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ISBN 978-3-7065-5888-4

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Satz: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlagabbildung: Bwag [Public domain], via Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative- Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0, URL: https://creativecommons. org/licenses/by-sa/4.0/

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Ludwig Adamovich/Franz Cede/ Christian Prosl (Hrsg.)

Der österreichische Bundespräsident

Das unterschätzte Amt

Vorwort

Selten zuvor ist das Amt des österreichischen Staatsoberhauptes in der Zweiten Republik so sehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wie im ereignisreichen Jahr 2016, als auf Grund der auslaufenden Amtszeit von Bundespräsident Heinz Fischer die Wahl eines neuen Bundespräsidenten anstand. Die Vorgänge rund um die Wahl (erster Wahlgang, Stichwahl, Aufhebung derselben durch den Verfassungsgerichtshof, Anordnung einer zweiten Stichwahl und deren Verschiebung auf den 4. Dezember) haben die Aufmerksamkeit aller Wahlberechtigten monatelang in ihren Bann gezogen. In politischer Hinsicht hat kaum eine Wahl des Bundespräsidenten die interessierte Öffentlichkeit so sehr gespalten wie die jüngste.

Vor diesem Hintergrund lag es nahe, einen präzisen Überblick über das Amt des Bundespräsidenten im Spannungsfeld von Recht und Politik anzubieten. Die Herausgeber wurden in ihrem Entschluss, die vorliegende Publikation vorzubereiten, nicht zuletzt durch die Feststellung bestärkt, dass gegenwärtig in der politischen Literatur kein vergleichbares Werk existiert. Dieses Buch ist bewusst nicht als wissenschaftliches Werk angelegt, sondern möchte alle politisch interessierten Leserinnen und Leser ansprechen. Diesem Anliegen entspricht auch das Bestreben, die verfassungsrechtlichen Aspekte des Amtes in einer allgemein verständlichen Sprache kurz und bündig darzustellen und dabei vor allem die Ausübung des Amtes in der Staatspraxis zu beleuchten.

Wir freuen uns, dass es gelungen ist, für die wichtigsten Themenbereiche als Autoren hervorragende Persönlichkeiten und Experten zu gewinnen, die mit ihrer beruflichen Erfahrung und ihrem Wissen die Funktion des Bundespräsidenten „von innen“ kennen. Wir beglückwünschen uns, dass Herr Bundespräsident a. D. Dr. Heinz Fischer selbst einen profunden Beitrag für unser Buch verfasst hat. Einige Kapitel des Buches wurden von den Herausgebern selbst verfasst.

Die Herausgeber legen Wert auf die Feststellung, dass sie in die persönlichen – auch kritischen – Wertungen der einzelnen Autoren, die zur Publikation beigetragen haben, nicht eingegriffen haben. Auf diese Weise reflektiert der vorliegende Sammelband ein breites Spektrum an Meinungen. Die Diversität der Präsentationen entspricht der unterschiedlichen beruflichen Herkunft der einzelnen Autoren. Ihre Beiträge gewinnen dadurch an Authentizität.

Soweit über Usancen im Bereich der Präsidentschaftskanzlei berichtet wird, ist damit die Praxis gemeint, die von den Autoren noch vor dem Amtsantritt von Dr. Alexander Van der Bellen vorgefunden wurde.

Wir danken allen Autoren für ihre Mitwirkung und möchten zusätzlich allen jenen unseren Dank aussprechen, die uns durch ihr Wissen und ihre Ratschläge unterstützt haben, vor allem den vielen gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitern der Präsidentschaftskanzlei, namentlich Dr. Helmut Freudenschuss, Mag. Susanne Gaugl, Dr. Alexander Grubmayr, Dr. Heinz Hafner, Dr. Georg Hennig, Mag. Gregor Keller, Dr. Markus Langer, Dr. Markus Lutterotti, Mag. Meinhard Rauchensteiner, Mag. Barbara Reininger und Frau Astrid Salmhofer. Als Volontär hat uns Tobias Salfellner wertvolle Hilfe geleistet.

Wir widmen dieses Buch dem amtierenden Bundespräsidenten Univ. Prof. Dr. Aleaxander van der Bellen mit den besten Wünschen für ein erfolgreiches Gelingen.

Ludwig Adamovich, Franz Cede, Christian Prosl

Ludwig Adamovich, Franz Cede, Christian Prosl

Einleitung

Die Vorgänge rund um die jüngste Wahl des Bundespräsidenten und die zum Teil hitzig geführten Debatten während des Wahlkampfes haben eines gezeigt: In der breiten Öffentlichkeit herrschen sehr unterschiedliche und zum Teil irrige Auffassungen über die rechtlichen Befugnisse und tatsächlichen Handlungsspielräume des österreichischen Staatsoberhauptes vor. Diese Meinungsvielfalt spiegelte sich ebenfalls in den Analysen der Medien wider, die dem Amt des Bundespräsidenten im vergangenen Jahr besondere Aufmerksamkeit widmeten. Die Diskussionen zu den Ereignissen des letzten Jahres haben nicht nur sehr gegensätzliche Auffassungen zu Tage befördert, sondern auch deutlich gemacht, dass über dieses Amt oft keine präzisen Vorstellungen bestehen. Daraus ergibt sich ein überaus diffuses Bild über das höchste Amt im Staate. Am häufigsten begegnet man folgenden Argumenten:

Der Bundespräsident hat im Wesentlichen repräsentative Aufgaben

Diese Meinung begreift das Amt des Bundespräsidenten in völliger Verkennung seiner wichtigen politischen Kompetenzen in erster Linie als Dekorum. Überspitzt formuliert reduziert diese Vorstellung den Bundespräsidenten auf die Rolle des höchsten Staatsrepräsentanten. Illustriert wird die irrige und verkürzte Sicht beispielsweise mit dem alleinigen Hinweis auf das Auftreten des Bundespräsidenten in der Öffentlichkeit, wie bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele oder anderen Anlässen, bei denen der Bundespräsident als höchster offizieller Vertreter des Staates zugegen ist.

