Buchcover

Leo Frank-Maier

Die Sprechpuppe

SAGA Egmont

Der Libysche Geheimdienst wird mich nicht gleich umbringen wegen dieses Buches.

Wie ich glaube, ist der Libysche Geheimdienst nicht besser und nicht schlechter als die anderen Geheimdienste dieser Welt. Eher schlechter.

Zur Beruhigung aller Geheimdienste sei also festgestellt: Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden.

Mit Ausnahme so bekannter Figuren wie Kissinger oder Makarios oder Kkadhafi. Nennungen ihres Namens in einem zeitgeschichtlichen Roman müssen sich solche Herren schon gefallen lassen. Sie sind selber daran schuld. Sie sind eben berühmt.

Im Mai 1976

Der Verfasser

Kleine Hügel, zugedeckt mit weißen Tüchern. Viereckige Nummerntafeln auf jedem dieser kleinen Hügel. Der Inspektor führte ihn zur Nummer 34. Er hob eine Handtasche auf, ebenfalls etikettiert mit der Nummer 34. John kannte die Tasche. Er hatte sie ihr gekauft, damals in Paris. Ein sündteures Stück.

»Ja«, sagte John.

»Der Reisepaß ist drinnen«, sagte der Inspektor, »deshalb nehmen wir an« … Er zuckte mit den Schultern.

»Ja«, sagte John.

»Sorry«, sagte der Inspektor, »tut mir leid, es muß sein.« Er hob das weiße Tuch an einem Zipfel, John sah Blut und Haare, rötliche Haare. Er schloß die Augen.

»Ja«, sagte er. Merkwürdig, seine Stimme klang ganz ruhig.

»Nummer 35«, sagte der Inspektor. »Sorry, tut mir leid, wir nehmen an, Ihre Tochter. Sie war …«

»Bitte nicht«, sagte John.

»Sie war in den Armen Ihrer Frau«, sagte der Inspektor. »Ich meine, wir fanden die Körper zusammen.«

»Ja«, sagte John.

»Die Effekten«, sagte der Beamte. Er deutete auf ein Bündel Zeug. Taschen, Schuhe, Kleidungsstücke.

»Nach der Identifizierung können Sie die Effekten haben.«

»Bitte nicht«, sagte John. Er drehte sich um. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen einen Gegenstand.

»Heute geh’n wir in den Zoo«, krächzte etwas.

John zuckte zusammen. Der Inspektor legte ihm die Hand auf die Schulter. »Da sind alle Kinder froh«, krächzte es weiter.

»Eine Sprechpuppe«, sagte der Inspektor. »Eigenartig, daß kleinere Gegenstände oft unversehrt bleiben.«

John sah fassungslos auf eine kleine, blonde Plastikpuppe. Ein Bein fehlte.

»Von meiner Tochter?« fragte er.

»Nummer 35, ja«, sagte der Inspektor.

John Berger hob die Puppe auf, steckte sie in seine Manteltasche.

Der Inspektor zuckte wieder mit den Schultern.

»Kann ich jetzt gehen?« fragte John.

Der Inspektor führte ihn hinaus. John stieg über die kleinen weißen Hügel. Er drehte sich nicht um.

Der 7. Oktober 1973 war ein Sonntag, und in Athen war das Wetter mild. Die Sonne schien freundlich warm, die Menschen auf den Straßen genossen den Spätsommer.

John Berger, australischer Staatsbürger, 46 Jahre alt, wußte nicht, daß Sonntag war. Auch das Datum und den Monat wußte er nicht. Seit Tagen hatte er sich nicht gewaschen und rasiert. Er hatte kaum gegessen, aber viel getrunken und ununterbrochen geraucht. Er ging durch die Straßen, und die Kinder hörten auf zu lachen, wenn sie ihn sahen. Er trug einen viel zu warmen, dunklen Mantel, den Kragen hochgestellt. Seine linke Hand in der Manteltasche umklammerte eine Kinderpuppe, der ein Bein fehlte. In seiner rechten Manteltasche hatte er seinen Reisepaß und ein Bündel Geldscheine. Wenn er nachts in den Kneipen saß und trank, wurde er ständig von Polizeistreifen kontrolliert. Das war nicht verwunderlich, wenn man so aussah wie er. Dann zeigte er seinen Paß und sein Geld, und die Polizisten ließen ihn in Ruhe. Er war ein ordentlicher, ein rechtschaffener Mensch, — wenn er einen verwahrlosten Eindruck machte, war das seine Sache. Nichts lag gegen ihn vor.

