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Bernd Müllender

Belgien

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

1. Auflage als E-Book, September 2017

eISBN 987-3-86284-404-3

Inhalt

Vorwort – Land zu verkaufen

Von 11 Millionen auf 0 – Countdown in Zahlen und Statistiken

Deftigkeit im Dasein – auf der Suche nach belgischer Identität

Scheinitaliener, Fastdeutsche, Vonwegenfranzosen – alles Belgier

Besondere Orte 1: Brüssel – Von A bis Z

Besondere Orte 2: Mittelaltermania – Gent, Brügge, Antwerpen

Arienrevolution: Geschichte und Politik

Lächerliche deutsche Fürsten: Einige Aspekte der belgischen Ökonomie

Gemalt, nicht gemahlen: Hochkultur von Bruegel bis Hergé

Große Esskultur – Fritten und ihre kulinarischen Begleiter

Besondere Orte 3: Campingplatz Sippenaeken

Besondere Orte 4: Die Enklave Voeren/Fourons

Rekordesser: Schokoladen und Pralinen

Das Scheusal von Charleroi: der Fall Dutroux

Kreative Verwaltung oder Korruption? Zu aller Zufriedenheit

Komplexes Land – korrektes Protokoll

Besondere Orte 5: Das Hohe Venn

Besondere Orte 6: Die Deutschsprachige Gemeinschaft

»Dieses Land ist die reine Wundertüte« – ein Interview mit Herbert Ruland

Das Welterbe – über das belgische Identitätsmerkmal Bier

Besondere Orte 7: Schmuddelig? Nein, aufgehübscht – Lüttich

Besondere Orte 8: In den dunklen Forsten – Ardennen, Namur, Dinant

Seltsames Unileben: Interview mit zwei Brüssel-Studierenden

Ja zum gewollten Sterben: Euthanasie

Verkehre: Weltall-Autobahnen und kostenloser ÖPNV

Besondere Orte 9: Heavy Metal in der Spielzeugstadt Mechelen

Besondere Orte 10: Das Licht der Küste

Sportnation – im Zweifel auf Englisch

Staatsküsse – Einendes und Trennendes

Anhang

Literaturempfehlungen

Übersichtskarte

Basisdaten

Über den Autor

Vorwort – Land zu verkaufen

Über Belgien und über die Belgier weiß man hierzulande erstaunlich wenig. Unser Nachbarland wird kaum als eigenständiger Staat wahrgenommen, nur als Durchfahrtsland statt Urlaubsland, als Sitz der EU, als Dorado des Sprachenstreits, als Doppelappendix von Holland im Norden und Frankreich im Süden, mit dem EU-Moloch Brüssel dazwischen. Ein Patchworkland. Ein Flickenteppich-Staatsgebilde, das irritierenderweise auch noch ein urinierendes Kind zum Landessymbol erhebt (Manneken Pis). Das seine Fußballnationalmannschaft gemeinschaftlich auf Englisch anfeuert (»Belgium, Belgium«). Ach ja: Viele Fritten und einen König haben sie auch.

Belgien, hat Harald Schmidt einmal verraten, sei sein »heimliches Lieblingsland«. Das mag damit zu tun gehabt haben, dass Schmidt einige Jahre nahe Eupen wohnte, wo die Steuern für Künstler lange so unheimlich lieblich niedrig waren (pauschal 15 Prozent) und alle freundlicherweise auch noch Deutsch sprechen. Aber, so darf man unterstellen, haben Schmidt auch andere Dinge gefallen: Skurrilitäten, Absonderlichkeiten und ungewohnt Seltsames; lauter Dinge, die das Herz eines Kabarettisten, Lästermauls und Satirikers höher schlagen lassen.

Das Image des Unbekannten hat auch damit zu tun, heißt es immer wieder, dass sich das Land nicht recht verkaufen kann. Das stimmt auch, und zwar aus typisch belgischem Prinzip: Flamen und Wallonen achten seit jeher eifersüchtig und sorgsam darauf, dass ihr Landesteil mindestens so gut wegkommt wie der andere, bis man zu einem faulen Kompromiss kommt, der vielleicht keinem richtig nutzt, aber alle gleich gut dastehen lässt (vor allem die anderen nicht besser).

Was aber, wenn das ganze Land sich verkaufen würde? Also im Wortsinne, als große Immobilie:

Land zu verkaufen: Belgien

Grundfläche: 30 528 km2. Grundriss: gekipptes Viereck mit eleganten Rundungen und Einbuchtungen, einer Blumenblüte nicht unähnlich. Baujahr 1830. Zentrale Bestlage mit attraktivem Umland in Mitteleuropa, umgeben von sehr unterschiedlichen Kulturen und heutzutage friedliebenden Nachbarn. Teilweise modern neu bebaut (Klinker bevorzugt), neben liebevoll erhaltener alter Bausubstanz vieler Epochen, die von Vorbesitzern aus ganz Europa künden (Römer, Franken, Burgund, Habsburg, Spanien, Niederlande). Aggressive widerrechtliche Landbesetzer (Preußen, Deutschland) wurden immer kurzfristig nach wenigen Jahren geräumt. Grundbuchgarantien: Vereinte Nationen.

Mittelpunkt des Kaufobjektes ist die Hauptstadt Brüssel, ein bunter Schmelztiegel europäischer Geschichte, multilinguales Epizentrum der Gegenwart mit der weltweit größten Zahl an Diplomaten samt Entourage. Hier ist auch ein schlagkräftiger Sicherheitsdienst (Nato) zuhause, dazu eine leibhaftige Königsfamilie (bestehenslanges Wohnrecht), die für repräsentative Anlässe gebucht werden kann.