Der Bundespräsident steht über der Bundesregierung und kann ihr anschaffen

Die Meinung, welche die Rolle des Bundespräsidenten unterschätzt, steht diametral im Gegensatz zur Auffassung, die das Amt des Bundespräsidenten überschätzt und in ihm eine für alles zuständige Höchstinstanz sieht, die der Regierung übergeordnet ist und ihr Weisungen erteilen kann. Dem Missverständnis begegnet man am häufigsten bei Nichtjuristen, die keine Kenntnisse auf dem Gebiet des österreichischen Verfassungsrechts besitzen. Dass der Bundespräsident gemäß Verfassung die meisten seiner Befugnisse nur auf Vorschlag der Bundesregierung ausüben kann, er sich in deren laufende Geschäfte nicht einmischten und ihr auch keine Weisungen erteilen kann, wird dabei übersehen oder einfach nicht gewusst.

Der Bundespräsident als Ersatzkaiser

Eng verwandt mit der Meinung, dass der österreichische Bundespräsident über der Regierung steht, ist die Ansicht, der Bundespräsident sei quasi ein gewählter Monarch. Das Bild vom Bundespräsidenten als republikanischer Ersatzkaiser hat für manche einen gewissen Charme und entbehrt in der Tat nicht einiger Anknüpfungspunkte. So erinnern tatsächlich einige Kompetenzen des Bundespräsidenten an die souveränen Befugnisse des Kaisers. Unterstrichen wird der Vergleich des Bundespräsidenten mit einem Monarchen durch Symbole, die in Österreich eng mit dem ehemaligen Kaiserhaus verbunden sind. So amtiert der Bundespräsident in den imperialen Räumen der Wiener Hofburg und benützt das ehemalige kaiserliche Jagdschloss in Mürzsteg.

Der Bundespräsident als oberster Ombudsmann der Republik

Die Auffassung, dass der Bundespräsident oberste Beschwerdeinstanz des Landes ist, der auf Grund seiner Kompetenzen und seiner Einflussmöglichkeiten alles „richten kann“, führt dazu, dass die Präsidentschaftskanzlei mit Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern überschwemmt wird, die sich mit persönlichen Anliegen oder Beschwerden jeder Art an das Staatsoberhaupt wenden. Viele sehen im Bundespräsidenten, der seine Autorität aus der direkten Volkswahl ableiten kann, die einzige oder letzte politische Instanz, der sie zutrauen, ihnen bei der Lösung ihres persönlichen Problems helfen zu können. Der Bundespräsident als „Freund und Helfer“ aller Bürgerinnen und Bürger ist gewiss ein schönes Bild von der Funktion des Staatsoberhauptes, wäre da nicht die verfassungsmäßige Begrenzung seiner Befugnisse, die es ihm in vielen Fällen, die an ihn herangetragen werden, nicht erlaubt, den Gang der Dinge entscheidend zu beeinflussen. Wenn auch alle Bundespräsidenten der Zweiten Republik gerade in sozialer Hinsicht großes Engagement gezeigt und ihren Einfluss im Rahmen der Möglichkeiten geltend gemacht haben, besitzt der Bundespräsident keinen Zauberstab, mit dem er jedes Anliegen der Österreicher erfüllen oder jeden Beschwerdeführer befriedigen könnte.

Der Bundespräsident als höchste moralische Instanz des Landes

Vielfach wird gesagt, dass sich die Autorität des Bundespräsidenten nicht so sehr aus seinen verfassungsmäßigen Befugnissen ableitet, sondern vielmehr dem Umstand geschuldet sei, dass er der einzige politische Funktionär auf Bundesebene ist, der vom Volk direkt gewählt wird. Dank dieser direktdemokratischen Legitimation und der Erwartung, dass er sein Amt unparteiisch im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger ausüben werde, genießt der Bundespräsident großen Respekt. Darauf gründet auch die moralische Autorität des Bundespräsidenten, dessen Wort Gewicht hat. In diesem Zusammenhang wird von der „Macht des Wortes“ gesprochen. Wer erinnert sich hier nicht an die Rede von Bundespräsident Kirchschläger, als er von den sauren Wiesen sprach, die es auszutrocknen gilt. Freilich sollte man es mit der Rolle des Bundespräsidenten als moralische Instanz nicht übertreiben. Der Bundespräsident ist zuallererst ein politischer Funktionär.

Die Liste der Missverständnisse und der Irrtümer über die Stellung des Bundespräsidenten im politischen System Österreichs ließe sich beliebig fortsetzen. Mögen die hier angeführten Beispiele ausreichen, um die Nützlichkeit des vorliegenden Buches zu unterstreichen, das den LeserInnen Informationen aus erster Hand über die wichtigsten Aspekte dieses unterschätzten Amtes bieten möchte.