An diesem Sonntag kam John Berger zur Erkenntnis, daß er Menschen töten würde. Daß er ein Mörder werden würde.

Inge war also tot. Seine Frau war tot und auch seine Tochter, sein kleiner Liebling. Zwei Tage war die Maschine auf dem Rollfeld gestanden, ganz weit weg am unteren Ende, Polizei und Militär hatte alles abgesperrt und mit den Terroristen verhandelt. Dann knallten plötzlich ein paar Schüsse, und die Maschine explodierte. Ein Geiseldrama, sagten die Radiosprecher.

John Berger hatte die Schüsse gehört und den dumpfen Knall der explodierenden Maschine, er sah den roten Feuerschein am Horizont, und ein paar Menschen neben ihm schrien hysterisch. Es waren Menschen, die wie er auf ihre Angehörigen gewartet hatten, auf den Flug CA 344 von Rom nach Athen, planmäßige Ankunft 17.30 Uhr Ortszeit.

Das Flugzeug war auch gelandet, rollte aber nicht zum Flughafengebäude, sondern blieb am hinteren Ende der Landebahn stehen. Als die Sirenen der Polizeifahrzeuge und der Feuerwehr aufheulten, schrie alles durcheinander, Besatzung und Fluggäste wären Geiseln einer palästinensischen Befreiungsorganisation, der Gruppe »Roter Oktober«. Man würde verhandeln.

John Berger hatte das Gefühl, das Ganze ginge ihn eigentlich nichts an. Er war von Kuweit nach Athen gekommen, um hier seine Familie zu treffen. Zwei Jahre hatte er in Kuweit gearbeitet, als Chemiker in einer Ölraffinerie. Er hatte gutes Geld verdient, und sein Vertrag war jetzt zu Ende. Nun wollte er einmal Urlaub machen, in einem Badeort an der Straße nach Saloniki; das Hotelzimmer war gebucht und anbezahlt. Was gingen ihn die Palästinenser an und der »Rote Oktober«. Er hatte Inge sechs Monate nicht gesehen, und die Kleine war sicher wieder ein Stück gewachsen.

Nun waren sie also tot, und in den ersten Tagen fiel es ihm schwer, das alles zu glauben.

Wieso lebte er überhaupt noch, und was tat er in dieser Stadt, in der er niemanden kannte als ein paar Polizisten, die wissen wollten, was mit den Leichen zu geschehen hätte. John wußte es auch nicht, ihm war alles gleich, er nickte zu allem, füllte eine Menge Formulare aus, die Beerdigung fand in einem Friedhof in der Nähe der Akropolis statt. Die Polizisten zeigten es ihm auf dem Stadtplan, und John nickte wieder, ging aber nicht hin.

Das schmerzhafte Dröhnen in seinem Kopf wurde leichter und leiser an diesem Sonntag. Der Chemiker John Berger würde keine Analysen mehr machen, kein Reagenzglas mehr anrühren, nicht einmal mehr ein Labor betreten. Diese Erkenntnis kam langsam und befreiend. Er würde die Leute vom »Roten Oktober« suchen und finden, er würde sie umbringen, einen nach dem anderen, das war so klar, es mußte so sein. Er lächelte jetzt, als er durch die Straßen ging, ein seltsames Lächeln, irgendwie fremdartig in diesem grauen, unrasierten Gesicht.