Kaum anderthalb Autostunden rund um Brüssel sind Landschaften und Städte eingebettet in einer Dichte und Vielseitigkeit wie kaum sonst wo auf der Welt auf so engem Raum: breite Strände des Nordatlantik aus feinem Sand (»Sahara Belgiens«), Wintersportgebiete für Alpin- und Langlaufski, mittelalterliche Siedlungen zu Dutzenden, einsame und zerklüftete Gebirgszüge mit romantisch tief eingeschnittenen Tälern, bewacht von Burgen und Schlössern, die an Zahl und Pracht ihresgleichen suchen. Alter und neuer Baumbestand, mannigfaltige Sport- und Kulturangebote aller Art indoor wie outdoor. Vielfach hochwertig-liebevolle Sanierung der Stadtkerne mit denkmalgeschützten Fassaden und prachtvollen Plätzen. An vielen Stadtrandgebieten sind indes Renovierungsarbeiten anzuraten. Landesweit prägen Gemeinschaftsgärten und -parks das Weichbild, in den Besiedlungen zahllose Abstellflächen (Hinterhöfe, Mikrogärten, Schuppen).

Es besteht ungehinderter Zugang zur Nordsee. Dort beste Infrastruktur mit drei großen Seehäfen (Antwerpen, Zeebrügge, Ostende), an Land jeweils viele tausend, exklusiv rund um die Uhr beleuchtete Kilometer Autobahn (teils renovierungsbedürftig) und 3592 Kilometer Schienenwege, dazu fünf internationale Flughäfen. Nötig scheint allerdings, besser kurz- als mittelfristig, ein Umbau des veralteten Energiesektors: derzeit versucht das Land noch weltexklusiv, mit eingeschränkter Sicherheitskultur strahlendem Schrott Strom abzuringen (AKWs Tihange und Doel). Daher derzeit Klassifizierung Energieeffizienzklasse: ungesichert. Eine weitreichende Finanzierung über EU-Mittel ist möglich.

Besonders hervorzuheben ist eine gehobene bis luxuriöse Ausstattung an Kultur. Zum Beispiel in der Musik – sowohl aktuell durch alle Genres (Plastic Bertrand, Stromae, Helmut Lotti) als auch historisch: von Orlando di Lasso als Renaissance-Komponist bis zum Chansonnier Jacques Brel und Jazzgrößen wie Django Reinhardt. Die Maler Bruegel, Rubens, Magritte haben Weltruhm, ebenso der Kriminalschriftsteller George Simenon. Kinderzimmer sind comicgeschmückt mit Motiven aus Tim und Struppi, den Schlümpfen, Lucky Luke und den Daltons – alle stammen aus Belgien.

Die Küchenausstattung erlaubt eine kulinarische Bandbreite sondergleichen. Bewohner dieser kompakten Top-Immobilie haben sich verdient gemacht um die Erfindung von Pommes Frites, die Entwicklung von Pralinen und Waffeln, sie hat weltweit die größte Biervielfalt (Kühnheiten wie Kirschbier eingeschlossen) und in ihrem flämischen Landesteil die höchste Dichte an Sternerestaurants. Gourmets sagen, die beste französische Küche gebe es in – eben. In Belgien wurde die Abseitsfalle im Fußball erfunden, der Body Mass Index, das Saxophon, der Impfstoff gegen Keuchhusten, Technomusik und vieles mehr. Zehn Mal bekamen seine Einwohner einen Nobelpreis, 17 Unesco-Kulturdenkmäler (materiell und immateriell) sind integraler Teil des Verkaufsobjektes.

Cineasten sehen sogar Anzeichen, dass hier einst die ganze Welt erschaffen worden ist. Im Kinofilm »Das brandneue Testament« aus dem Jahr 2015 von und mit Benoît Poelvoorde heißt es: »Gott existiert. Er wohnt in Brüssel.« Demnach wäre Belgien sogar so etwas wie der Himmel auf Erden.

Besichtigungen dieser dreisprachigen EU im Kleinen möglich zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Voranmeldung (Schengen). Die adelsgeführte Staatsimmobilie ist bezugsfrei nach Absprache. Preis: VB. Courage: ja. Courtage: keine.

So ein tolles Land möchte man sich doch mal angucken und näher kennen lernen, oder? Wäre es nicht sogar fantastisch, dort zu wohnen, zumindest wochen- oder jahresweise? Der Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael sagt mit Blick auf das mächtige und zuletzt zunehmend wacklige Gebilde Europäische Union: »Europa muss belgisch werden, oder es wird untergehen.« Da staunt man doch.

Von außen aber hacken alle gern auf Belgien herum: Königreich Absurdien, Chaosland, Anarchistan Mitteleuropas, ein Gebilde voller Merkwürdigkeiten. Die Hamburger Zeit schrieb Belgien einmal »Gefummel als Größe« zu. Immerhin: Größe.

Ich lebe und arbeite seit Anfang der 1980er Jahre in Aachen, also direkt nebenan. Da hat man unzählige Kontakte nach Belgien, auch zu Leuten, die abenteuerlustig dorthin gezogen sind. Mich hat es bei Ausflügen seltener ins aufgeräumte, durchstrukturierte Holland gezogen, sondern viel lieber in dieses Königreich Großfrittannien – ob wandernd in den Ardennen, radelnd durchs Eupener Butterländchen, zur Sonnenfinsternis an meinem Geburtstag im August 1999 an die französische Grenze (hier klappte das Spektakel zu 100 Prozent, während Deutschland nebenan fast ganz unter Wolken blieb), auf Strandurlaub an der Küste. Dazu beruflich auf Recherche für die Zeit, den ehemaligen Rheinischen Merkur oder die Berliner taz: in Mons (Europas Kulturhauptstadt 2015) oder in einer der vielen bezaubernden Städte wie Antwerpen, Gent oder Brügge, Namur, nach Lüttich, Spa und Brüssel sowieso.

Immer wieder wohne ich auch in Belgien: Wir haben seit Jahren einen Wohnwagen in Sippenaeken kaum zehn Kilometer hinter der Grenze. Unter Campern lernt man Belgien von sehr weit unten kennen. Tres anders, heel maal anders, dieses Königreich Belgien, Koninkrijk België, Royaume de Belgique? Ja.

Bernd Müllender

Aachen, im Sommer 2017

Von 11 Millionen auf 0 – Countdown in Zahlen und Statistiken

11 322 088: Einwohnerzahl zum 1. 1. 2017 laut belgischem Bevölkerungsregister, davon etwa 5,56 Millionen Männer und 5,76 Millionen Frauen.