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass selbst unter den führenden Verfassungsjuristen des Landes manche Kompetenzen des Bundespräsidenten unterschiedlich interpretiert werden. Dies hat damit zu tun, dass die Balance der Zuständigkeiten im Dreieck der Staatsorgane Bundespräsident, Regierung und Parlament nicht einheitlich gesehen und bewertet wird. So wird beispielsweise die Ansicht vertreten, dass die direkte Legitimation des Bundespräsidenten durch die Volkswahl geringeres Gewicht habe als die Wahl des Nationalrates oder eines anderen Vertretungskörpers.

Die jüngsten Debatten über die Kompetenzen des Bundespräsidenten haben dazu geführt, dass die Koalitionsparteien SPÖ und ÖVP auf parlamentarischer Ebene beschlossen, Vorschläge über eine Änderung oder Streichung einer Reihe der gegenwärtigen Zuständigkeiten des Bundespräsidenten in einem eigenen Unterausschuss des Verfassungsausschusses des Nationalrates zu behandeln. Es ist heute freilich verfrüht, Spekulationen über den möglichen Ausgang der einschlägigen Beratungen und Beschlüsse anzustellen.

Ludwig Adamovich

Wahl des Bundespräsidenten

Verfassungsrechtliche Grundsätze

Die Bundesverfassung (B-VG) legt die Grundsätze für die Wahl des Bundespräsidenten fest. Gemäß Art. 60 B-VG wird der Bundespräsident vom Bundesvolk aufgrund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der zum Nationalrat wahlberechtigten Männer und Frauen gewählt; stellt sich nur ein Wahlwerber der Wahl, so ist die Wahl in Form einer Abstimmung durchzuführen.

Gewählt ist, wer mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen für sich hat. Ergibt sich keine solche Mehrheit, so findet ein zweiter Wahlgang statt. Bei diesem können gültigerweise nur für einen der beiden Wahlwerber, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben, Stimmen abgegeben werden.

Zum Bundespräsidenten kann nur gewählt werden, wer zum Nationalrat wählbar ist und am Wahltag das 35. Lebensjahr vollendet hat. Das Ergebnis der Wahl des Bundespräsidenten ist vom Bundeskanzler amtlich kundzumachen.

Das Amt des Bundespräsidenten dauert sechs Jahre. Eine Wiederwahl für die unmittelbar folgende Funktionsperiode ist nur einmal zulässig (daraus ergibt sich, dass eine weitere Wiederwahl zulässig wäre, wenn es sich um eine spätere Funktionsperiode handelt).

Das Bundespräsidentenwahlgesetz

Ausführungsbestimmungen enthält das Bundespräsidentenwahlgesetz. Danach ist die Wahl des Bundespräsidenten von der Bundesregierung durch Verordnung im Bundesgesetzblatt auszuschreiben; der Wahltag ist im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates auf einen Sonntag oder gesetzlichen Feiertag festzulegen. Zur Leitung und Durchführung der Wahl sind die Wahlbehörden berufen, die nach der Nationalrats-Wahlordnung jeweils im Amt sind. Zum Unterschied von der Nationalratswahl gibt es keine Regionalwahlkreise. Vielmehr ist das Bundesgebiet in neun Landeswahlkreise eingeteilt; jedes Bundesland bildet einen solchen. Jeder politische Bezirk, in den Bundesländern Niederösterreich und Vorarlberg jeder Verwaltungsbezirk und jede Stadt mit eigenem Statut bildet einen Stimmbezirk. In der Stadt Wien ist jeder Gemeindebezirk ein Stimmbezirk.

Wahlberechtigt sind alle Männer und Frauen, die am Tag der Wahl das Wahlrecht zum Nationalrat besitzen. Wählerverzeichnisse sind vor jeder Wahl des Bundespräsidenten neu anzulegen.

Wahlberechtigte, die voraussichtlich am Wahltag verhindert sein werden, ihre Stimme vor der zuständigen Wahlbehörde abzugeben, etwa wegen Ortsabwesenheit, aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Aufenthalts im Ausland, haben Anspruch auf Ausstellung einer Wahlkarte. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Regelungen sind nicht frei von einer gewissen Kompliziertheit. Fehler, die dabei begangen werden, können – wie sich gezeigt hat – einen Grund für die Aufhebung der Wahl durch den Verfassungsgerichtshof bilden (siehe darüber unten).

Wahlvorschlägen sind insgesamt 6.000 Unterstützungserklärungen und Auslands-Unterstützungserklärungen anzuschließen. Die Unterstützungserklärung bedarf der Bestätigung der Gemeinde über die Eintragung in der Wählerevidenz und die Wahlberechtigung am Stichtag; dazu ist persönliches Erscheinen vor der zuständigen Gemeindebehörde notwendig. Gleiches gilt für die Auslands-Unterstützungserklärung mit dem Unterschied, dass an die Stelle der Gemeindebehörde die österreichische Vertretungsbehörde tritt. Der Wahlvorschlag muss u. a. die Bezeichnung eines zustellungsbevollmächtigten Vertreters und zumindest zweier Stellvertreter enthalten.

