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Heimatkinder
– Box 2 –

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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-881-1

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Ein Dorfkind in der Stadt

Ganz neue Erfahrungen für Michael!

Roman von Isabell Rohde

Viola erwachte von einem Sonnenstrahl. Er fiel durch den Spalt zwischen den Gardinen am kleinen Fenster und blendete sie. Sofort richtete sie sich auf und sah zur Uhr. Es war Viertel nach sieben. Und obwohl sie hätte länger schlafen können, erhob sie sich, tapste mit nackten Füßen durch den niedrigen Raum und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.

Dort wohnte ihr Söhnchen Michael. Auch hier war der Sonnenstrahl hereingefallen. Genau auf das Kinderbett hatte er gezielt und machte sich dort in aller Helligkeit breit, denn Michael befand sich nicht mehr in seinem Bettchen. Und auch die kleine Lederhose, die nachts auf dem Stuhl daneben lag, war verschwunden.

Viola eilte in ihr Zimmer zurück, schob die Gardinen beiseite, öffnete das Fenster weit und lehnte sich hinaus.

»Michi!«, rief sie laut. »Michiiii!«

Vom Gartentor kam die Antwort. Dort stand ihr Söhnchen mit noch ungekämmten Haaren, aber fix und fertig angekleidet und wollte gerade entschlüpfen. »Ja, was ist denn, Mama?«

»Komm mal her zu mir«, sagte sie streng und deutete auf den Platz unter ihrem Fenster. Michael gehorchte. Als er unter ihr stand, hob er sein Bubengesicht mit unschuldsvollem Blick zu ihr hinauf.

»Wohin willst du denn so früh, kleiner Mann?«, erkundigte sich die sechsundzwanzigjährige Mutter.

»Zu Jochen. Im Kuhstall helfen.«

»Du sollst mich doch vorher fragen, wenn du zu Jochen willst«, mahnte sie ihn. So richtig böse konnte sie ihm ja doch nicht sein. Jochen Schmiehl, der Bauer von nebenan, und Michael waren seit Jahren dicke Freunde. Und der Junge war nicht schuld daran, dass Viola den Nachbarn seit einigen Monaten anders beurteilte und ihm aus dem Weg ging.

»Ich hab’s vergessen, weil die Sonne scheint …«, entschuldigte er sich. Viola musste lächeln. »Und ich wollte dich auch nicht wecken, weil du doch gestern Abend solange mit der Steuererklärung gearbeitet hast …«

»Ist schon gut. Dann geh aber wenigstens zu Omi und warte auf mich, damit wir zusammen frühstücken können.«

»Och!«

»Nichts och, Bürschchen! Ich bin in zehn Minuten unten!«

Sie schloss das Fenster, denn trotz der morgendlichen Sonne war es noch empfindlich kühl. Aber dass jetzt im April endlich einmal Frühlingswetter herrschte, beflügelte Viola. Sie zog sich den roten Morgenrock an, stieg in ihre Pantoffeln und warf im Vorübergehen einen Blick auf den großen Arbeitstisch unter der schrägen Mansardendecke im anderen Teil des Zimmers.

Dort lag die Steuererklärung von Dr. Witzig, dem Tierarzt in Oberried. Bis nachts um zwei Uhr hatte sie daran geschuftet. Aber der Veterinär konnte zufrieden sein. Sie hatte eine saubere Arbeit geliefert.

Das Bad war besetzt. Ihr Vater hielt sich darin auf und bat um Geduld. Viola ging also in ihr Zimmer zurück und lüftete das Bettzeug. Dann stand sie plötzlich vor dem ovalen Spiegel neben dem Fenster und betrachtete sich. Ihre blonden Haare reichten jetzt bis zu den Schultern hinab. Ihre Finger spielten nachdenklich mit einer lockigen Strähne. Ob sie sich auch einmal mehrere Zöpfe flechten sollte, wie sie es in einem Modejournal gesehen hatte? Oder ob sie dafür schon zu alt war? Nein, zu alt nicht, überlegte sie. Aber so eine extravagante Frisur passte nicht nach Oberried. Und zu mir, der Pastorentochter, schon gar nicht.

Als sie eine Viertelstunde später am Frühstückstisch erschien, baumelten zwei niedliche Zöpfchen an ihren Schläfen herab. Ihre Mutter blickte sie belustigt an. »Viola«, meinte sie gut gelaunt, »bei dir sieht man ja auch, dass der Frühling endlich gekommen ist!«

Viola strich Michi übers Haar und setzte sich ihrem Vater gegenüber. Pastor Scholzen ließ die Morgenzeitung sinken. Sein Blick ruhte voller Wärme und Zuneigung auf seiner hübschen Tochter, aber er sagte nichts, sondern hielt ihr nur die Teetasse hin, damit sie nachschenkte. Dann widmete er sich wieder seinem Artikel.

»Du hast bestimmt schon wieder ein Thema für die Sonntagspredigt«, meinte Viola.

Dabei strich sie Michi ein Honigbrötchen zurecht.

»Nein«, kam es hinter der, Zeitung vor. »Es gibt in Oberried genug Geschehnisse, die ich deuten kann. So Gott mir helfe! Aber ich lese die Annoncen durch. Mutter und ich brauchen eine Haushaltshilfe. So geht das nicht weiter. Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Und die Arbeit im Garten und in der Küche wachsen uns über den Kopf …«

Michi nahm das Brötchen und biss kraftvoll hinein. »Aber Mama hilft euch doch!«, warf er kauend dazwischen.

»Deine Mama«, Pastor Scholzen faltete die Zeitung zusammen, »ist Steuerberaterin und keine Gärtnerin. Sie hat wieder bis in die Nacht gearbeitet, weil sie mir gestern Nachmittag beim Umgraben geholfen hat. Und heute – das sehe ich schon kommen – wird sie wieder Gardinen spannen.«

Frau Scholzen lachte. »Nur, wenn Viola Zeit hat.«

»Ich habe Zeit, wenn ich dir nur irgendwie helfen kann, Mutter«, erwiderte Viola. In ihrer Stimme schwang Dankbarkeit und Respekt mit.