360 000: Euro. Höchster Preis, der weltweit jemals für eine Taube gezahlt wurde: Ihr Name: Golden Prince. Ihre Spezialität: »Internationale Weitstreckenflüge«. Sie ging im März 2017 von einem Züchter in Wevelgem in Westflandern nach Südafrika. Ob sie sich selbst ans Kap zustellte, ist unbekannt.

217 581: Gemischtbevölkerte Ehen aus Wallonen und Flamen (höchstprivate Schätzung des Autors).

39 523: Anzahl der mit erstem Wohnsitz gemeldeten Deutschen in Belgien (2016). Zum Vergleich: Einwohner der Deutschsprachigen Gemeinschaft: 76 700.

30 528: Größe des Landes in Quadratkilometern.

5244: Anzahl der Personen in Brüssel mit Diplomatenstatus. Weltrekord!

1830: Revolution. Das Jahr, in dem alles anfing.

1500 – 1700: Regenmenge in Litern pro Jahr und Quadratmeter im Hohen Venn. Doppelt so viel wie sonst im ohnehin recht nassen Belgien.

1190,5: der schwerste Kürbis der Welt in Kilogramm (2016, gezüchtet von Mathias Willemijns).

694: Signal de Botrange, der höchste Berg in Metern (im Hohen Venn zwischen Eupen und Malmedy). Von hier lässt es sich gut auf die pannekoekenflachen Niederlande gucken, die an Erhebungen ja höchstens Dünen kennen? Nein: Der höchste Berg der Niederlande reckt sich ganz in der Nähe auf 322,7 Meter (Vaalserberg bei Aachen). Und wenn man es ganz genau nimmt, müssen die Belgier sogar viel höher gucken – bis zum Mount Scenery auf der karibischen Insel Saba. Mit der Auflösung der Niederländischen Antillen im Oktober 2010 wurde Saba als »Besondere Gemeinde« in das Königreich der Niederlande eingegliedert. Damit ist der Vulkan de hoogste punt van Nederland: 877 Meter. Armes Flachland Belgien.

665: Höchstgelegene Gemeinde in Metern: Mürringen, Teil von Büllingen im deutschsprachigen Kanton St. Vith, gleichzeitig östlichste Gemeinde Belgiens.

589: Anzahl der Kommunen.

541: Anzahl der Tage ohne Regierung (2010 / 11). Weltrekord!

448: Filialen Aldi Nord, siehe auch 0.

350 – 400: Anzahl der Stände auf dem größten Antiquitätenmarkt Belgiens in Tongeren, der ältesten Stadt des Landes. Immer sonntags ab 6 Uhr.

320: Anzahl der registrierten Chocolatiers.

181,7: Durchschnittliche Körpergröße (in Zentimetern) belgischer Männer, die 1996 geboren wurden. Das ist weltweit Platz 2 hinter den Niederlanden (182,5). Flamen vermuten, ohne mitgemessene (kleinere) Wallonen wäre sie on top. Belgische und niederländische Frauen belegen keine Spitzenplätze.

141: World Ranking des Landes an Größe in Quadratkilometern.

102: Höhe in Metern des Atomiums in Brüssel. Mit Abstand größtes Atom auf Erden.

99,9: Regentage im Jahr (Deutschland: 96).

98,7: Prozent der Christen in Belgien sind Katholiken. Von allen Einwohnern sind 75 Prozent römisch-katholisch, 1 Prozent Protestanten, 8 Prozent Muslime, 16 Prozent ohne Konfession (Deutschland: 34 Prozent).

84: Prozent aller Diamanten weltweit werden in Antwerpen gehandelt. 2015 kamen 227 Millionen Karat zusammen.

81,4: Lebenserwartung in Jahren (Männer 78,8; Frauen 83,9). Damit leicht vor Deutschland (81,2). EU-Spitzenreiter: Spanien, 83,3.

66,5: Küstenlänge in Kilometern.

65: Verkehrstote pro Jahr auf eine Million Einwohner. Das ist sehr weit vorn in der EU. Deutschland kommt auf 42 pro Jahr.

50 : 50: Bücherquote. Nach dem streitbedingten Bau einer zweiten Hochschule von Löwen (Leuven) direkt hinter der Grenze in der Wallonie (Louvain-la-Neuve) wurden die teils Jahrhunderte alten Bestände der alten flämischen Universitätsbibliothek, 1,3 Millionen Bände, fifty-fifty aufgeteilt: Die mit den ungeraden Nummern blieben, die geraden Nummern gingen. Dann konnte man tauschen.

39,3: Prozentzahl der Frauen im nationalen Parlament. Das ist der höchste europäische Wert südlich von Skandinavien.

32: Telefonvorwahl, genauer 0032.

21.: Juli. Nationalfeiertag. Der Tag an dem der erste König, Leopold I., 1831 gekrönt wurde.

17: Platzierung Belgiens im Weltglücksbericht (Deutschland 16). Weltkulturerbestätten oder -brauchtümer laut Unesco: Von den flämischen Beginenhöfen über die alten Schiffshebewerke im Hennegau, vier wallonische Bergbaustätten wie Grand-Hornu bei Mons, die Karnevale von Aalst und Binche, die Krabbenfischer zu Pferd von Oostduinkerke bis zu den Drachen bei Prozessionen – und seit Ende 2016 die belgische Bierkultur. Deutschland kommt auf 62. Somit hat Belgien pro Einwohner doppelt so viele, gemessen an der Landesgröße sogar das 3,2-Fache. Dazu kommt noch das Papierarchiv Mundaneum in Mons aus dem Jahr 1895, das seit Mai 2014 als Unesco-Dokumentenerbe zum »Gedächtnis der Menschheit« zählt. Es umfasst unzählige Dokumente aus allen Wissensgebieten und Epochen, Le Monde gab ihm den Titel »Google in Papierform«.

13: Parteien im Föderalparlament (Legislaturperiode 2014 / 19). Platzierung laut WHO im weltweiten Wirtschaftsleben – sowohl bei Export wie Import.

12: Prozent ist das Leben in Belgien teurer als in Deutschland.