Für das Abstimmungsverfahren gelten einige Bestimmungen der Nationalratswahlordnung und zusätzliche Regelungen. Die Bundeswahlbehörde hat jenen Wahlwerber als gewählt zu erklären, der mehr als die Hälfte aller gültigen Stimmen auf sich vereinigt hat. Bei Verwendung von Stimmzetteln für „Ja“ und „Nein“ im Fall eines einzigen Kandidaten ist der Wahlwerber als gewählt zu erklären, wenn die Summe der abgegebenen gültigen auf „Ja“ lautenden Stimmen die Stimme der abgegebenen gültigen auf „Nein“ lautenden Stimmen übersteigt.

Hat kein Wahlwerber die Mehrheit für sich, so findet am vierten Sonntag nach dem ersten Wahlgang, für den Fall, dass der Wahlgang nicht an einem Sonntag durchgeführt wurde, am fünften Sonntag nach dem ersten Wahlgang, ein zweiter Wahlgang zwischen jenen beiden Wahlwerbern statt, die im ersten Wahlgang die meisten gültigen Stimmen erhalten haben (engere Wahl, Stichwahl). Bei gleicher Stimmenanzahl entscheidet das vom Bundeswahlleiter (dem Bundesminister für Inneres) zu ziehende Los, wer in die engere Wahl einzubeziehen ist.

Die dem ersten Wahlgang zugrunde gelegten Wählerverzeichnisse sind unverändert auch beim zweiten Wahlgang zugrunde zu legen; für die vom Verfassungsgerichtshof angeordnete Wiederholung des zweiten Wahlganges für die Bundespräsidentenwahl 2016 wurde im Verfassungsrang eine besondere Regelung getroffen (siehe dazu unten).

In allen Fällen hat die Bundeswahlbehörde das Ergebnis der Wahl auf der Amtstafel des Bundesministeriums für Inneres sowie im Internet unverzüglich zu verlautbaren. Innerhalb einer Woche vom Tag der Verlautbarung kann die Wahlentscheidung beim Verfassungsgerichtshof wegen jeder behaupteten Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens vom zustellungsbevollmächtigten Vertreter eines dem Gesetz entsprechenden Wahlvorschlages angefochten werden. Die Anfechtung hat den begründeten Antrag auf Nichtigerklärung des Wahlverfahrens oder eines bestimmten Teiles desselben zu enthalten. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Anfechtung längstens innerhalb von vier Wochen nach ihrer Einbringung zu entscheiden.

Wurde eine Wahlanfechtung nicht eingebracht oder ihr vom Verfassungsgerichtshof nicht stattgegeben, so hat der Bundeskanzler das Ergebnis der Wahl unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen. Es ist sodann die Bundesversammlung zur Angelobung des Bundespräsidenten vom noch im Amt befindlichen bisherigen Bundespräsidenten einzuberufen. Falls die Funktionsperioden nicht lückenlos aneinanderschließen, wie dies 2016 in Folge der Aufhebung der Wahl durch den Verfassungsgerichtshof geschehen ist, obliegt die Einberufung der Bundesversammlung dem Kollegium der drei Präsidenten des Nationalrates.

Offene Fragen

Wie gerade die öffentliche Diskussion im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl 2016 gezeigt hat, lässt das Bundespräsidentenwahlgesetz einige nicht unwichtige Fragen offen:

1. § 8 Abs. 4 und § 8 Abs. 5 enthalten Bestimmungen für den Fall, dass ein Wahlwerber stirbt, verzichtet oder die Wählbarkeit verliert. Wenn ein Wahlwerber nach dem 37. Tag (17.00 Uhr) vor dem Wahltag verstirbt, ist die Wahl zu verschieben. Verzichtet der Wahlwerber oder verliert er die Wählbarkeit, so kann der zustellungsbevollmächtigte Vertreter den Wahlvorschlag spätestens am 34. Tag vor dem Wahltag durch Nennung eines anderen Wahlwerbers ergänzen. In beiden Fällen ist also die Bindung an eine Frist vorgesehen. Was zu geschehen hat, wenn die genannten Ereignisse später eintreten, erfährt man nicht. Dies ist dann kein dramatisches Problem, wenn wenigstens zwei Wahlwerber übriggeblieben sind. Ist aber nur ein Wahlwerber übriggeblieben, muss nach einer Lösung gesucht werden. Die Bestimmung des Art. 60 Abs. 1 B-VG über die Durchführung der Wahl in Form einer Abstimmung ist diesfalls nicht anzuwenden, weil sich ja mehrere Wahlwerber der Wahl gestellt haben. Es bleibt somit die folgende Alternative: Entweder werden die Stimmen für den ausgeschiedenen Kandidaten als ungültig gewertet (damit wäre der verbliebene Kandidat mit nur einer Stimme gewählt) oder es muss die Wahl neu ausgeschrieben werden. Hier liegt eine nicht zu unterschätzende Lücke vor, die nur durch eine Verfassungsbestimmung in überzeugender Weise geschlossen werden könnte.

Die dargestellte Problematik stellt sich verschärft im Fall eines zweiten Wahlganges. Für diesen Fall gelten nicht einmal die vorhin erwähnten Bestimmungen des § 8 Abs. 4 und 5, weil die dort genannten Fristen diesfalls nicht anwendbar sind. Die Lücke ist hier also noch größer.