In »Helens Bar« im Hafen von Piräus dröhnte die Music-Box, American III stand auf diesem dröhnenden Kasten und daneben in kleinerer Schrift: Wurlitzer. Die Silhouette von Manhattan, natürlich mit der Freiheitsstatue im Vordergrund, war innen beleuchtet. Mit Blaustich und sehr eindrucksvoll. Das Barmädchen blickte mißtrauisch und gelangweilt, als John Berger nach Papier und Bleistift fragte. Sie hatte, weiß Gott, andere Sorgen.

Er mußte seine Gedanken in Ordnung bringen, und das ging nur, wenn er seine Probleme niederschrieb. Bloß in Stichworten. Er war ein hoffnungslos visueller Typ und hatte gerade eine Idee, die er für gut hielt. Aber er mußte die wesentlichen Punkte aufschreiben, sonst war morgen alles wieder weg.

Die Wurlitzer Orgel dröhnte weiter, sie klang ihm, während er schrieb, leiser und leiser und schließlich gar nicht mehr störend, eher angenehm in den Ohren. Er schrieb nicht viel, war aber ganz konzentriert. Zwischendurch trank er seinen Ouzo und wurde mit jedem Glas nüchterner, das gibt es auch.

Fernet Branca stand auf dem Papier, das er da bekritzelte. Natürlich war es ein Rechnungsblock mit Firmenreklame, den ihm das Mädchen da gegeben hatte. Das störte ja nicht. Er dachte eine Sekunde daran, daß er niemals Fernet Branca trank, war ihm zu bitter. Seine Schrift konnte ohnehin nur er lesen. Und das auch nur mit Mühe — am nächsten Tag.

Er schrieb etwa eine halbe Stunde, dann las er den Zettel durch. Er grinste zufrieden. Wozu hatte er schließlich in Chemie Examen gemacht, damals, vor hundert Jahren? Die chemischen Formeln wußte er nur noch zum Teil auswendig. Aber das war jetzt nicht so wichtig.

Als Student hatte er mit diesen Dingern experimentiert. Er wußte, es würde einen Höllenkrach geben. Und viel Rauch, weißen Rauch. Der in den Augen biß wie wilde Ameisen.

John hatte vor einer halben Stunde beschlossen, eine Bank auszurauben. Für seine Pläne brauchte er Geld, viel mehr, als er hatte. Er würde eine Bank plündern, auf seine Art. Kein Blutvergießen, kein Risiko für unschuldige Menschen. Er hatte da so seine eigenen Ideen. Für eine kurze Zeit müßte es klappen, für ein bis zwei Monate, vielleicht drei. Dann würde er die Polizei am Hals haben, das wußte er. Aber er lebte schließlich nur für diese kurze, für die letzte Periode seines Daseins. Und in zwei Monaten würde alles erledigt sein. Eigentlich war er ja schon vor zwei Wochen gestorben. Er ging noch einmal die Liste durch, dann schrieb er darunter: Tonbandgerät. Natürlich, das war schließlich ein wesentlicher Bestandteil seines Planes.

Das Mädchen hinter der Bar gestikulierte. Sie wollte ihren Kugelschreiber wieder zurückhaben. John grinste höflich und gab ihr das Ding. »Evaristo«, sagte er, »danke«.

»You are welcome«, sagte sie. Müde und gelangweilt.

Bei einem frischen Glas Ouzo versuchte er, die Sache noch einmal durchzudenken. Abgesehen von seiner selbstgestrickten Rauchbombe war die Tonbandaufnahme das erste, was er zu erledigen hatte.

Er verlangte eine Zeitung und studierte die Kinoprogramme. Im Athineon wurde »General Patton« gespielt. Ein Film über die Invasion 1944. Gerade das richtige für ihn, viel Knallerei war zu erwarten. Er würde morgen die Geräuschkulisse auf Band aufnehmen, im Kino. Mit voller Lautstärke wiedergegeben, da würden wohl alle auf dem Bauch liegen in der Bank. Wer konnte schon im ersten Schock unterscheiden, daß Maschinengewehrsalven und Explosion nicht »life« waren, wenn der Raum voll von beißendem Rauch war? Wohl niemand. Und das war das Kernstück seines Planes.