Michael rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er nahm den Eierlöffel, schwang ihn wüst herum und legte ihn wieder beiseite. »Ich mag mein Ei heute nicht. Ich will zu Jochen …«

Da richtete Viola ihre fast dunkelblauen Augen in stummer Verzweiflung auf ihre Mutter. Frau Scholzen ahnte, was in ihrer Tochter vor sich ging. Sie wandte sich an ihren Enkel.

»Gut, Michi, du kannst gehen. Aber nur für eine halbe Stunde.«

»Warum denn, Omi? Sonst bin ich doch den ganzen Tag bei Jochen geblieben, und ich habe dir immer frische Milch mitgebracht.«

Pastor Scholzen räusperte sich.

»Wenn es so weitergeht, werden wir dich ins Dorf schicken, damit du uns Milch kaufst, Michi.«

»Warum, Opi?«

»Weil Geschenke etwas Wunderbares sind. Aber sie sind keine Geschenke, wenn eine Gegenleistung dafür erwartet wird.«

»Versteh ich nicht!«

Sie lachten. Und Michi nutzte die Gelegenheit, um sich schnell aus dem Staub zu machen. Als die Tür des Pfarrhauses hinter ihm zuschlug, sahen sich die drei Erwachsenen achselzuckend an. Viola sprach zuerst: »Michi kann doch nicht verstehen, dass ich Jochen Schmiehl schätze, ihn aber nicht lieben kann und ihn auch nicht als Vater für Michi will.«

Herr Scholzen nickte. »Darum wäre es besser, du würdest mal eine längere Reise unternehmen.«

»Dazu fehlt mir das Geld. Ihr habt mich die ganzen Jahre unterstützt, und ich möchte es Euch zurückgeben. Nein, an eine Reise ist nicht zu denken, Vater.«

Ihre Mutter, eine rundliche Frau mit noch jungem Gesicht und den gleichen strahlenden Augen, wie Viola sie hatte, nahm die Zeitung zur Hand. »Viel besser wäre es, wir bekämen eine Haushälterin, für die Jochen Schmiehl sein Herz entdecken würde, Hans.«

In diesem Moment klappte die Haustür zu. Sie sahen sich wieder an, und jeder glaubte schon, Jochen Schmiehl würde jetzt auftauchen. Tatsächlich klopfte es gleich darauf an der Tür des Esszimmers.

Es war der Briefträger. Er brachte eine Menge Post. Darunter befand sich ein Umschlag, auf dem Violas Name mit schwungvollen Lettern geschrieben stand. Sie nahm ihn an sich und öffnete ihn sofort. Nachdem der Postbeamte gegangen war und Pastor Scholzen eine Weile gewartet hatte, konnte er seine Neugier nicht mehr bezähmen.

»Na, Viola? Du lächelst ja! Hast du einen neuen Kunden?«

»Nein, Vater.« Sie las weiter. »Der Brief kommt von Heidi … Sie fährt nun doch für zwei Jahre in die USA. Und sie fragt, was aus meiner kleinen Wohnung in München werden soll …«

»Der Mietvertrag läuft noch auf deinen Namen?«

»Ja.«

Pastor Scholzen wechselte einen Blick mit seiner Frau, die sich erhoben hatte und das Geschirr zusammenstellte.

»Ich werde ins Dorf fahren und eine Annonce aufgeben«, verkündete er dann. Violas Eltern sahen sich noch einmal an. Dieser Blick ließ erahnen, wie viel Interesse sie an Violas Schicksal nahmen. Der Brief war zum richtigen Zeitpunkt gekommen.

*

Am Abend des gleichen Tages lag Michi todmüde, geduscht und selig lächelnd in seinem Bett. Denn Viola las ihm nun schon zum dritten Mal die Geschichte von dem Mohrenkind im Himmel vor.

»… und als die Engel begriffen, dass die Eltern des Mohrenkindes es genauso gernhatten wie das helle Schwesterchen, schickten sie es schnell zur Erde zurück. Mutter und Vater Kuhnert beugten sich über die Theresa und konnten es noch gar nicht fassen, dass sie aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht war …«

»Warum bin ich eigentlich kein Mohrenkind?«, musste Michi plötzlich fragen.

Viola sah ihn einen Augenblick lang schweigend an. Dann strich sie mit ihrer freien Hand über den karierten Rock, als hätte sich dort eine ungewünschte Falte eingeprägt. Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich Mut.

»Dein Vater war ja kein Farbiger, Michi. Und ich bin deine Mutter. Wir haben dich auch nie zur Adoption freigegeben. Du bist mein Sohn …«

»Aber mein Vater ist doch nach Afrika verschwunden, nicht?«

»Woher weißt du das?« Viola erschrak.

»Jochen Schmiehl hat es mir erzählt. Und er sagt, du könntest froh sein, wenn dich einer nimmt. Aber das macht ja nichts, Mama. Du kannst immer froh sein, weil ich dich ja immer nehme.«

Sie lächelte, aber ein Zug Schmerzlichkeit zeichnete sich in diesem Lächeln ab. Dann legte sie das Buch beiseite und ergriff Michis kleine Hand.

»Dein Vater und ich haben uns sehr lieb gehabt, Michi. Sonst wärest du ja gar nicht auf der Welt. Gerd ist dann nach Afrika gegangen, um als beratender Techniker zu arbeiten. Als ich ihm schrieb, dass ein Kind in mir lebt, wartete ich lange auf eine Antwort von ihm. Nach drei Monaten erhielt ich einen langen Brief. Darin schrieb er mir, dass er eine Krankenschwester kennen und lieben gelernt habe, die Verbindung aber lösen würde, wenn ich wollte …«

»Und warum wolltest du das nicht, Mama?« Michi sprach sehr leise.

»Weil wir dann nicht glücklich geworden wären, Michi. Ich hätte immer an diese Frau denken müssen. Sie wusste ja nichts von mir. Und auch dein Vater wäre wahrscheinlich immer in Gedanken in Afrika geblieben. So wie es ist, ist es gut.«

»… weil Opi und Omi dich dann zu sich geholt haben.« Er atmete erleichtert auf, gleichzeitig fielen ihm schon die Augen zu.