2. Zum Unterschied von der Nationalratswahlordnung fehlen im Bundespräsidentenwahlgesetz Bestimmungen über die Wahlwiederholung. Hier kann man sich allerdings durch analoge Heranziehung der Nationalratswahlordnung helfen.

Anfechtung der Wahl 2016 beim Verfassungsgerichtshof

Gemäß Art. 141 Abs. 1 lit. a B-VG entscheidet der Verfassungsgerichtshof über die Anfechtung der Wahl des Bundespräsidenten. Der Anfechtung ist nach dem Verfassungstext stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war. Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner weit zurückreichenden Judikatur diese letztere Voraussetzung dahin interpretiert, dass das Wort „war“ im Sinne von „sein konnte“ zu verstehen ist. Andernfalls wäre auch eine schwerwiegende Verletzung von eine korrekte Durchführung der Wahl gewährleistenden Rechtsvorschriften ohne wirksame Sanktion. Der Verfassungsgerichtshof hat zur Bundespräsidentenwahl 2016 mit Erkenntnis vom 1. Juli d. J. entschieden und den zweiten Wahlgang zur Gänze aufgehoben; eine wesentliche Rolle spielte dabei die Verletzung von Vorschriften betreffend die Behandlung von Wahlkarten. Der Verfassungsgerichtshof hat die von den festgestellten Rechtsverletzungen betroffenen Stimmen hypothetisch so gewertet, als wären sie sämtlich für den nach dem Ergebnis des zweiten Wahlganges unterlegenen Kandidaten abgegeben. Diese theoretische Annahme musste auf der Basis der Vorjudikatur zur Aufhebung der Wahl führen, weil danach (hypothetisch) Ing. Hofer einen beträchtlichen Vorsprung vor Dr. Van der Bellen gehabt hätte. Diese Entscheidung stieß sowohl in Fachkreisen als auch sonst in der Öffentlichkeit auf massive Kritik. Darin wurde vor allem die vorhin erwähnte Umdeutung von „war“ in „sein konnte“ verurteilt, obwohl sie seit 1927 Maxime der Judikatur ist. Dem Verfassungsgerichtshof wurde vorgehalten, dass nach dem Verfassungstext die Wahrscheinlichkeit eines anderen Ergebnisses maßgebend gewesen wäre. Es handelt sich also um einen schwerwiegenden methodischen Gegensatz.

Besonderheiten der Wahlwiederholung 2016

Aufgrund des vorhin erwähnten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juli 2016 musste die Wahl des Bundespräsidenten wiederholt werden; die Wahl wurde mit Verordnung der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates für den 2. Oktober 2016 festgesetzt.

In der Folge stellte sich heraus, dass eine beträchtliche Anzahl von ausgegebenen Wahlkarten für diese Wiederholungswahl schadhaft war. Der vorgesehene Wahltermin konnte daher nicht eingehalten werden. Mit einer Änderung des Bundespräsidentenwahlgesetzes (durch Bundesgesetz BGBl. I 86/2016) wurden Sonderbestimmungen für die Verschiebung der Wiederholung des zweiten Wahlganges der Bundespräsidentenwahl 2016 getroffen. Mit Verfassungsbestimmung wurde die Wiederholung des zweiten Wahlganges für den 4. Dezember 2016 ausgeschrieben; mit einer weiteren Verfassungsbestimmung wurde verfügt, dass wahlberechtigt alle Männer und Frauen sind, die am Tag der Wahl das Wahlrecht zum Nationalrat haben. Damit wurde von der sonst bestehenden Regelung abgewichen, wonach im Fall der Wiederholungswahl die gleichen Personen wahlberechtigt sind, wie bei der ursprünglichen Wahl. Der große Abstand zwischen dem zweiten Wahlgang (22. Mai 2016) und dem nunmehr verfügten Wahltag hätte die grundsätzlich bestehende Regelung als unbillig erscheinen lassen. Freilich muss sich die Sonderregelung den Einwand gefallen lassen, dass durch die Änderung des Wählerkreises es sich in Wahrheit nicht mehr um eine Wiederholungswahl, sondern um eine Neuwahl handelt, aber eben nur mit den zwei in die Stichwahl gelangten Kandidaten. Daher war es notwendig, den Kern der Regelung durch Verfassungsbestimmung zu treffen; es handelt sich um einen pragmatischen Kompromiss.

Heinz Fischer

Gedanken zum Amt des Bundespräsidenten

Die hürdenreiche Wahl des österreichischen Bundespräsidenten im Jahr 2016, die vier Wahltermine und drei Wahlgänge erforderte1, hat das Amt des Bundespräsidenten fast ein Jahr lang verstärkt in das Licht öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Dabei ist oftmals auch über die Möglichkeiten und Grenzen dieses Amtes diskutiert worden.

Natürlich sind es die Bestimmungen der Bundesverfassung und andere einschlägige Rechtsvorschriften, die das Gerüst für die Rechte, Pflichten und Möglichkeiten des Bundespräsidenten bilden. Aber zu Recht gibt es Begriffe wie „Verfassungswirklichkeit“ oder „Staatspraxis“, die andeuten, dass es auch beim Amt des Bundespräsidenten auf der Basis der einschlägigen Normen durchaus Spielräume und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten gibt.