Das Lokal war jetzt fast leer, und das Barmädchen betrachtete den schwierigen Gast eindringlich. »Geh schon endlich«, drückte ihre Haltung aus. John trank aus und ging an die Bar. »How much?« fragte er. Er wartete die Antwort nicht ab, warf einen Geldschein auf die Theke. Die Wurlitzer Orgel hatte aufgehört zu spielen. John bemerkte es erst jetzt.

Er hatte keine Lust zu gehen. »A final Ouzo, please«, sagte er. Während er das Glas schwenkte und das Klirren der Eiswürfel genoß, fing er die müden Augen des Mädchens. »Du bist ein braver Kerl«, sagte er auf deutsch.

Der brave Kerl hieß Helene Wannemacher und stammte aus München. Wäre sie nicht so elend blaß gewesen, so grell geschminkt, hätte man sie für ein Bauernmädel aus dem Allgäu oder dem Innviertel halten können. Alles war fest an ihr und rund, und beim Gehen bewegte sie Schultern und Hintern wie ein Mittelgewichtsboxer. Jetzt war sie ehrlich müde, und eine Konversation in ihrer Muttersprache war das letzte, was sie sich wünschte. »It’s closing time, Sir«, sagte sie deshalb.

John nickte und schlürfte seinen Ouzo.

Die letzten Gäste, ein junges Paar, verließen das Lokal. John gab die Zeitung zurück, und das Mädchen steckte sie in eine Art Zeitschriftenständer neben der Registrierkasse. John folgte automatisch ihren Bewegungen, sah die bunten Illustrierten und Wochenzeitschriften und plötzlich das Foto seiner Frau. Er nahm das Blatt aus dem Ständer, es war ein Bildbericht über das Geiseldrama. Er sah sich selber, als er die Polizeistation verließ nach der Identifizierung, dann sah er auch das Bild seiner Tochter.

In seinem Kopf dröhnte es. Er stand auf und murmelte gute Nacht.

Dieses Dröhnen in seinem Gehirn, dieses Geräusch eines startenden Düsenflugzeuges. Dieses irrsinnige Stakkato höchster Töne, Motorengeräusche, die glatt außerhalb des Irdischen zu sein schienen. Ein Düsenmotor in full speed, ist das noch ein Ding dieser Welt?

Helene Wannemacher sah den Mann schwanken und dann steif wie ein Brett zu Boden fallen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Helene Wannemacher war jetzt siebenundzwanzig und schon fast zehn Jahre von zu Hause weg, mit Unterbrechungen natürlich. Eigentlich hätte sie Köchin werden sollen und ging in eine Fachschule. Ihr Vater war Bierfahrer und zwei Mal die Woche besoffen, dann randalierte er entweder im Wirtshaus oder auch daheim, und manchmal mußte die Polizei kommen. Wenn er friedlich war, erzählte er Geschichten von der Deutschen Wehrmacht und wie er Unteroffizier wurde und das Eiserne Kreuz bekam. Helene kannte die Geschichten von klein auf und jedes Jahr wurden sie wilder. Ihre Mutter stammte aus Österreich; sie war eine resolute Frau und keifte den ganzen Tag oder tratschte mit den Nachbarn. Zwei ältere Brüder waren da, die schon zur Arbeit gingen als Lehrlinge in einer Holzfabrik. Sie trugen Lederjacken und kümmerten sich wenig um zu Hause, manchmal blieben sie tagelang weg. Helene wäre sicherlich eine gute Köchin geworden, aber einen Tages lernte sie Harry kennen, einen Besatzungsami, der fuhr einen Buick und hatte die Arme tätowiert. Als die Mutter von Nachbarn von dem Ami erfuhr, gab es einen Riesenwirbel. Der alte Wannemacher verdrosch seine mißratene Tochter nach bester Bierfahrerart und fluchte auf die Scheißamerikaner, daß man es im ganzen Hause hörte. Abends im Wirtshaus erzählte Wannemacher jedem, daß die Amis ein Scheißvolk wären und schuld daran, daß die Deutschen den Krieg verloren hätten. Und er ging früher als sonst heim, um seine Tochter nochmals zu verdreschen, aber das ging nicht mehr, sie war nicht mehr da. Sie war ausgerissen und schon auf dem Wege nach Frankfurt, es hatte sich so ergeben, daß ihr Harry gerade nach Frankfurt versetzt worden war, und eine Weile war sie unauffindbar. Weil sie noch nicht achtzehn war, gab es dann eine Menge Schwierigkeiten mit den Behörden, und auch der tätowierte Harry hatte ziemlich trouble mit der Militärpolizei.