11: Zahl der Grand-Slam-Siege im Tennis (vier von Kim Clijsters, sieben von Justine Henin).

Zahl der Universitäten (6 flämische, 4 wallonische, 1 in der Deutschsprachigen Gemeinschaft). Dazu viele Hochschulen, Kunsthochschulen, theologische Fakultäten und das Europakolleg in Brügge.

Die weltweite Platzierung im Ranking Anteil der Stadtbevölkerung (97,9 Prozent; als Städte gelten Orte mit mehr als 5000 Einwohnern). Ein enorm hoher Wert, abgesehen von Stadtstaaten wie Monaco oder Gibraltar (100 Prozent), der mit Abstand höchste in Europa (Deutschland: Platz 65 mit 75,3 Prozent). Es gibt in Belgien also sehr wenige Dörfer. Sie haben zusammen nicht mal 250 000 Einwohner. Das lässt sich unterwegs spüren: mit weiten leeren Landschaften zum Genießen.

10: Provinzen – sehr paritätisch: 5 flämische, 5 wallonische. Nobelpreise – 4 Frieden, 1 Literatur, 1 Physik, 1 Chemie, 3 Medizin.

9,5: Prozent verdienen Frauen weniger als Männer (Deutschland: 13,4; Bestwert in Europa: Luxemburg mit 8).

8: sam mit der 8 muss man sein, der wichtigsten Kugel beim Lochbillard. In Belgien werden 80 Prozent der Billardkugeln weltweit hergestellt.

7: Städte über 100 000 Einwohner. Neben Brüssel (1,19 Millionen) und Antwerpen (517 000) sind dies: Gent, Charleroi, Lüttich, Brügge und Namur.

Philippe (seit 2013) ist König Numero 7.

6: Schokoladenkonsum in Kilogramm pro Einwohner pro Jahr. Das ist Weltrekord vor der Schweiz mit 5,7 (Deutschland 4,3). Damit isst jeder Belgier statistisch jeden Monat etwa zehn Tafeln Schokolade.

5: Ranking weltweit bei der Zahl der Suizide (Deutschland: Platz 22),

Ranking in der Nutzung von Atomenergie zur Stromerzeugung (ca. 40 Prozent),

Zahl der Nachbarländer bis 1919. Da existierte noch der Zwergstaat Neutral-Moresnet im Grenzgebiet bei Aachen und bildete auf dem Vaalserberg (siehe 694) mit den Niederlanden, Belgien und Preußen ein:

4: -Ländereck.

Zahl der Nachbarländer heute (Frankreich, Niederlande, Deutschland, Luxemburg).

3: Schlachtschiffe,

offizielle Landessprachen,

Farben auf der Staatsflagge (schwarz-gelb-rot, nicht schwarzrot-gelb; dazu quergestreift).

2: Anzahl der 3-Sterne-Restaurants.

Anzahl Belgier im Weltall (Dirk Frimout, Frank de Winne).

Anzahl der Autobahnringe um Brüssel. Wegen Dauerverstopfung wollen viele mindestens weitere 2 dazu. Alternative: weniger Autos.

1: Königshaus (König z. Z. Philippe), ehemaliger IOC-Präsident (Jacques Rogge), angebliches uneheliches Kind des Exkönigs Albert II., belgische Südpolstation, deutschsprachige Tageszeitung (Grenzecho, Eupen), häufigster Nachname (Peeters), häufigster Vorname weiblich (Emma), männlich (Noah), in Brüssel (Mohamed in allen Schreibweisen), einmaliger Radler (Eddy Merckx), einmaliger gelegenheitsgedopter Radler (Eddy Merckx), Position der Fifa-Weltrangliste (2015 / 16 monatelang), olympische Winter-Goldmedaille (1948, Eiskunstlauf Paar), Sieg bei European Song Contest (1986, Sandra Kim; dazu weitere 23 Top-ten-Platzierungen), Geschlecht ausreichend für eine Ehe (für Homosexuelle seit 2003 möglich, seit 2006 uneingeschränktes Adoptionsrecht).

0: Siege in der Champions League, große Fußballtitel Nationalelf, Rudi Völler, Filialen Aldi Süd, Moleküliums, Kolonien mehr, Höhe von Ostender Normalnull in Metern und Zentimetern, wallonische Küste in Kilometern. Weitere Ideen des Autors.

Deftigkeit im Dasein – auf der Suche nach belgischer Identität

Absurdistan und Chaosstaat oder ein Vorbild für Europa? Auf der Suche nach der Identität eines angeblich so zerrissenen Landes – abgewogen vom Eupener Schriftsteller Freddy Derwahl bei Rotwein und den womöglich besten Pommes Frites des Planeten

»Also, Belgien ist eine wunderschöne Stadt und ein herrlicher Ort – großartige Gebäude.«

(Gebäudebauer Donald Trump, zur Zeit US-Präsident)

Freddy Derwahl stellt gleich mal klar: »Ich bin leidenschaftlicher Belgier mit Haut und Haar.« Derwahl, Jahrgang 1946, Romanschriftsteller, Essayist und Journalist, soll Auskunft geben, wie Belgien tickt und abschätzen, was andere gesagt haben. Wir sitzen im Wohnzimmer seines alten Bauernhauses am Stadtrand von Eupen, ein Glas Rotwein in der Hand. Bis unter die dicken Deckenbalken ist das Zimmer voll mit Büchern, vielfach historische, wie es sich für einen Schriftsteller gehört, der Romane und Erzählungen geschrieben hat, die in verschiedenen Epochen seines Landes spielen.

Herr Derwahl, was ist so toll an Belgien? Die Antwort kommt sofort: »Das Bukolische, das Leichte, Lebensart und Lebensstil, mit dieser großen Deftigkeit im Dasein: Freiheit, Lebendigkeit, Revolution.«

Fragt man Deutsche, was ihnen zu Belgien einfällt, kommt nichts von Deftigkeit und Revolution, sondern meist die üblichen Klischees: Fritten, Bier, Schokolade und die Sache mit den Flamen und Wallonen, Sprachenstreit genannt. Belgien ist irgendwie anders, sagen viele. Anders als? Als viele andere. Und wie genau anders? Tja, also … Weil Belgien so unüblich frei ist von Nationalstolz, arm an gemeinsamen Symbolen und Folklore, an Mythen und Helden der Vergangenheit, bedient es schnell Vorurteile wie: gesichtslos, ohne Spezifika, irgendwie seltsam. Anders halt.

