Teil denken. Mein Vater seinerseits hatte gelobt, er würde, sollte Mr. Lodge nicht bald festgenommen werden, selbst bei der Staatsanwaltschaft von Mason County anrufen – oder mich das machen lassen.

»Glauben Sie wirklich, daß er sie getötet hat?« fragte Mrs. Winslow jetzt, als Mr. Lodges Bitte um freiwillige Helfer noch einmal übertragen wurde; der Bericht war ein bloßer Zusammenschnitt früherer Sendungen, dem lediglich die Meldung folgte, die Suchtrupps hätten praktisch jede Hoffnung aufgegeben, die Mädchen noch lebend zu finden.

Mein Vater nickte. »Und ob er sie getötet hat. Und das ist noch nicht alles, was er ihnen angetan hat.«

Mrs. Winslow schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte sie: »Glauben Sie, daß er wahnsinnig ist? Seine eigenen Kinder umzubringen?«

»Geisteskranke versuchen nicht, ihre Verbrechen zu vertuschen«, sagte mein Vater. »Er weiß, daß das, was er getan hat, falsch war, aber er will sich nicht den Konsequenzen stellen. Das ist nicht wahnsinnig. Das ist selbstsüchtig.«

Selbstsüchtig: das schlimmste Attribut, das mein Vater zu vergeben hatte. Die naheliegende nächste Frage stellte Mrs. Winslow nicht – die Frage, die mich von jeher beschäftigt hat, nämlich: Warum? Selbst wenn man vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohl anderer voraussetzte – was brachte jemanden dazu, das, was Mr. Lodge seinen eigenen Töchtern angetan hatte, einem anderen Menschen antun zu wollen? Mrs. Winslow stellte diese Frage nicht, weil sie wußte, daß mein Vater darauf keine Antwort hatte – obwohl er den größten Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, danach zu suchen. Sie stellte auch sonst keine Fragen, sondern saß nur zornig schweigend da, während mein Vater seinen Kaffee austrank und der Nachrichtensprecher sich anderen Themen zuwandte. Bald darauf wurde es für uns Zeit, zur Arbeit zu gehen; mein Vater küßte Mrs. Winslow auf die Wange und übergab mir wieder den Körper.

In der Eingangshalle hing ein Familienfoto: eine jüngere, noch dunkelhaarige Mrs. Winslow mit ihrem verstorbenen Mann und ihren zwei Söhnen, alle nebeneinander auf dem Rasen vor dem – damals noch nicht renovierten – Haus. Seit mein Vater mir erzählt hatte, was geschehen war, verlangsamte ich immer den Schritt, wenn ich an diesem Bild vorbeikam; heute blieb ich sogar stehen, bis Mrs. Winslow von hinten herankam und mich vorwärts stupste und durch die Haustür hinausbugsierte.

Draußen war der Himmel für die Jahreszeit ungewöhnlich heiter; nur um den Mount Winter, drüben im Osten, drängten sich ein paar Wolken. Mrs. Winslow händigte mir ein Lunchpaket aus (diesmal eine vollständige Mahlzeit; das Mittagessen wird nicht gemeinsam eingenommen). Sie wünschte mir einen schönen Tag und setzte sich dann auf die Schaukelbank auf der Veranda, um auf die Morgenpost zu warten. Der Briefträger kam zwar erst in ein paar Stunden, aber sie würde trotzdem warten, so wie sie es immer tat, und wenn es zu kalt werden sollte, würde sie sich in einen alten Quilt wickeln.

»Kann ich Sie allein lassen, Mrs. Winslow?« fragte ich, bevor ich ging. »Brauchen Sie noch irgend etwas?«

»Es ist gut, Andrew. Kommen Sie nur gesund wieder, das ist alles, was ich brauche.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich. »Wenn mir jemand blöd kommt, bin ich ja in der Überzahl.« Das ist ein uralter Witz unter Multiplen und bringt einem in der Regel wenigstens ein höfliches Lächeln ein, aber heute klopfte mir Mrs. Winslow lediglich auf den Arm und sagte: »Na, dann geht mal. Sonst verspätet ihr euch noch.«

Ich ging los. Auf dem Bürgersteig sah ich mich noch einmal um; Mrs. Winslow hatte eine Illustrierte aufgeschlagen und las – oder tat so, als ob. Sie sah vor der Front des viktorianischen Hauses sehr klein aus, sehr klein und sehr allein – wirklich allein, auf eine Weise, die ich mir eigentlich nicht vorstellen konnte. Ich fragte mich, wie es wohl sein mochte und ob es leichter oder schwerer war, als ständig von anderen Seelen umgeben zu sein.

»Mach dir ihretwegen keine Sorgen«, sagte Adam von der Kanzel aus. »Sie kommt schon klar.«

»Ich glaube, diese Nachricht hat ihr wirklich zu schaffen gemacht.«

»Sie hat ihr nicht zu schaffen gemacht«, sagte Adam spöttisch. »Stinkwütend hat sie sie gemacht. Und das ist auch richtig so. Wenn du dir schon Sorgen machen willst, dann mach sie dir über Leute, die nicht wütend werden, wenn sie so etwas erfahren.«

Ich winkte Mrs. Winslow noch ein letztes Mal zu und zwang mich dann loszugehen. Als wir die nächste Querstraße erreichten und das Haus weit genug hinter uns lag, fragte ich: »Glaubst du, daß sie ihn erwischen? Warren Lodge, meine ich.«

»Das hoffe ich«, sagte Adam. »Ich hoffe, daß er seine Strafe bekommt – ob sie ihn nun schnappen oder nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Das passiert einfach manchmal. Manchmal glaubt jemand, er sei ungeschoren davongekommen, er habe alle erfolgreich für blöd verkauft, und dann stellt sich irgendwann raus, daß er sich getäuscht hat. Er bekommt zu guter Letzt doch seine Strafe.«

»Wie?« fragte ich. »Durch wen?«

Aber Adam hatte keine Lust mehr, sich über das Thema auszulassen. »Wir wollen einfach hoffen, daß ihn ein Polizist erwischt«, sagte er. Dann kehrte er ins Haus zurück und kam erst wieder heraus, als wir schon fast an der Fabrik angelangt waren.