Als Helene dann achtzehn war und ihren Reisepaß bekam, gab es wieder Schwierigkeiten wegen des Heiratens. Zuerst mit den amerikanischen Militärbehörden, die damals noch gegen Massenfraternisierung waren und nicht wollten, daß ihre braven Soldaten reihenweise die deutschen Nazimädchen heirateten. Eine Menge Formulare und Bestätigungen waren nötig. Helene, die damals schon Helen hieß, bestand tapfer unzählige Gesundheitstests und Intelligenztests. Sogar die amerikanische Verfassung mußte sie auswendig lernen. Als sie die Präsidenten der USA wie am Schnürchen hersagen konnte und auch wußte, von wann bis wann jeder im Amt war und welche hervorragenden Leistungen er vollbracht hatte, als sie das alles viel besser wußte als ihr Harry, gerade da wurde Harrys Einheit nach Japan verlegt. Helen blieb zurück mit dem Buick, der erst halb bezahlt war und mit Harrys Versprechen, er würde bald auf Urlaub kommen und sie dann heiraten. Helen wartete und verkaufte in einem Besatzungsladen Coca Cola und Eiscreme. Die ersten Monate erhielt sie aus Japan ein paar 20 Dollarschecks und Ansichtskarten, dann nur mehr Ansichtskarten und schließlich gar nichts mehr.

Dann kam Bill Halley, der war Sergeant bei der Militärpolizei und verschaffte Helen einen Posten am switch-board, in der Telefonzentrale bei den Amis. Helen stöpselte und trennte Leitungen acht Stunden am Tag, und die übrige Zeit verbrachte sie mit Bill, wenn er nicht gerade im Dienst war.

Helen konnte großartig Rollschuhlaufen, sie war bayrische Jugendmeisterin gewesen. Im Sport Center bei den Amis gab es Gelegenheit genug. Dort traf sie auch Mister Laremy, ein big shot in der Ami-Truppenbetreuung, und der bot ihr einen Job in seinem Team an, einen richtigen Vertrag, und Helen mußte nur mit der Crew herumfahren, überall hin, wo amerikanische Soldaten waren, die betreut werden mußten. In der Truppe gab es girl-singers, eine Musikband, einen Zauberer, eine Tanzgruppe, einen Seiltänzer, und Mr. Laremy war nicht nur der Manager, auch Conferencier. Das war gerade zur Zeit, als Bill Halley immer mehr Bier trank und Helen ärger verdrosch als der alte Wannemacher. So zögerte Helen keine Sekunde und ging mit der Truppe auf Tournee und rollschuhte vor begeisterten GI’s, die wie irrsinnig pfiffen und johlten, wenn sie mit ihrer Nummer fertig war. Damals war Helen schon zwanzig.

Mit dem Zauberer ging es dann ganz schief. Er hieß Antonakis, war griechischer Abstammung und konnte Feuer schlucken, Messer werfen und weiße Tauben aus seinem Hut erscheinen und auch wieder verschwinden lassen.