Belgien ist ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht hochkompliziert: sprachlich, historisch, kulturell. Und so gibt es zahllose kluge Thesen und auch bunt-schrille Texte, vor allem aus Belgien selbst, wie das Land funktioniert, was an ihm so besonders ist. Die Erklärungen sind oft so komplex wie auch widersprüchlich: Sie lobpreisen, argumentieren, vergleichen, verspotten, auch mit saftiger Selbstironie. Freddy Derwahl soll an diesem Abend einordnen, abschätzen, zustimmen, ergänzen oder dagegen argumentieren.

Beginnen wir an der Grenze: Alice Smeets, junge Starfotografin aus Eupen, sagte einmal, an Belgien liebe sie die Nähe zu anderen Sprachen und Kulturen. »Diese Mischung aus deutscher Wesensart und die Herzlichkeit wallonischer Kultur, zielstrebig sein und immer gelassen.« Es gebe im belgischen Grenzgebiet »viel Wärme im Miteinander«, an der deutschen Grenze merke man es sofort, dass die Menschen etwas kälter würden. Derwahl nickt: »Sehr gut beobachtet. Als ich in den 1960er Jahren mit dem Bus aus Eupen immer zur Arbeit nach Aachen gefahren bin, standen die Deutschen an den Haltestellen brav in Reih und Glied, in ihren uniformen grauen Mänteln. So anders, so genormt, so gewollt und prätentiös.« Auch die deutschen Zöllner seien immer »so korrekt und obrigkeitsfixiert gewesen«. Zur Sicherheit will sich Derwahl wie alle anderen hier klar abgrenzen: »Niemand darf sagen, die Menschen in der Deutschsprachigen Gemeinschaft sind deutsch. Wir bleiben in heiterer Weltstimmung deutschsprachige Belgier und genießen das.« Und er fügt hinzu, alle seine Kinder sprächen vier Sprachen. »Als einigermaßen sprachgewandter Belgier galt und gilt man in Aachen schon als polyglotter Exot.« Er sagt das mit unüberhörbarem Stolz.

Die einen nennen Belgien spießig, muffig, dumpf, hinterwäldlerisch, manchmal schmuddelig, vielleicht sogar korrupt, ein ganzes Land als Sinnbild für tiefste Provinz, zusammengepuzzelt aus Widersprüchen. Andere lieben Belgien genau wegen solch unperfekten Charmes. Nichts funktioniert, aber das richtig. Und wenn man mal wieder etwas nicht versteht, sagt man: Tja, ist halt dieses belgische Absurdistan. Finales Argument: Das Land verstehen ja nicht mal die Belgier selbst. Und schon ist man als Außenstehender aus dem Schneider und braucht sich nicht um nähere Erklärung bemühen.

Freddy Derwahl ist unwohl bei solchen Zuschreibungen. Er überlegt einen Moment und schüttelt den Kopf, während hinten im Hof ein paar Hühner gackern und im Gehöft gegenüber einer der vier Esel iat. Nein, das Land sei »zwangsläufig kompliziert, aber deswegen sind wir Belgier nicht verrückt oder Chaoten. Wir sind ein buntes, vielfältiges Gebilde auf intensiv kleinem Gebiet.« Auch Absurdistan gefällt ihm nicht. »Das sind immer diese einfachen Bilder, diese Klischees, die über Belgien in jeder Sommerreportage zirkulieren.« Gerade die Deutschen maulten oft ahnungslos über Belgien: Ein Kuriosum voller Widersprüche, sagten sie, nichtssagend, ohne Identität, und dann kommt noch Dutroux als Stichwort. Das nerve einen Belgier mit der Zeit. Ihm gefällt es deutlich besser, wenn deutsche Besucher einigermaßen unbefangen über Alltäglichkeiten staunen. Wie diese Kölnerin, die kürzlich in Sint Truiden war. Sie hatte gesagt: »Ich habe nur dagestanden und die Bauarbeiter beobachtet, wie sie die Leitungen unter der Straße verlegten. Das wirkte alles seeehr südländisch, ich konnte mich gar nicht sattsehen an dem Durcheinander. Und in der Innenstadt alles ganz schnieke. Echte Kontraste.« Ja, sagt Derwahl, das seien durchaus »kennzeichnende Detailbeobachtungen«.

Einer der pointiertesten Denker über sein Land ist der Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael, Autor des Buches Das belgische Labyrinth. Er nennt sein Land »eine Ansammlung, ja einen unentwirrbaren Knoten von Paradoxien«. Für ein Beispiel blickt er weit zurück. »Belgien ist älter als Belgien.« Seit 1585 teilen sich Flamen und Wallonen, lange bevor sie mal Belgier wurden, dieselben wechselnden Besatzer: Spanier, Habsburger, Franzosen, schließlich die Holländer. Das schweiße unbewusst enorm zusammen, sagt Istendael. Mit dem Geburtsjahr 1830 sei das Land längst ein Senior unter den Staaten Europas, älter als Deutschland, Italien, Polen und viele andere. »Ein Belgier will nicht sichtbar sein. Diskretion ist eine Tugend besetzter Völker.« Das gelte es zu rühmen. Und er fragt pointiert: »Wundert es Sie also, dass nichts einem Flamen mehr gleicht als ein Wallone?«

»Einverstanden«, sagt Freddy Derwahl, »nur Diskretion würde ich spezieller ausdrücken. Eine Mischung aus Lebensklugheit, Weitsicht, stillem Genießen. Und abwarten. So ein bisschen wie in Köln: et kütt wie et kütt.« Einspruch: Der Kölner ist laut. Wir einigen uns auf: Der Belgier ist so was wie der stille Kölner. »Aber still ist man in Belgien nur abgesehen von den Festen. Da wird gesoffen bis zum Umfallen. Auch Brel, der stille melancholische Mann? Von wegen: Manche seiner Chansons sind Schreie.«

Geert van Istendael glaubt: »Einen patriotischen Belgier wird man nicht mal mit der Lupe finden können.« Das klingt weise: Ist Postpatriotismus nicht ein Wert an sich? Und Belgien damit, ohne nationalen Schnickschnack, womöglich seiner Zeit voraus? Aus sich heraus multikulti, weltoffen, vielseitig, vorbildlich liberal im besten Sinne. Klinge gut, sagt Derwahl, aber ein wenig möchte er doch dazwischen grätschen: Am Nationalfeiertag 21. Juli oder am Waffenstillstandstag zeige Belgien durchaus Patriotismus. Dann hängen auch überall die belgischen Fahnen. Das werde richtig gefeiert.