Da betrat Pastor Scholzen den Raum. Der große, breitschultrige Mann mit dem weißen Haarkranz und den klugen grauen Augen legte die Hand auf Violas Schulter.

»Unten in der Küche sitzt Jochen Schmiehl bei einem Bier und wartet auf dich, Viola.«

Viola zuckte zusammen. »Ich kann jetzt nicht hinuntergehen, Vater. Jetzt nicht.«

»Wann wirst du ihm dann sagen, dass er sich keine Hoffnung machen darf?«

Sie erhob sich. In ihr war eine Erregung, die sie gar nicht kannte. Am liebsten hätte sie die Hände zu Fäusten geformt und um sich geschlagen. Aber sie beherrschte sich.

»Ich habe ihm nie den geringsten Anlass gegeben, sich überhaupt Hoffnung zu machen, Vater. Ich habe seine Steuererklärung geprüft und ihn beraten!«

»Pst!«, machte Pastor Scholzen. »Michi schläft schon …« Er beugte sich über den blonden Enkel und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Als er sich wieder aufrichtete, war Viola schon nach unten gegangen.

Jochen Schmiehl saß an dem langen Küchentisch und stützte seine Ellenbogen darauf. Vor ihm stand das Bier, das Frau Scholzen ihm angeboten hatte. Von dem ersten gierigen Schluck zeugte noch eine winzige Spur Schaum an seiner Oberlippe.

»Mit den Schweinen komme ich dieses Jahr auf runde Fünfzigtausend, Frau Pastor. Viola meint, ich kann die neue Maschine noch rückläufig absetzen …«

»Welche Maschine denn?«, fragte Frau Scholzen, die ihm nicht richtig zugehört hatte und gerade einige Teller aus dem Geschirrspüler holte. Durch das Geklapper war den beiden Menschen entgangen, dass Viola in die Küche getreten war.

»Das Motorrad«, erklärte die belustigt. »Aber ein Motorrad ist steuerlich eben gerade nicht abzusetzen, Jochen. Ich habe mich wohl nicht richtig ausgedrückt. Oder haben Sie mich falsch verstanden?«

Er erhob sich sofort mit hochrotem Kopf.

Sein Haar war zu kurz und seine Stirn zu breit. Die Augen zu klein, die Lippen zu voll. Und doch hatte Viola diesen etwa fünfunddreißigjährigen Mann bis jetzt immer gern leiden mögen. Sie waren schließlich seit Kindheit an miteinander bekannt.

»Ich habe Ihnen wohl nicht aufmerksam zugehört, Viola. Ich bin nicht so ein aufgewecktes Bürschchen wie Michi.« Er lächelte verlegen und legte die grobe Faust auf seine Brust. »Aber hier drinnen klopft es ganz wach und rasch für Sie, Viola …«

Frau Scholzen stellte einen Krug auf den Tisch. »Früher habt ihr immer du zueinander gesagt …«

Jochen Schmiehl senkte den Kopf. »Da war Viola auch noch keine Studierte, Frau Pastor.«

»Jochen und mich verbindet nur Freundschaft, Mutter. Und das ist gut so. Da mich sowieso keiner nimmt, muss ich doch für Jochens Freundschaft dankbar sein. Und unter erwachsenen Menschen bleibt es sich da gleich, ob man du oder Sie zueinander sagt …«

Frau Scholzen hatte ihrer Tochter mit halboffenem Mund zugehört.

Und Jochen Schmiehl war unruhig von einem Fuß auf den anderen getreten. Jetzt lastete ein peinliches Schweigen im Raum.

»Ah, Viola …«, begann der Bauer schließlich, ohne den Blick zu heben. »Ich wollte nur fragen, ob die Maschine – eh, das Motorrad, nun doch rückläufig …«

»Ist es nicht, Jochen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«

Als er gegangen war, nahm Frau Scholzen das dreiviertel volle Bierglas vom Tisch und schüttelte den Kopf.

»Warum hast du ihn so blamiert, Viola?«

»Ich wollte endlich Klarheit schaffen, Mutter. Michi wird die Milch im Dorf kaufen müssen, und du bekommst von mir im Sommer einen Rasensprenger, damit du den von Jochen nicht mehr ausleihen musst.«

Der Pastor war in die Küche getreten. Er ging an den Schrank und holte eine Flasche Beaujolais hervor. Die stellte er auf den Tisch. »Drüben im Wohnzimmer sind die Gläser. Kommt ihr beiden mit mir, um diesen guten Tropfen zu probieren?«

»Aber Hans! Die gute Flasche, die du von Onkel Max zum Geburtstag bekommen hast«, wunderte sich seine Frau. »Gibt es denn einen besonderen Anlass?«

»Ja«, sagte er. »Ich habe heute früh eine Anzeige aufgegeben und hoffe, dass wir eine Haushälterin finden werden. Und Heidi Bach verlässt Violas Wohnung, um in die Vereinigten Staaten zu gehen. Außerdem hat Viola Jochen Schmiehl endlich reinen Wein eingeschenkt. Wir werden jetzt einen noch reineren Wein trinken und besprechen, wie es mit unserer Tochter weitergehen soll. Wenigstens hätte ich nichts dagegen, wenn sie wieder in die Stadt zieht …«

»Aber Hans! Denkst du denn gar nicht an Michi?«

»Doch, Liebste. Aber das ist eigentlich Violas Aufgabe. Wir haben ihr jetzt genug geholfen. Und wie heißt es doch: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Oder, Viola?«

Viola lächelte unter Tränen und ging auf ihn zu. »Ach, Vater, ich danke dir so. Ich selbst hätte es euch nicht gern sagen mögen. Aber ich fühle es in mir. Ich muss zurück, auch wenn es schwer wird.« Sie sah ihre Mutter an. »Verstehst du mich auch, Mutter?«

Die überlegte lange, dann endlich nickte sie. »Ja, Viola. Ich sorge mich nur um dein Söhnchen. Wie soll er mit dem Großstadtleben zurechtkommen?«

»Das lass nur meine Sorge sein. Es ist ja nicht der erste Junge, der in München aufwächst.«

Sie umschlang ihre Mutter, und dann folgten sie dem Vater ins Wohnzimmer, um dort die Einzelheiten des Umzugs zu besprechen.