Mit dem Manager Mr. Laremy war er ständig auf Kriegspfad, der Streit ging immer um Geld, um die Gage. Es war in Athen, als die 6. US-Flotte nach einem Nato-Manöver in Piräus vor Anker lag und die Truppenbetreuung auf Hochtouren lief, drei Vorstellungen am Tag, und Helen hatte Blasen an den Fersen vom vielen Rollschuhlaufen. In seiner Heimat fühlte sich Antonakis im Platzvorteil, der Streit war kurz, aber heftig, und die Truppe teilte sich. Mit einer Sängerin, zwei Tänzerinnen, dem Trompeter und Saxophonisten desertierte Antonakis von der Truppe. Er lockte mit einem Privatvertrag in einem Night Club in Beirut, und im letzten Moment desertierte auch Helen, nicht nur wegen der Blasen an den Fersen, nicht nur, weil sie mit Antonakis gelegentlich geschlafen hatte, auch nicht wegen der geringen Bezahlung bei Laremy, sondern einfach, weil sie all die Amis satt hatte, die immer dasselbe redeten, meist tätowiert waren wie ihr Harry und nach dem Ficken jedesmal wissen wollten, ob sie gut waren. Und jeder glaubte, er wäre der Beste. Helen hatte die Amis satt wie jemand, der täglich Kaviar essen muß.

In Beirut im »Chimo Club« wurde es bald klar, daß Helen nicht wegen der Rollschuhe engagiert worden war. Der Direktor, Monsieur Hamsin, brachte Helen die Hausordnung bei. Zehn Prozent der Konsumation, zwanzig US-Dollar für jede halbe Stunde mit einem Gast im Separé. Helen brauchte nicht zu kassieren, sondern nur auf die Rechnung und auf die Uhr zu schauen. Kassieren tat Antonakis; er gab ihr fünfzig Prozent und fluchte jedesmal dabei, als ob er dem Finanzamt Steuern zahlen müßte. Die Rollschuhe konnte Helen verkaufen, und das tat sie auch.

Helen war dreiundzwanzig, als sie die große Liebe ihres Lebens traf, Mehmet Nashashivi. Er war Palästinenser, sein Bruder war in Kuweit ein hohes Tier in einem Ministerium, und der Teufel wußte, woher die Nashashivis ihr vieles Geld her hatten. Mehmet war einfach großartig, er hatte feuchtschimmernde melancholische Augen und einen hinreißenden Schnurrbart, blickte meist müde oder traurig, besonders dann, wenn von Menschen die Rede war, die arbeiten mußten. Er hatte in Paris studiert; Helen konnte nie herausfinden, was eigentlich, immerhin sprach er perfekt Französisch und auch Englisch; der amerikanische Slang, den Helen sprach, irritierte ihn manchmal. Er war ein echter Gentleman, der es nicht duldete, daß sein blondes Kätzchen Helen in einem Club arbeiten sollte. Er brachte sie in seine Villa in den Osten Beiruts, mit Swimmingpool und Garten und lächelte nachsichtig, als Helen meinte, sie wäre im Himmel.

Eines Tages kam er mit einem Flugticket nach München, einer Retourkarte, eröffnete, er müßte auf Geschäftsreise gehen und könne seinen Augenstern leider, leider nicht mitnehmen, sie möge inzwischen ihre Familie besuchen und nach vier Wochen wiederkommen. Er gab ihr auch Geld, genug für vier Wochen. Der Gedanke an die Wannemachers in München erheiterte Helen zwar nicht, aber sie tat wie geraten und absolvierte brav ihren Familienbesuch.

Daheim gab Helen an wie zehn Affen, schmiß mit dem Geld um sich und erzählte jedem, sie wäre mit einem Ölscheich verheiratet. Mit einem stämmigen Schankburschen vom Blau-Weiß-Bräu, einem Fußballer, verbrachte sie zwei oder drei Liebesnächte und kaufte ihm mit dem vorletzten Geld eine Armbanduhr. Ziemlich abgebrannt kam sie nach Beirut zurück und hoffte, daß ihr Mehmet oder sonst jemand in der Villa sein würde, der das Taxi vom Flughafen bezahlte. Es war aber nur die Polizei in der Villa, die gleich eine Menge Fragen an sie hatte, die sie alle, ehrlich, nicht beantworten konnte. Sie bekam ein paar Ohrfeigen von den Polizisten, und man sperrte sie ein.