In Belgien, sagen auch zugezogene Deutsche immer wieder, lebt es sich entspannter, lebensgenießerischer, hektikfreier, salopper, toleranter, weniger getrieben, unpünktlicher auch. Gelobt wird immer wieder eine landestypisch unfassbare Geduld. Mal fünf gerade sein lassen, das sei typisch und besonders reizvoll für Deutsche mit ihrer Tüchtigkeit und Ordnungsliebe. Der deutsche Historiker Herbert Ruland, der seit gut 40 Jahren in Belgien wohnt und mittlerweile auch belgischer Staatsbürger ist, sagt mit hörbarer Freude: »Hier ist es nicht so schrecklich geordnet wie in Deutschland. Im Alltag galt und gilt: Wenn du hier keinem auf den Schlips trittst, lassen sie dich in Ruhe. Es ist nicht so überbürokratisiert, dirigistisch. Die Dinge werden nicht so genau genommen, so kontrolliert. Belgien ist angenehm schminkefrei, individualistisch und sehr spontan.« Manchmal komme ihm seine zweite Heimat vor »wie eine späte Karikatur auf den preußischen Obrigkeitsstaat«. Freddy Derwahl lächelt. »Das ist richtig schön.«

Freddy Derwahl will mir noch mehr Bücher über Belgien zeigen. Wir ziehen um nach oben. Das ganze Haus wirkt wie ein riesiger Privatflohmarkt: Überall hängen Bilder und Stiche an den Wänden, alles steht voll, die Garderobe biegt sich von Mänteln und Jacken. Über enge Holzstiegen geht es in Derwahls Büro. Wow! Das sind erst mal Büchermassen. Dagegen ist das Wohnzimmer unten ein kleiner, geordneter Zettelkasten. Und alles in einer herrlicher Unordnung, die nur ihr Urheber durchblicken kann. »Könnte ich mal«, sagt Derwahl, »du meinst ja immer, du hast alles noch mal nötig. Irgendwas wirst du noch mal nachgucken wollen, eine Kleinigkeit, ein schönes historisches Zitat. Irgendwo ist hier ein Buch von Cees Nooteboom, darin ist eine Reise durch Ostbelgien beschrieben … Das suche ich gerade …« Derwahl guckt in alle Richtungen. »Nee, ich finde das nicht wieder.«

Mit dem belgischen Historiker Patrick Weber war Derwahl kürzlich aneinander geraten. Weber hatte anerkennend gesagt: »Dieses Land ist Kafka.« Derwahl schrieb darauf: »Das tönt wie eine Todesnachricht und würde auf heftigen Widerstand des dunklen Prager Dichters stoßen. Seine Abgründe führten in Seelentiefe, die belgischen ertrinken in einem Glas Bier.« Warum so heftig? Derwahl nippt am roten Wein. »Man darf den Seelenschmerz nicht verharmlosen, Kafka war in dunklen Regionen der Einsamkeit, der Depressionen, mit sehr existenzieller Tiefe. Das passt doch nicht zu uns. Belgien ist ein sehr lebenslustiges Land. Der Kafka-Vergleich ist völlig daneben.« Im Gegenteil: »Wir haben uns über die Jahrhunderte von all den Durchmarschierern, ob den Deutschen, Habsburgern, Spaniern, immer das Beste abgeguckt und behalten: Die flämische Dorfkirmes oder die Braukunst der Trappisten tief in den Ardennen. Zwischendurch haben wir die Fritten erfunden. Und das Bukolische bezieht sich auf die burgundische Zeit.«

König Baudouin hat einmal in den 1960er Jahren über sich zu einem Vertrauten gesagt: »Der König ist krank von Belgien.« Ein Herrscher leidet an seinem Land – auch nicht gerade alltäglich. Damals, als der Sprachenstreit richtig tobte, ist Baudouins Konvoi sogar mal ganz in der Nähe von Eupen auf der Autobahn von wütenden wallonischen Extremisten angehalten und bedroht worden. Voran gingen die Happart-Brüder, die sich gegen die flämische Enklave Voeren auflehnten. Derwahl weiß: »Später bekamen die Brüder gutdotierte Posten im EU-Parlament, einer wurde auch Minister im wallonischen Parlament.« Problem belgisch still gelöst. Gut befriedet. Und keine öffentliche Empörung. Baudouin konnte gesunden und blieb bis 1993 König.

Duzen ist üblich in Belgien, auch im Geschäftsleben. Man konsumiert leichtherziger, sagen Zugezogene oft, in Deutschland will man sich immer dafür rechtfertigen, was man gekauft hat. Meist lässt man den anderen einfach, was aber Ausdruck von Desinteresse sein kann: Denn gleichzeitig gilt der Belgier als oberflächlich. Hoe gaat het met jou? erwartet das gleiche unverfänglich gut, prima als Antwort wie das amerikanische How are you? Deutsche in Belgien vermissen oft die ernsthafte Auseinandersetzung unter engen Freunden statt fröhlicher Unverfänglichkeit, zumindest in Flandern. Freddy Derwahl nennt das lieber Lässigkeit. »Die äußert sich in der Kleidung und im Auftreten. Der Schnitt ist gleich sofort ab Grenze zu sehen, augenblicklich.« Belgier sind reservierter und leben deutlich lieber in der Familie als im Freundeskreis, am besten in der Großfamilie über alle Generationen. »Die Bande des Blutes«, hat die deutsche Autorin Marion Schmitz-Reiners vor Jahren mal geschrieben, »sind in Belgien dicker als das Wasser der schwermetallbelasteten Flüsse.«