Diese Spielräume sind auch gemeint, wenn man vom „Amtsverständnis“ des jeweiligen Bundespräsidenten spricht, und es ist leicht erkennbar, dass trotz im Wesentlichen unveränderter Rechts- und Verfassungslage beispielsweise das Amtsverständnis von Karl Renner, Rudolf Kirchschläger oder Thomas Klestil durchaus unterschiedlich war.

Andererseits gibt es die Tatsache, dass sich auch bei unterschiedlichem Amtsverständnis bestimmte Vorgangsweisen über längere Zeit hinweg bewährt und gefestigt haben, und man spricht dann von Staatspraxis, bei der es sich also im Wesentlichen um bewährte Usancen auf der Basis der bestehenden Normen handelt.

*

Zu Beginn meiner Amtszeit am 8. Juli 2004 habe ich mein Amtsverständnis als neugewählter Bundespräsident vor der Bundesversammlung in aller Kürze wie folgt formuliert:

„Der Bundespräsident steht im Dienste aller Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

Er ist Partner für alle Bemühungen um eine friedliche und gedeihliche Entwicklung unserer Republik.

Es ist seine Aufgabe, auf das verfassungskonforme Funktionieren unseres politischen Systems und auf eine harmonische Zusammenarbeit der Staatsorgane hinzuarbeiten.

Der Bundespräsident hat das Recht und die Pflicht, sich in angemessener Form zu Wort zu melden, wenn dies dem Ziel dient, einen Beitrag für eine positive Entwicklung unseres Landes zu leisten oder Schaden von unserem Gemeinwesen abzuwenden.

Der Bundespräsident übt sein Amt objektiv und unparteiisch aus.

Das heißt aber nicht, dass er auf Grundsätze und Prinzipien verzichtet.“

In der Zwischenzeit habe ich zwei Amtsperioden von insgesamt 12 Jahren hinter mir und konkrete Erfahrungen zum Thema Verfassungswirklichkeit und Staatspraxis sammeln können. Ich möchte das anhand einiger Beispiele darstellen.

Ernennung des Bundeskanzlers2

Zu den wichtigsten Kompetenzen des Bundespräsidenten zählt seine Rolle bei der Regierungsbildung bzw. bei der Ernennung des Bundeskanzlers und aller weiteren Mitglieder der Bundesregierung. Dementsprechend groß ist auch das Interesse am Amtsverständnis des Bundespräsidenten (oder eines Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten) zu diesem Thema.

Aufgrund des Wortlautes des Art. 70 der Bundesverfassung wird vielfach gesagt, dass der Bundespräsident bei der Ernennung des Bundeskanzlers „freie Hand“ bzw. breite Auswahlmöglichkeiten hat. Dieser Satz ist zumindest unvollständig und vermittelt ein falsches Bild, denn Art. 70 B-VG ist im Zusammenhang mit Art. 74 B-VG zu lesen, wonach jedes Mitglied der Bundesregierung de facto vom Vertrauen des Nationalrates abhängig ist. Zwar nicht in dem Sinn, dass dieses „Vertrauen“ explizit und in Beschlussform ausgesprochen werden muss, wohl aber in dem Sinn, dass das Amt des Bundeskanzlers (und auch jedes einzelnen Regierungsmitgliedes) nur solange ausgeübt werden kann, als dieses Vertrauen nicht durch eine mit einfacher Mehrheit (bei erhöhtem Präsenzquorum) zu fassende ausdrückliche Entschließung des Nationalrates (das sogenannte Misstrauensvotum) entzogen wird.

Aus dem Kreis der Kandidaten für eine ernstgemeinte und auf Dauer angelegte Ernennung zum Bundeskanzler (oder zum Regierungsmitglied) scheiden somit alle Personen aus, bei denen abzusehen oder sogar sicher ist, dass ihrer Ernennung ein Misstrauensvotum der Mehrheit des Nationalrates folgen wird.

Dies gilt auch für die weiteren Schritte im Zuge einer Regierungsbildung, nämlich für die Ernennung der einzelnen Regierungsmitglieder durch den Bundespräsidenten, die aber nicht nach freiem Ermessen des Bundespräsidenten erfolgt, sondern über Vorschlag des Bundeskanzlers.

Daraus ergibt sich, dass die „rechtliche Ungebundenheit“ des Bundespräsidenten bei der Ernennung des Bundeskanzlers in faktischer Hinsicht durch die Zusammensetzung und die Intentionen des Nationalrates wesentlich eingeschränkt ist.

Es hat in der Zweiten Republik keinen einzigen Fall gegeben, wo der Bundespräsident eine Persönlichkeit zum Bundeskanzler ernannt hat, obwohl er damit rechnen musste, dass diese Ernennung mit einem Misstrauensvotum beantwortet wird. Und es hat auch kein einziges Misstrauensvotum gegeben, weil die Bundespräsidenten in der Zweiten Republik bei der Ernennung von Regierungsmitgliedern immer auf die jeweilige Konstellation im Nationalrat Rücksicht genommen haben. Wohl aber gibt es in jeder Gesetzesperiode eine beträchtliche Anzahl von Misstrauensanträgen aus den Reihen der Oppositionsparteien, die seit 1945 ausnahmslos abgelehnt wurden.3 Besonders bemerkenswert war, dass steirische Abgeordnete der ÖVP in der Sitzung des Nationalrates vom 30. September 1987 gegen den „eigenen“ ÖVP-Verteidigungsminister Dr. Lichal einen Misstrauensantrag eingebracht haben, weil sie mit seiner Politik bei der Stationierung von Abfangjägern nicht einverstanden waren. Der Antrag wurde von der Mehrheit der ÖVP-Abgeordneten mit Hilfe des Koalitionspartners SPÖ abgelehnt. Misstrauensanträge aus den Reihen der Opposition gehören hingegen zur Routine im parlamentarischen Alltag.