Eine Woche war sie im Arrest in Beirut, sie erhielt noch eine Menge Ohrfeigen, auch von den Gefängniswärterinnen. Schließlich brachte man sie zum Flughafen; dort war ein Herr der Botschaft, der sie zwar nicht ohrfeigte, aber behandelte wie ein Stück Scheiße.

Von diesem Menschen erfuhr Helene Wannemacher, daß ihr Mehmet Nashashivi ein Waffenhändler war, der seine Ware offensichtlich den falschen Kunden verkauft hatte und nun von der libanesischen Polizei verzweifelt gesucht wurde. Sie erhielt ein Flugticket nach München und unterschrieb einen Schuldschein, schließlich war sie immer noch deutsche Staatsbürgerin. Bei der Zwischenlandung in Athen aber verließ Helen den Flugplatz, verkaufte ihr Ticket einem Reisebüro der Lufthansa, schließlich war es ja bezahlt. Der Gedanke, nun wieder zu den Wannemachers nach München zu gehen, womöglich zu dem Fußballer mit der neuen Armbanduhr, war für Helen einfach unerträglich.

In Athen hatte sie es wirklich nicht leicht. Antonakis war zwar noch da und half ihr auch. Er vermittelte ihr einen Job als Serviererin in einer Bar im Hafen. Diesmal kassierte er siebzig Prozent, für die Aufenthaltsbewilligung, erklärte er.

Wie das Leben so spielt, plötzlich kooperierte Helen mit der Polizei, und das war wirklich verwunderlich. Einer der Stammgäste in der Bar war ein Inspektor der Geheimpolizei. Er war ein wenig beleibt und rauchte Zigarren, und zuerst hatte Helen richtige Scheu vor ihm. Als er mit ihr schlafen wollte, getraute sie sich nicht nein zu sagen, sie wollte keinen Ärger mit der Polizei. Nach und nach erfuhr Inspektor Dimitriades von der Sache mit der Aufenthaltsbewilligung und den siebzig Prozent des Freundes Antonakis, die Geschichte amüsierte ihn so sehr, daß seine Zigarre beim Zuhören ausging, und dann versprach er Abhilfe. Helen bekam eine richtige Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung, die zwanzig Drachmen Stempelgebühr hatte der Inspektor ausgelegt, Antonakis erhielt ein blaues Auge vom Inspektor, als er wieder kassieren wollte, und das Leben war plötzlich einfacher für Helene Wannemacher. Inspektor Dimitriades kam nur ein oder zwei Mal in der Woche in die Bar, meist kurz vor Sperrstunde, schließlich war er verheiratet und hatte vier Kinder. Eines Tages verschaffte er ihr einen anderen Platz, einen besseren, ein kleines Lokal nur, aber Helen konnte es pachten, sie war dort Chefin, und Dimitriades bezahlte vorerst die Miete und was sonst nötig war. Er verlangte fünfzig Prozent vom Reingewinn, Helen fand das fair, und irgendwie war es das auch. Alle Behördenrennereien erledigte der Inspektor. Das kleine Lokal nannten sie »Helens Bar«; für die Konzession sorgte auch Dimitriades, und abgerechnet wurde einmal im Monat.

So war Helen ihr eigener Chef, vom stillen Teilhaber abgesehen. Sie war zufrieden und arbeitete hart und sparte auch. Alles, was sie wollte war, so viel Geld zusammenzukriegen, um einmal in München eine Bar eröffnen zu können. »Helens Bar« in Schwabing, oder irgendwo, das war es, wovon sie träumte. Schließlich haben alle Menschen ihre kleinen Träume, und Helen war jetzt siebenundzwanzig, man mußte an die Zukunft denken.