Und das katholische Belgien hat offenbar das Sünde-Sühne-Prinzip weitergedacht: Nicht zuerst Unrechtes tun und das schlechte Gewissen dann wegbeten, sondern die Sünde, die Grenzüberschreitung, sich ganz pragmatisch gleich erlauben. Derwahl schluckt kurz. Und grinst. Der Katholik und Klosterkenner, der viele Mönche nicht nur in Belgien kennt und das Abteileben bewundert, findet eine solche Zuspitzung nicht falsch, wenn auch übertrieben. »Wir waren schon immer muntere sündige Katholiken. Mit diesen zugebundenen Niederländern, das konnte nicht gutgehen. Sich nie gängeln lassen, das ist belgisch.«

Die Wallonen trinken statistisch mehr Wein, die Flamen mehr Schnaps. Bier eint alle. Geert van Istendael: »Alle Belgier trinken Bier, als koste es sie das Leben.« Niemand würde je einen solchen Satz bestreiten. Derwahl auch nicht, auch wenn er lieber Wein trinkt. Darauf einen Schluck. »Ich weiß aber, wo ich in der Stadt ab und zu mein Trappistenbier bekomme. In der richtigen Kneipe. Mit der passenden Käsesorte dazu. Aber jetzt am Abend, da soll ja ein Roter gut sein fürs Herz.« Santé! Aus der Küche kommen feine Wölkchen lockenden frischen Fettgeruchs.

Der flämische Autor Rik Vanwalleghem schrieb einmal über die belgische Identität, Flamen seien genauso wenig Niederländer wie Wallonen Franzosen sind. Freddy Derwahl fährt sich durch den weißen Fünftagebart – und widerspricht: »Auf die Flamen trifft das zu, da sind vor allem die großen religiösen Unterschiede zwischen den katholischen Flamen und dem puritanischen Protestantismus in den Niederlanden.« Bei den Wallonen aber, vermutet Freddy Derwahl, hätten viele nichts gegen einen Anschluss an Frankreich. »Käme es zum Schwur, ich würde mich über kein Ergebnis wundern. Als François Mitterand einmal in Lüttich war, ist der von hunderttausenden wie im Rausch empfangen worden. Das wäre undenkbar gewesen mit Beatrix in Antwerpen.«

Elio Di Rupo ist seit Jahrzehnten eine vielfach schillernde Figur der belgischen Politik. Der Sohn einer italienischen Gastarbeiterfamilie war erst lange wallonischer Ministerpräsident, dann zeitweilig Premierminister ganz Belgiens (2011 – 2014), ist seit 1999 einflussreicher Chef der wallonischen Sozialisten, dazu seit 2001 Bürgermeister von Mons. Und er war einer der ersten bekennenden Schwulen weltweit in einem derart hohen politischen Amt. Sein Outing in den späten 1990er Jahren, als etwa Guido Westerwelle noch lange mit camouflierender Beistelldame seine repräsentativen Termine absolvierte, wurde in Belgien nicht weiter thematisiert oder gar skandalisiert. In Belgien mache man um das Privatleben von Prominenten eben nicht so viel Aufhebens, sagt Freddy Derwahl, zudem gab es in Belgien kein Pendant zum deutschen Skandalparagrafen 175. So ist es eben, und so ist es gut. Folglich (oder in diesem Fall: volklich) haben die Menschen darüber geschmunzelt, »vielleicht noch ein paar Bemerkungen zum überaus smarten, immer modisch gekleideten und gewinnend sympathischen Mann mit der roten Fliege gemacht. Aber das war es auch.«

Ähnlich wenig Aufregung in der Öffentlichkeit gibt es um das angeblich uneheliche Kind des früheren Königs Albert II. (1991 – 2013). Naja, interessant schon, heißt es, aber kann ja jedem passieren. Erst recht wenn der König, heute weit über 80, eben ein Frauenheld war, wie man das früher nannte. Auch egal. Seit Jahren will Delphine Boël, 1967 geboren, vor Gericht in Brüssel klären lassen, dass Albert ihr Vater sei. Freddy Derwahl sagt, es könne niemand leugnen, dass sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten aussieht. Richter denken anders. Zwar gelang Boël per DNA-Test der Nachweis, dass ihr angeblicher Vater nicht ihr leiblicher Vater ist. Da dieser es aber, so das Gericht in seiner kuriosen Begründung Anfang 2017, rechtlich weiterhin sei, musste die Klage auf Feststellung von des Exkönigs Vaterschaft als unzulässig zurückgewiesen werden. In der Öffentlichkeit plaudert man belustigt über die Justizposse und interpretiert Alberts öffentliche Andeutungen von gelegentlichen Eheproblemen mit Königin Paola vor vielen Jahren als diskretes, indirektes Eingeständnis. Das reicht der wenig voyeuristischen Öffentlichkeit. Freddy Derwahl wundert sich nur, dass der Frau Boël niemand »ein paar Millionen zugesteckt hat, zumal ja sicher auch erbliche Fragen dahinterstecken«.