Das Problem eines allfälligen Misstrauensvotums stellt sich ganz besonders akzentuiert bei der allfälligen Ernennung einer sogenannten Minderheitsregierung, also einer Regierung, die sich nicht von vornherein auf eine Mehrheit (oder Mehrheitsfraktionen) im Nationalrat stützen kann.

Das einzige Beispiel für eine Minderheitsregierung in der Zweiten Republik war die von Bundespräsident Franz Jonas im April 1970 ernannte Bundesregierung Kreisky I, die aber de facto durch eine inoffizielle Absprache des Obmannes der stärksten Partei (nämlich Bruno Kreisky) mit dem Vorsitzenden der kleineren Oppositionspartei, der FPÖ (Friedrich Peter), für die Dauer von zumindest einem Jahr abgesichert war. In Kenntnis dieser Absprache ernannte Bundespräsident Franz Jonas den Obmann der stärksten Partei (Bruno Kreisky) zum Bundeskanzler und über dessen Vorschlag die weiteren Regierungsmitglieder.

Der Bundespräsident muss4 also bei der Auswahl des Bundeskanzlers und der Ernennung aller weiteren Mitglieder der Bundesregierung die Zusammensetzung des Nationalrates und die vermutlichen Intentionen der Abgeordneten bzw. der Parlamentsfraktionen mitberücksichtigen.

Diesem Zwecke diente auch eine Runde von Einzelgesprächen, die ich jeweils nach einer Nationalratswahl mit den Parteivorsitzenden bzw. Spitzenkandidaten jener wahlwerbenden Parteien geführt habe, die den Einzug in den Nationalrat geschafft haben.

Üblicherweise, aber nicht ausnahmslos wird dann der Spitzenkandidat (oder die Spitzenkandidatin) der mandatsstärksten Partei für das Amt des Bundeskanzlers in Aussicht genommen bzw. mit dem Auftrag zur Regierungsbildung betraut.

Man muss allerdings hinzufügen, dass die Funktion des Bundeskanzlers nicht immer nur nach einer Nationalratswahl zu besetzen ist, sondern die Ernennung eines neuen Bundeskanzlers auch erforderlich werden kann, ohne dass unmittelbar vorher eine Nationalratswahl stattgefunden hat.

Österreich hatte seit 1945 bis zum Ende des Jahres 2016 insgesamt 14 Regierungschefs (Bundeskanzler). Fünf davon übernahmen dieses Amt aber nicht nach einer unmittelbar vorangegangenen Nationalratswahl, sondern während einer laufenden Legislaturperiode, nämlich Gorbach (1961), Klaus (1964), Vranitzky (1986), Klima (1998) und Kern (2016).

Bei der zuletzt genannten Form des „Kanzlerwechsels“, die in der Regel die Konsequenz eines Rücktritts des Bundeskanzlers während der laufenden Legislaturperiode ist, folgte der Bundespräsident in der Zweiten Republik ausnahmslos der Usance, dass jene Partei, die den zurücktretenden Bundeskanzler gestellt hatte, einen Vorschlag für dessen Nachfolger unterbreitet, der vom jeweiligen Bundespräsidenten auch akzeptiert wurde5.

Die einzige Abweichung von der vorstehend skizzierten langjährigen Praxis bei der Ernennung eines Bundeskanzlers nach einer Nationalratswahl gab es in der Zweiten Republik nach der Wahl vom 3. Oktober 1999.

Damals wurde die SPÖ im Nationalrat (neuerlich) zur stärksten Partei, die FPÖ (erstmalig) zur zweitstärksten und die ÖVP (erstmalig) zur drittstärksten Partei. Bundespräsident Dr. Klestil wollte bei der Usance bleiben, den Obmann der stärksten Partei, nämlich den amtierenden Bundeskanzler Viktor Klima mit der Regierungsbildung zu beauftragen, was als erster Schritt zur neuerlichen Bildung einer Großen Koalition von SPÖ und ÖVP gedacht war.

Die Stärkeverhältnisse im Nationalrat machten aber auch andere Regierungskonstellationen möglich. Tatsächlich hatten sich FPÖ und ÖVP in (zunächst vertraulich geführten) Verhandlungen darauf geeinigt, eine Koalition unter Ausschluss der mandatsstärksten Partei zu bilden, in der der Obmann der drittstärksten Partei zum Bundeskanzler ernannt werden sollte und eine Vertreterin der zweitstärksten Partei das Amt der Vizekanzlerin übernehmen sollte.

Bundespräsident Dr. Klestil machte kein Geheimnis aus seiner Skepsis gegenüber dieser Koalitionsvariante, aber er hatte angesichts der offensichtlichen Unterstützung dieser Konstellation durch eine Mehrheit im Nationalrat keine vertretbare und praktikable Möglichkeit, diese Form der Regierungsbildung zu verhindern – auch wenn er bestimmte inhaltliche (rechtlich aber unverbindliche) Vorgaben machte und Abänderungen in der Liste der vorgeschlagenen Regierungsmitglieder durchsetzte.