*

Drei Jahre hatte Viola die kleine Altbauwohnung im dritten Stock bewohnt und sich dort glücklich und geborgen gefühlt. Alle Mitbewohner hatten sie gern, und als sie mit dem Baby nach Oberried gezogen war, wurde sogar eine kleine Abschiedsfeier arrangiert. Das war nun fast vier Jahre her.

Sie sah sich, Michael fest an der Hand haltend, verwundert um. Heidi Bach wies stolz auf die makellosen Wände.

»Letztes Jahr war der Maler hier, ich habe sogar die Küche weißen lassen. Und neue Gardinen habe ich auch gekauft.«

»Die sind mir zu großblumig«, sagte Viola unumwunden, dann lachten die Freundinnen laut los.

»Mach dir nichts draus, Viola. Dafür stelle ich dir meinen neuen Ledersessel zur Verfügung. Tröstet dich das über den Verlust der alten Gardinen hinweg?« Und als Viola begeistert nickte, fügte die lustige Heidi hinzu: »Gut, dann koche ich uns den letzten deutschen Kaffee …«

Michi hatte sich aus der Hand Violas gelöst und war neugierig an den bequemen Ledersessel herangetreten. Und weil Viola ihre beiden Koffer ins Nebenzimmer trug, fühlte er sich unbeobachtet, hockte sich hinein, hob die Hände, als hielte er ein Steuerrad und machte: »Brrrrr! Mmmbrrrr!«

Heidi schaute aus der Küche zu ihm herein. »Na, du Lausbub! Gleich Autofahren, wie?«

»Ja, ich fahre hundertachtzig, wie Jochen Schmiehl mit seiner Maschine …«

»Wer ist denn Jochen Schmiehl?«, fragte Heidi laut hinüber zu Viola.

»Keine Fragen bitte«, rief die zurück.

»Jochen Schmiehl ist ein netter Onkel, den die Mama nicht heiraten will«, erklärte Michi. Und dann ging es weiter: »Brrr! Brrrrmschbrrrr!«

Viola betrat die kleine Küche. Sie sah zur Balkontür hinaus.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich hier sein werde. Nur eins …«

»Deine Eltern werden dir fehlen, nicht wahr? Sie haben Michi doch immer gut betreut.«

Heidi war schon reisefertig, aber für einen Plausch blieb ihr immer noch Zeit. Sie trug das Tablett mit den Kaffeetassen hinüber in den großen Raum, wo Michi immer noch Rennfahrer spielte. Ein Blick zu Viola genügte, und sie begriff, dass ihrer Freundin dieses Spiel missfiel.

»In dem Alter sind alle Jungen gleich«, wollte sie sie beruhigen. »Richtig autoverrückt!«

»Ja, aber Michi ist gar keinen Verkehr gewöhnt. Eben, als wir durch München fuhren, war er ganz begeistert. Ich habe Angst, dass er sich in seiner Begeisterung gehenlässt und Gefahren nicht erkennt.«

»Aber du wirst ihn doch in den Kindergarten bringen. Hast du ihn nicht ganz in der Nähe angemeldet?«

Viola antwortete nicht. Sie wartete, bis Michi in die Küche geschlendert war. Sie hörte, wie er die Balkontür öffnete. Natürlich musste er alles ganz genau inspizieren. Und gleich darauf stürmte er schon wieder herein.

»Mama, da unten auf der Straße spielen zwei Jungen. Darf ich zu ihnen hinunter?«

Viola atmete schwer. »Auf der Straße?«

»Er meint den Hinterhof. Da spielen die Kinder oft. Der ist riesengroß, und passieren kann ihm nichts.«

»Und welche Jungen sind dort?«, fragte Viola.

Heidi ging selbst, um nachzuschauen. »Das ist der kleine Stefan von unten. Sehr nette Leute, ein junges Ehepaar. Die Frau flirtet ein bisschen viel, aber sonst sind die in Ordnung. Du kannst so viel Lärm machen, wie du willst, die beschweren sich nie!«

Michi durfte hinunter. Und Viola vergewisserte sich nach einigen Minuten, dass auch wirklich nichts geschehen konnte. Dann waren die Freundinnen endlich allein und konnten in aller Ruhe Heidis letzten deutschen Kaffee genießen.

»Ja, Heidi. Ich habe Michael natürlich schon im Kindergarten angemeldet. Er wird dort vormittags hingehen, damit ich in Ruhe arbeiten kann.«

»Du wirst also selbstständig sein?«

»Ja. Und wenn ich kann, will ich noch mein Staatsexamen nachholen. Aber das ist ganz nebensächlich. Vorerst brauche ich mir darum keine Sorgen zu machen. Mein Vater hat mir schon einige Kunden besorgt. Ich werde schon zurechtkommen. Erzähle mir lieber, was sich hier inzwischen im Haus verändert hat. Bis jetzt habe ich kaum ein bekanntes Gesicht gesehen.«

»Ja, die Schmidts von oben sind weggezogen. Die Wohnung hat sich ein Architekt in ein Atelier umgebaut. Ich sage dir, das ist ein Junggeselle, wie er im Buche steht! Andauernd werden dort oben Partys gefeiert. Hoffentlich verträgst du dich gut mit ihm. Dann lädt er dich auch mal ein.«

»Ich habe vorerst genug von der Männerwelt«, stellte Viola amüsiert fest, sah zur Uhr und goss ihnen noch eine Tasse ein.