»Der Belgier beugt sich jeder Autorität, ist im Grunde des Herzens aber überzeugter Anarchist.« Das hat Marion Schmitz-Reiners nach Jahrzehnten in Antwerpen einmal geschrieben. Freddy Derwahl sagt, er kenne und schätze Schmitz-Reiners, »aber das ist nicht richtig. Sich beugen, nein. Belgier finden immer neue Wege, Autoritäten aus dem Weg zu gehen. Der Belgier ist gerade kein Knecht, sondern ein Schlitzohr. Und Anarchie ist eine Legende, damit mystifiziert man nur das lässige Dasein. Höchstens heitere Anarchie ist passend, damit es sich nicht nach Volksfront anhört.« Aber der Begriff reizt viele, auch Herbert Ruland (siehe Kapitel »Dieses Land ist die reine Wundertüte« – ein Interview mit Herbert Ruland): »Immer, wenn du meinst, das Land zu verstehen, passiert etwas völlig Neues, Unerwartetes. Das Land ist die reine Wundertüte, manchmal ein Stück Anarchie in Vollendung.«

Ist nicht eher Derwahls Büro Anarchie in Vollendung? Da lachen wir beide. »Wenn ich Geld hätte, würde ich den ganzen Stall umbauen wollen. Ich bräuchte da keine Tapete, nur Bücher an den Wänden.« Die Hühner und Enten würden staunen. Derwahl ist mit morbus schriftstellerensis infiziert: »Ich kann ja nichts wegwerfen. Bücher schon mal gar nicht. Bücher sind vertraute Freunde, ich streichle manchmal ihre Rücken.« Dicke Bände stapeln sich hier: Folklore in Belgien, oder Die spanische Welt. Was nicht in die Regale gepresst werden konnte, ist in durchsichtige Plastikwannen verteilt. Beim Belgischen Rundfunk in Eupen war Derwahl lange Kulturredakteur. »Ich wurde beschossen von den deutschen Verlagen. Manche haben mir unaufgefordert ihr ganzes Jahresprogramm geschickt.« Kubikmeterweise bedrucktes Papier. »Ich liebe Bücher. Aber irgendwann ist die Sache explodiert.« Die spirituelle und theologische Literatur sei auch zu viel des Guten. »Inzwischen weiß ich, dass die Bibel und einige Kirchenväter alles sagen.« Immer neue Katzen und Hunde streichen einem bei Derwahls um die Beine. Und Gattin Mona fragt von unten, ob das okay sei in einer Viertelstunde?

Die Schriftstellerin Rosine De Dijn aus Antwerpen hat einmal herumgefragt, wie sich Deutsche unter Belgiern (so ihr Buchtitel) so fühlen. Zu Wort kommt der Antwerpener Modedesigner Prof. Stephan Schneider, ein gebürtiger Duisburger, der sich an seine ersten Auftritte vor über 20 Jahren erinnert. Die gelangen gut, »vielleicht weil ich mich sehr typisch deutsch verhalten habe …« Bitte? »… indem ich versuchte, mich so gut wie möglich nicht deutsch zu geben.« Also erst mal im Tarnkappenmodus: Deutschsein heiße die Unsicherheit mitzutragen, tendenziell erst mal abgelehnt zu werden, und also ist man nicht, wie man ist, sondern gibt sich große deutsche Mühe, undeutsch zu erscheinen. Und sein Sujet, die Mode? Viel lässiger in Belgien, sagt Schneider. Die Deutschen denken pragmatisch: Lieber sei ihnen ein Kleidungsstück, das praktisch sei und gut waschbar, zudem der Freundin gefällt, als es einfach selbst nur himmlisch schön zu finden, einmalig gewagt oder bezaubernd elegant. Und dann kommt auch das A-Wort wieder: »In Antwerpen herrscht eine Art bürgerlicher Anarchie, die einen nicht einengt.« Derwahl lächelt, weil der Begriff wieder auftaucht. »Französisches Savoir-vivre gepaart mit deutscher Ordentlichkeit«, so Schneider, »das ist in etwa das Lebensgefühl hier.« Ansonsten sei die Stadt »herrlich altmodisch«. Sagt der Modemacher.

Wallonen gelten, so die Klischees, als weniger raffiniert als Franzosen, auch weniger formell. »Insofern«, erklärt die Psychoanalytikerin Susann Heenen-Wolff, gebürtige Deutsche mit Lehrstuhl in Löwen, »sind sie ein bisschen handfester und zugänglicher als die Franzosen. Eine gute Mischung aus germanischer und romanischer Mentalität.« Das Lässige mag auch der protestantische Pastor Jürgen Baumgart, gebürtig aus der Lausitz, der nach der Wende aus Ostdeutschland nach Malmedy zog. Ihm gefällt »das Provinzielle, manchmal Kleingeistige und Kleinkarierte, wie das Unperfekte, die Straßenverhältnisse, marode Wohnviertel und eine gewisse Sorglosigkeit«. Und die paradiesische Ruhe in den Ardennen: Gerade 300 Menschen betreut er in einem Gebiet bis zur luxemburgischen Grenze (in ganz Belgien gibt es gerade mal 80 000 Protestanten). Aus dem Überwachungsstaat, dessen Stasispitzel über ihn 3000 Seiten Dokumente fertigten, in den Laisser-faire-Staat.

Auskunft gibt auch Isabelle Weykmans, Kulturministerin der Deutschsprachigen Gemeinschaft seit 2004 (damals war sie mit 24 die jüngste Ministerin Europas). Belgien in drei Sätzen? Das sei »ein Ding der Unmöglichkeit«, sagt sie, »alle Belgier haben eines sicher gemeinsam: große Offenheit und Interesse für den anderen.« Um mit Inbrunst zu ergänzen: »Wir sind Kosmopoliten auch in der Provinz.«

Freddy Derwahl überlegt einen Moment: »Ja, die Richtung stimmt. Kosmopolitisch ist mir aber etwas übertrieben. Kosmopoliten sind Weltbürger. Ganz so weit sind wir zumindest in Ostbelgien noch nicht. Dafür laufen hier auch zu viele Dummköpfe herum.« Er lässt offen, ob er Politiker meint oder einfache Leute. Oder beide. Derwahl empört sich plötzlich. »Wir dürfen nicht in romantisierenden Belgizismus verfallen, um Effekte wie im Zirkus Roncalli zu erzielen. Wir sind doch keine elf Millionen Clowns. Da fehlt mir jedes Verständnis. Da fehlt mir Präzision. Das ist diese Belgienlegende, vor allem in den Medien in Deutschland. Das müssen wir entmythologisieren. Da werden immer nur Kontraste, Gegensätze, Pointen hintereinander gesetzt.« Ist es der Hunger, der ihn plötzlich so mürrisch macht? »Unser Dasein hat Ursprünge und Motive, geografisch, historisch, geopolitisch, die Einflüsse der Nachbarländer.«