Die Realverfassung lehrt uns daher: Obwohl die Möglichkeiten des Bundespräsidenten bei der Ernennung des Bundeskanzlers sehr vielfältig zu sein scheinen, ist es de facto so, dass die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat von gravierender Bedeutung für die Entscheidung über die Regierungskonstellation und auch für die Person des Regierungschefs sind. Der Bundespräsident kann Präferenzen zeigen und auf bestimmte Regierungskonstellationen hinarbeiten, er hat auch innerhalb eines gewissen Rahmens die Terminhoheit, aber er kann seine Präferenzen gegen den expliziten Willen der Mehrheit des Nationalrates nicht dauerhaft erzwingen (siehe auch Fußnote 3).

Weitere Schritte der Regierungsbildung

Steht die Person des Bundeskanzlers fest, folgen die weiteren Schritte der Regierungsbildung, nämlich die Ernennung des Vizekanzlers, der Minister und der Staatssekretäre.

Hier ist der Spielraum des Bundespräsidenten nach den Bestimmungen der Bundesverfassung noch enger als bei der Auswahl des Bundeskanzlers, denn diese Persönlichkeiten können nur „auf Vorschlag“6 des Bundeskanzlers ernannt werden. Damit soll der Bundeskanzler die Möglichkeit haben, sich „sein Regierungsteam“ auszusuchen – aber ebenfalls mit mehreren Einschränkungen:

Erstens ist der Bundespräsident rechtlich nicht verpflichtet, die vorgeschlagene Ministerliste zu akzeptieren, obwohl nach den Usancen der Zweiten Republik die „Hauptverantwortung“ für die Zusammensetzung einer Bundesregierung eindeutig beim Bundeskanzler – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit einem Koalitionspartner – liegt. Der Bundespräsident muss de jure keine Begründung geben, warum er allenfalls die Ernennung einer vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Person zum Regierungsmitglied ablehnt (während der Bundespräsident für die Auflösung des Nationalrates sehr wohl eine explizite Begründung geben muss),7 aber er wird zumindest gegenüber der Öffentlichkeit plausibel machen müssen, warum er den Bundeskanzler daran hindert, sein Regierungsteam selbst auszuwählen bzw. was ihn veranlasst, einem bestimmten Besetzungsvorschlag nicht Folge zu leisten.

Zweitens muss der Bundeskanzler bei der Erstattung seiner Vorschläge ebenso auf die Situation im Parlament Bedacht nehmen, wie das der Bundespräsident bei der Ernennung des Bundeskanzlers tun muss. Jemanden in die Regierung aufzunehmen, bei dem man mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass sich der Nationalrat mit einem Misstrauensvotum dagegen zur Wehr setzt, würde keinen Sinn ergeben.

Schließlich gibt es bei der Bildung einer Koalitionsregierung – und von den bisher 72 Jahren Zweite Republik gab es in 55 Jahren Zwei-Parteien-Koalitionsregierungen – de facto nicht ein Regierungsteam, sondern zwei Teams, die sich zur Zusammenarbeit in der Bundesregierung bereitfinden und verpflichten, aber doch – um es vorsichtig zu formulieren – ein gewisses „Eigenleben“ führen. Dabei ist ein Konkurrenzverhältnis fast automatisch gegeben, weil die beiden „Koalitionsteams“ sich auf zwei verschiedene politische Parteien stützen, die bei der nächsten Nationalratswahl – und mehr oder weniger auch zwischen den Wahlen – in Wettbewerb zueinander stehen.

Nicht zu viel Konflikt, aber auch nicht zu wenig Profil muss die Devise einer Koalitionsregierung sein, was sich aber in manchen Phasen der Politik als Quadratur des Kreises darstellt.

Hier ist dann in der Praxis der Bundeskanzler für die „eine Hälfte“ der Regierung und der Vizekanzler für die „andere Hälfte“ verantwortlich. Die Vorschläge für die namentliche Zusammensetzung der Bundesregierung fließen demnach aus „zwei Quellen“, weil jeder der beiden Koalitionspartner im eigenen Koalitionsbereich weitgehend autonom die Personenauswahl vornimmt. Die beiden Vorschläge werden dann akkordiert, zusammengefügt und vom Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vorgelegt. Das gilt sinngemäß auch bei der Auswechslung einzelner Regierungsmitglieder.

In diesem Zusammenhang ist immer wieder der Vorschlag gemacht worden, man möge Persönlichkeiten, die für ein Regierungsamt vorgeschlagen werden, vor ihrer Ernennung einem Hearing im Nationalrat oder in einem Ausschuss des Nationalrates unterziehen.

Ich stehe dieser Idee reserviert gegenüber, denn das Wesen eines Hearings besteht ja darin, dass eine Person oder eine Institution, die eine Personalentscheidung zu treffen hat, sich einen persönlichen Eindruck über Stärken und Schwächen eines Kandidaten oder einer Kandidatin verschaffen kann. Wenn z. B. der Nationalrat die Aufgabe hat, den Präsidenten des Rechnungshofes zu wählen, dann ist es sinnvoll, vor dieser Entscheidung ein Hearing im Nationalrat durchzuführen.