»Der neue Hausmeister muss bestochen werden. Schenke ihm eine Flasche Cognac, und er beschafft dir eine Garage. Außerdem räumt er dann auch das Kinderspielzeug mal mit weg.«

»Das kann Michi aber nun wahrhaftig selbst tun. In seinem Zimmer muss er es auch …«

Heidi trug enge lederne Hosen. Sie schlug sich amüsiert auf die Schenkel. »Ja, aber wenn die Autos in die Garagen fahren, liegt manchmal noch etwas auf dem Hof herum. Dieser Architekt über dir hat überhaupt keinen Sinn für Kinder. Er zermalmt Bälle, Puppen und jeden Plastikkram mit seinen Reifen.«

»Na, reizend«, meinte Viola. »Warum hast du mir das nicht gleich geschrieben? Dann hätte ich es mir vielleicht anders überlegt und wäre in Oberried geblieben …«

Heidi trank einen Schluck und setzte dann die Tasse wieder ab. Sie sah Viola nachdenklich an. »Nein, Viola. Eigentlich haben wir es damals schon so geplant. Wenn Michi groß genug ist, um in den Kindergarten zu gehen, kehrst du in deine Wohnung zurück. Stimmt’s?«

»Ja, Heidi. Und es ist auch gut so.«

*

Schon wenige Tage später hatte Viola sich ganz gut eingelebt. Sie brachte Michael jeden Morgen gegen acht Uhr in den Kindergarten, räumte dann den kleinen Haushalt auf, fuhr zu einem der Klienten oder arbeitete zu Hause über ihren Papieren.

Als sie eines Morgens vom nahegelegenen Kindergarten heimeilte und gerade in den Torbogen schlüpfte, wurde die hintere Tür zum Hof geöffnet.

»Sind Sie Frau Scholzen?«, fragte ein hochgewachsener Mann.

Viola blieb stehen. »Ja, das bin ich.«

Der Mann kam näher. Er trug ein kariertes Sakko, ein modern geschnittenes Hemd und eine geschmackvolle Krawatte. Sein mittelblondes Haar kräuselte sich ein wenig über den Ohren, die Augen waren hell, das Gesicht braungebrannt und sympathisch. Lächelnd streckte er ihr seine Rechte entgegen.

»Ich bin Werner Koch, der böse Junggeselle, der über Ihnen wohnt und sich zuweilen lautstark bemerkbar macht.«

»Ich habe noch nichts gehört«, erwiderte Viola.

»Ich bin gestern Abend aus dem Urlaub zurückgekommen.« Er sah sie forschend an, und Viola glaubte schon, er prüfe jetzt, ob sie hübsch genug war, um an einer seiner Partys teilzunehmen.

Sie ärgerte sich darüber, denn ausgerechnet heute hatte sie keine Zeit gefunden, um sich zu schminken.

»Ich werde mich melden, wenn es mir zu laut wird«, sagte sie mit der entsprechenden Zurückhaltung. Warum trug sie auch heute den nicht mehr ganz schicken Rock und das etwas ausgeblichene T-Shirt?

»Dann ist ja alles okay«, meinte Werner Koch. »Auf jeden Fall freue ich mich, dass eine so hübsche Mitbewohnerin ins Haus gezogen ist. Ihre Vorgängerin war sehr tolerant. Sie hat sich nie beschwert. Aber so hübsch wie Sie war sie nicht …«

»Morgens reagiere ich nicht auf Komplimente«, wies sie ihn schnippisch zurecht, wandte sich um und ging die paar Stufen zum Hauseingang hoch. Bevor die Schwingtür sich hinter ihr schloss, warf sie noch einen neugierigen Blick zurück. Aber Werner Koch war verschwunden. Sie hörte, wie der schwere Motor seines Wagens ansprang.

»Guten Morgen, Frau Scholzen.«

»Guten Morgen, Stefan.«

Ihr war der kleine Freund aus dem ersten Stock begegnet, der Junge, mit dem Michael manchmal auf dem Hof spielte.

»Musst du jetzt erst zur Schule?«, erkundigte sie sich.

»Ja, dienstags fällt die erste Stunde aus.«

»Und du gehst schon ganz allein?«

»Klar. Ich bin doch kein Mutterbübchen.«

Viola lächelte unsicher. Der Gedanke, dass Michael sich allein auf der Straße in Richtung Kindergarten oder Schule bewegte, flößte ihr Angst ein. Aber noch mehr fürchtete sie, dass ihr Sohn aufgrund seiner Unselbstständigkeit ebenfalls ein Mutterbübchen werden konnte.

Stefan schien es nicht eilig zu haben. Er stand da, steckte die Daumen unter die Riemen seines Schulranzens und sah sie abwartend an, als müsse sie ihm doch jetzt ein Lob aussprechen. In diesem Moment hörte Viola klappernde Absätze auf der Treppe. Eine helle Frauenstimme rief: »Stefan? Warte! Du hast dein Frühstück vergessen!«

Es war Stefans Mutter. Frau Kahl strahlte Fröhlichkeit und Unbekümmertheit aus, das hatte Viola schon vom Balkon aus festgestellt. Und sogar jetzt, noch im Morgenmantel und mit knallroten Pantöffelchen gekleidet, ging eine Menge Munterkeit von ihr aus. Sie drückte Stefan ein Paket in die Hand und wandte sich dann zu Viola.

»Sehr schön, dass ich Sie auch einmal sehe, Frau Scholzen. Ich habe schon von Fräulein Bach gehört, welchen netten Hausbewohner wir mit Ihnen begrüßen dürfen. Und der kleine Michi war auch schon bei uns. Sie haben einen netten Jungen. Wirklich, das ist schön, wenn Stefan einen Spielkameraden im Haus hat.«

Jetzt war es Viola, die ihr freundlich die Hand entgegenstreckte, dann legten die beiden Frauen die Stufen nach oben gemeinsam zurück.

»Sie müssen uns mal besuchen«, schlug Frau Kahl vor. »Mein Mann wird sich auch freuen. Wissen Sie, in diesem Haus gibt es immer viel zu erzählen, Haben Sie schon gehört, was für ein Playboy über Ihnen wohnt? Wenn es mal zu laut wird, können Sie bei uns immer eine Zuflucht finden.«

»So laut ist Herr Koch?«, staunte Viola.

»Ja, Fräulein Bach und die Hartmanns haben einiges auszuhalten. Mich kann es ja nicht stören.« Frau Kahl lächelte. »Und selbst wenn, Herr Koch ist ein ausgesprochen charmanter Mann. Beschwert sich einer im Haus über den Lärm, rückt er sofort mit riesigen Blumengebinden an. Na ja, das Geld sitzt ihm wohl locker in der Tasche. Aber das ist es nicht allein, was die Frauen so für ihn einnimmt. Glauben Sie mir, der Mann – und dafür habe ich ein Gespür«, sie pfiff anerkennend durch die Zähne, »ist der geborene Herzensbrecher.«

Viola blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah die junge Frau befremdet an. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Seitdem sie hier ausgezogen war, hatte sich ja eine Menge verändert. Früher war es hier viel gesitteter zugegangen.

Frau Kahl blinzelte ihr zu und fuhr sich mit ordnender Bewegung durchs Haar. »Ich bin ja glücklich verheiratet, mir fällt es nicht schwer, Herrn Koch einen Korb zu geben. Aber Sie! Jung und ungebunden und bildschön! Ihnen wird er auch noch den Hof machen«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe für derlei Dinge keinen Sinn und auch keine Zeit. Guten Morgen, Frau Kahl.«

Sie lief die letzte Treppe hoch. Das glich einer Flucht. Es war besser, gar nicht erst mit diesem Klatsch zu beginnen. Sehr schnell bestand dann die Gefahr, Gegenstand gewisser Gerüchte zu werden. Nein, danke.

»Sie kommen doch bald mal zu uns, Frau Scholzen?«, rief Frau Kahl ihr nach.

Da beugte Viola sich über das Treppengeländer.

»Ich habe im Moment sehr viel zu arbeiten, Frau Kahl. Aber wenn es sich für wenige Minuten ergibt, schaue ich gern bei Ihnen herein.«

»Aber doch nicht für wenige Minuten! Für einen Abend! Dann köpfen wir eine Flasche Champagner. Und die Jungen schlafen ruhig. Michael wird sie bestimmt gern gehen lassen. Sie sind doch noch jung und ganz ungebunden!«

Viola holte tief Luft, murmelte etwas Unverständliches und betrat dann ihre Wohnung. Sie schloss die Tür mit Nachdruck und lehnte sich aufatmend dagegen.

»Das fängt ja alles recht heiter an!«, dachte sie. »Champagner im Stock unter mir, Partys im Stock über mir. Ich frage mich, ob es nicht klüger gewesen wäre, in Oberried zu bleiben …«

Das Telefon klingelte. Sie ging in ihr Zimmer und nahm den Hörer auf. Ein Herr Steuben meldete sich. Er habe gehört, sie berate in Steuerfragen? Ob sie einen Termin bei ihm einplanen könne?

»Woher wissen Sie das?«, fragte Viola erstaunt.

»Dr. Wickert hat es mir erzählt und war von Ihrer Zuverlässigkeit begeistert. Er kennt Ihren Vater, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»Und Sie werden mir helfen?«

»Ja, gern. Wenn Sie Vertrauen zu mir haben. Um was handelt es sich denn?«

»Konditorei und Backwaren. Eine kleine Goldgrube im Herzen der Stadt.«

»Das klingt sehr vielversprechend, Herr Steuben. Bitte, gedulden Sie sich einen Moment. Ich hole nur schnell meinen Terminkalender. Am liebsten wäre es mir vormittags …«

Sie notierte sich einen Zeitpunkt am Anfang nächster Woche und blieb dann nachdenklich sitzen. Wenn es so bleibt, dachte sie, kann ich vielleicht in zwei oder drei Jahren umziehen und mir eine größere Wohnung am Stadtrand leisten. Dort gibt es dann keine lauten Junggesellen und keine aufgeregten Damen, die mit mir Champagner trinken wollen. Und unversehens huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Wenn sie ehrlich war, so gab es weitaus schlimmere Dinge als das, was sich angeblich über ihr abspielen sollte.

Und gegen einen Schluck Sekt war ja auch nichts einzuwenden. Michael freute sich bestimmt, wenn sie den Eltern seines Freundes einen Besuch abstattete. Und dann würde sie sich auch hübsch anziehen. Michael sollte stolz auf sie sein.

*

Carmen Wechmar stand vor dem riesigen Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Mit gespreizten Fingern schob sie ihre dunklen Haare von den Schläfen aus über die Stirn, hielt sie dort oben mit einer Hand fest und drehte sich, damit sie ihr Spiegelbild von allen Seiten betrachten konnte. Diese Frisur war sehr extravagant aber sie wollte Peter mit einem neuen Gesicht überraschen.

Sie ging an eine Kommode, zog eine Lade auf und holte einige bunte Federn hervor. Mit geschickten Bewegungen wiederholte sie die ganze Prozedur noch einmal und steckte den Schmuck über ihrer Stirn fest. Dann schminkte sie ihre Lippen dunkelrot.

Zum Schluss zog sie den silbergrauen Overall an, band eine dicke Kette um die schmale Taille und sah sich zufrieden im Spiegel an.

Es war kurz vor neunzehn Uhr. Wenn Peter Koch sich nicht verspätete, musste er jeden Augenblick klingeln. Aber bis es soweit war, konnte sie jede Minute nutzen.

Carmen ging ins Nebenzimmer, stellte die Stereoanlage an und horchte dem Rhythmus einer heißen Tanzplatte nach. Und dann bewegte sie sich vor dem Spiegel, als befände sie sich in einer Disco. Sie musste jede Bewegung genau einstudieren. Wenn es ihr heute nicht gelang, Peter von ihren Qualitäten zu überzeugen, blieb ihr nur noch ein Mittel, um ihn zur Ehe zu zwingen.

Etwas später erschien Peter Koch. Er war der ältere Bruder von Werner Koch und besaß eine gut gehende Rechtsanwaltskanzlei in der Stadt.

Carmen begrüßte ihn zärtlich, indem sie ihre Arme um seinen Nacken schlang. Dann betrachtete sie ihn kritisch.

»Du siehst so abgearbeitet aus, Peter.«

Peter Koch war einige Zentimeter kleiner als sein Bruder Werner, und sein Haar war auch wenig schütterer. Trotzdem hatte er genauso viel Erfolg bei den Frauen wie der Architekt. Erstens verfügte er über eine Menge Witz und Charme, und zweitens war er vermögend. Außerhalb der Stadt stand eine entzückende Villa in einem parkähnlichen Garten. Die hatte Peter vor einigen Jahren erworben und mit Werners Hilfe umgebaut. Carmen bezeichnete das Anwesen als Lustschloss. Ganz klar, dass sie dort gern Schlossherrin geworden wäre.

»Ich habe bis eben in einer Verhandlung gesessen«, erklärte Peter ihr und löste sich aus der Umarmung. »Hast du vielleicht einen Tee für mich?«

»Einen Tee? Ich dachte, wir gehen aus.« Aber dann schlenderte sie doch in Richtung Küche, und Peter, der sich in ihrer Wohnung auskannte, ging ins Wohnzimmer und stellte erst mal die Stereoanlage aus.

Der Raum war ganz in Hellgrün eingerichtet. Sogar der Bezug des Ledersofas war grün eingefärbt. Und überall standen Pflanzen herum, die Carmen aus praktischen Gründen gleich aus Plastik angeschafft hatte. So brauchte sie sie nicht zu gießen. Sie war nicht für pflegerische Arbeiten geeignet, auch nicht bei Pflanzen.

Peter schob die Hände unter den Kopf, machte sich lang und schloss die Augen. Ein raschelndes Geräusch ließ ihn aufsehen. Carmen stand vor ihm. Jetzt erst bemerkte er die Federn auf ihrer Frisur. Er richtete sich auf.

»Was hast du denn auf dem Kopf?«, fragte er belustigt.

»Einen originellen Schmuck. Ein Bekannter hat mal Fasanen geschossen und ihn mir anfertigen lassen. Schick, nicht?«

»Nee. Der soll lieber Hasen schießen.«

»Du hast eben keinen Geschmack. Aber ich als Werbeberaterin …«

Peter lächelte. »Du als Werbeberaterin solltest besser wissen, wie man sich als Frau verkauft.«

»Was heißt das?«

»Dass ich dich so lächerlich finde.«

Sie setzte sich zu ihm, stützte die Arme neben ihm auf. Ihre Augen sprühten nur so vor Entschlossenheit. »Findest du mich denn nicht attraktiv?«

»So nicht.«

Zu seiner Überraschung zog sie sofort die Federn aus den Haaren. Nun war ein wüstes Durcheinander auf ihrem Kopf entstanden. Peter zog sie amüsiert an sich und küsste sie.

»So wirst du wohl kaum ausgehen wollen«, atmete er auf. »Dann bleiben wir hier. Mir ist sowieso nicht danach, unter Leute zu gehen. Ich bin erschöpft.«

»Du wirst dich besser fühlen, wenn du den Tee getrunken hast.« Sie wollte sich erheben, um wieder in die Küche zu gehen.

»Nein«, sagte Peter ruhig. »Nicht gut genug, um auszugehen.«

»Du liebst mich nicht, Peter«, giftete sie ihn an. Peter Koch sah sie nachdenklich an. Liebte er sie? Ihre kapriziöse Art reizte und amüsierte ihn zuweilen. Aber wenn er viel zu tun gehabt hatte und sich müde fühlte, konnte sie ihm schrecklich lästig sein. Das war wohl keine Liebe.

»Natürlich liebe ich dich«, log er. Denn wie alle Männer verfügte er in solchen Situationen nicht über genug Mut.

»Dann heirate mich.«

Das ging zu weit. Er lächelte charmant. »Du weißt sehr gut, dass ich ein überzeugter Junggeselle bin, Carmen. Es wäre besser, wir blieben als Liebespaar zusammen, nicht als Ehepaar.«

»Aber wozu hast du denn dieses herrliche Haus draußen? Und was gefällt dir nicht an mir?«

»Mir gefällt alles an dir. Aber jetzt möchte ich nach Hause und Ruhe haben.«

Carmen musste sich zusammennehmen, um nicht loszuschreien. Sie biss die Zähne zusammen. Wenn sie ihn nicht zurückhielt, würde er es sich noch anders überlegen.

Aber Peter ging hinaus, holte seinen Trench von der Garderobe und stand schon an der Wohnungstür. »Also dann – einen schönen Abend, Carmen. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Ich rufe dich morgen wieder an. Wir werden den Disco-Abend nachholen. Tschüss, Liebling.«

Die Tür fiel ins Schloss, und Carmen aus allen Wolken. Sie ging ans Fenster und wollte ihm nachsehen.

Peter schlenderte zu seinem silbergrauen Sportwagen. Mit müden Bewegungen schloss er die Tür auf und warf seinen Mantel hinein. Dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Als er nicht einmal zu ihr hinaufschaute, hielt Carmen es nicht mehr aus. Blitzartig raste sie in ihr Zimmer, holte eine Jacke aus dem Schrank und verließ ebenfalls die Wohnung.

Der Lift kam nicht gleich, und so war Peter schon längst über alle Berge, als sie zitternd vor Wut auf der Straße stand. Ihr blieb nur noch eine Möglichkeit. Sie musste ihm mit ihrem eigenen Wagen folgen, denn abschieben ließ sie sich nicht. Peter benahm sich einfach rücksichtslos. Und als zukünftige Ehefrau wollte sie sich so etwas nicht gefallen lassen.

Wenn Carmen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte sie es auch aus. Peter würde sein blaues Wunder erleben. Noch heute wollte sie ihm das Eheversprechen entlocken. Ihr Beruf machte ihr keinen Spaß mehr. Und das Lustschloss lockte mit all seinen Bequemlichkeiten und Vorzügen.

Peter fuhr nicht sonderlich schnell, aber in knapp einer Viertelstunde erreichte er sein Grundstück.

Er bemerkte den Wagen seines Bruders nicht. In Gedanken war er bei der Verhandlung, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatte.

»Peter!«

Er sah fast erschrocken auf. Werner kam ihm durch den Garten entgegen. Er trug einen kleinen Korb in der Hand.

»Bist du schon wieder vom Urlaub zurück?«, fragte Peter ihn.

Bevor Werner antwortete, umarmten sie sich flüchtig.

»Ja, gestern Abend. Ich habe dir etwas mitgebracht. Eine italienische Spezialität – frischen Mozzarella.«

Peter freute sich über den Besuch seines Bruders. »Komm herein«, bat er ihn.

»Hast du keinen Damenbesuch?«, fragte der Jüngere vorsichtshalber.

»Nein. Ich erwarte auch keinen. Ein Glück.«

»Du wirst wohl alt, was?«, neckte Werner ihn. Dann blieb er stehen und hob den Kopf. »In deinem Garten duftet es herrlich. Hier draußen spürt man so richtig, dass Frühling ist.«

»Du kannst gern mal bei mir ausspannen«, schlug Peter vor und zückte den Hausschlüssel.

»Nein, danke. Dazu ist es mir hier zu einsam.«

In diesem Moment hupte es dreimal schrill auf der Straße.

Peter sah sich um, dann schloss er für Sekunden die Augen, als erleide er einen Schmerz.

»Jetzt ist es aus mit dem ruhigen Abend«, erklärte er Werner und deutete auf das knallgrüne Auto, das direkt vor dem Gartentor parkte. »Carmen kommt …«

»Carmen?«, fragte Werner leise. »Die kenne ich ja noch gar nicht. Eine neue Flamme?«

»So neu nicht, aber ziemlich hell lodernd. Sie will mich unbedingt heiraten, Werner. Ich bin schon ganz verzweifelt.«

»Und warum willst du nicht? In dieses Haus gehört doch irgendwann mal eine Frau, Peter. Mach dir nichts vor …«

»Ja«, erwiderte der Rechtsanwalt, »aber doch nicht diese …«

Werner musste lachen. »Das kann ich gut nachempfinden. Sie ist wohl nur deine Gespielin, was?«

Peter konnte nur noch nicken, denn schon näherte sich Carmen mit entschlossenen Schritten. Da sie keine Zeit mehr gefunden hatte, ihre zerrupfte Frisur zu ordnen, ähnelte sie einem aufgeregten Huhn. Werner warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu. Woher hast du denn diese Person, sollte er ausdrücken.

»Peter!«, fuhr Carmen auf ihn zu. »So geht es aber nicht. Du weißt, dass wir zusammengehören. Und dann verbringen wir auch die Abende gemeinsam! Hast du ganz vergessen, dass wir verabredet waren? Ich lasse mich doch nicht einfach so abschieben …«

Dabei tat sie so, als sei Werner gar nicht vorhanden. Und Peter, der seinen Bruder nicht an der Auseinandersetzung teilhaben lassen wollte, öffnete schnell die Tür. Carmen stürmte ins Haus.

»Ich geh’ lieber«, grinste Werner und übergab Peter den Käse im Korb. »Basilikum ist auch dabei. Du kannst ihn gleich servieren. Vielleicht beruhigst du sie damit.«

Peter schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube nicht. Trotzdem danke ich dir.«

Jetzt legte Werner den Arm um Peter, als müsste er ihn trösten.

»Wenn sie gar nicht zur Vernunft kommt, kannst du auf mich rechnen, Peter. Ich kenne mich in solchen Sachen aus. Sage ihr einfach, du musst für einige Wochen ins Ausland.«

»Und dann?« Peter hob die Schultern.

»Dann lebst du bei mir und lässt dich im Büro verleugnen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er ins Haus. »Die Frau sieht ja nicht schlecht aus. Solche Mädchen können nicht lange allein sein. In ein paar Wochen hat sie einen anderen. Also, überlege mal. Mein Atelier hat Platz für uns zwei. Und amüsieren kannst du dich auch bei mir …«

»Deine Partys sind berüchtigt, Werner. Ich, als Anwalt …«

»Du hast Zeit, das Für und Wider zu bedenken«, sagte Werner zum Abschied, klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und verschwand durch den Garten.

Peter sah ihm einen Augenblick nach, bevor er ins Haus trat. Dann schnupperte er an dem Körbchen und lächelte. Sein Bruder war schon in Ordnung. Wenn Carmen noch einmal von der Ehe zu sprechen begann, würde er auf dessen Angebot zurückkommen.

*

Viola Scholzen hatte sich einen starken Kaffee aufgebrüht. Während sie die Spätnachrichten hörte, trank sie Schluck für Schluck die Tasse leer. Sie ging und stellte das Radio leiser und setzte sich wieder an ihren Arbeitstisch.

Die Steuererklärung für Herrn Steuben war nicht leicht aufzustellen. Und schon morgen musste sie ihm zur Unterschrift vorliegen. Sie musste sich auf eine lange Nacht einstellen.

Über ihr ertönte laute Musik, und Viola wusste, dass bei Herrn Koch gefeiert wurde. Schon vor zwei Stunden hatte sich im ganzen Haus eine Unruhe breitgemacht. Ständig waren laut lachende Damen die Treppen hochgestöckelt. Ab und zu kicherte jemand auf der Terrasse des Architekten. Aber die Lautstärke hatte sich bis jetzt noch in annehmbaren Grenzen gehalten.

Viola nahm sich vor, von dem ganzen Trubel keine Notiz zu nehmen. Sie arbeitete ja und musste wach bleiben. Ein wenig Musik konnte nicht schaden.

Und dann legte sie doch den Stift beiseite und sah aus dem Fenster in den Sommerabend hinaus. Oben wurde jetzt getanzt.

Ihre Gedanken wanderten nach Oberried zu Jochen Schmiehl. Einmal war sie mit ihm in den Dorfkrug gegangen, denn ihr Vater hatte sie dazu überredet. Sie tanzte ja gern. Sie liebte das Leben und konnte sich herrlich amüsieren. Nur war Jochen ihr an diesem Abend schrecklich auf die Pelle gerückt. Nein, von da an war sie nicht mehr in den Dorfkrug gegangen.

Über ihr wurde es lauter. Viola rief sich zur Ordnung und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

»Mama!«