Da lag dieser Kerl also jetzt auf dem Fußboden, steif wie ein Bügelbrett, in seinem dunklen Mantel mit dem hochgestellten Kragen, Helen hatte sich schon den ganzen Abend gewundert, warum er den Mantel denn nicht abgelegt hatte, es war doch ziemlich warm im Lokal. Nach einem einzigen Blick auf die Bilder in den Zeitungen wußte sie Bescheid. Das war also der Australier, der bei dem Geiseldrama seine Familie verloren hatte. Sie las kurz, was unter den Bildern stand und zündete sich dabei eine Zigarette an. Sie überlegte, was wohl am besten zu tun sei.

Sie könnte diese unrasierte Vogelscheuche auf die Straße schleifen und liegen lassen, dann die Bar zusperren und schlafen gehen. Schließlich war sie für Gäste nicht verantwortlich, wenn sie einmal draußen waren. Und sie war hundemüde.

Sie könnte die Polizei oder einen Arzt anrufen, ein Krankenhaus. Aber bis die kamen, verging sicher wieder eine halbe Stunde, und dann die Fragerei und die Formalitäten. Dimitriades konnte sie um diese Zeit nicht mehr anrufen, seine Frau hätte sicher etwas dagegen gehabt. Helen hatte kein Mitleid mit dem Mann im Mantel, sie war nur wütend wegen der Scherereien, die er ihr machte. Konnte der Kerl nicht draußen auf der Straße umkippen?

Sie drückte ihre Zigarette aus und ging zu dem Mann im dunklen Mantel, kniete sich nieder. Sie drehte seinen Kopf zur Seite und rüttelte ein wenig an der Schulter, ohne viel Hoffnung allerdings, daß er sich rühren würde. Helen sah seinen Mund halb offen, sie sah, wie Speichel langsam aus dem Mundwinkel floß. Der Mann war einfach fertig, dachte sie, der war nicht mehr auf die Beine zu bringen. Sicher soff er schon tagelang durch die Gegend, er sah so aus. Sie griff in seine Manteltasche, fand einen Reisepaß und ein Bündel Geldscheine, Dollars und Drachmen, mit einem Gummiband zusammengehalten. Viel Geld. Helen fingerte zwei Scheine heraus und steckte sie in den Brustausschnitt. Wer das Geld so herumträgt, zählt nicht täglich nach. Der Paß interessierte sie weniger, derselbe Name wie in den Zeitungen. Sie schob Geld und Paß wieder in die Manteltasche und stand auf. Eine neue Zigarette. Was also war zu tun?

Helene Wannemacher kratzte umständlich an ihrem Popo, wie andere Menschen sich die Stirne reiben, wenn sie nachdenken. Der Mann hatte Geld, und sterben würde er wohl nicht gleich, von ein paar durchgesoffenen Tagen geht man nicht ex. Helen ging hinter die Bar und eine schmale Wendeltreppe hinauf. Sie wohnte oberhalb des Lokals, — eine kleine Garçonnière, Wohn-, Schlafzimmer, Kochnische, Dusche. Sie kam mit einem Kopfkissen und einer Decke herunter und improvisierte eine Art Bett hinter der Theke. Sie ging wieder zu dem Mann und zog ihm den Mantel aus, dann schleifte sie ihn hinter die Theke auf das Lager, schob das Kissen unter seinen Kopf. Er war leichter, als sie gedacht hatte. Mit dem Mantel deckte sie ihn zu.

Sie betrachtete ihn eine Weile, und die Asche von ihrer Zigarette fiel auf den dunklen Mantel. Eine Sekunde lang mußte sie daran denken, daß dieser Mann sicher Schweres erlebt hatte in den letzten Tagen, aber Mitleid, nein, Mitleid hatte sie nicht. Menschen, die gleich umkippten, wenn ihnen was passierte, hatten in der Welt Helene Wannemachers keinen Platz. Sie versperrte die Eingangstür, löschte die Lichter und ging schlafen. Es war fast drei Uhr früh.

Es war fast neun Uhr morgens, als sie aufwachte und herzlich gähnte, sich streckte wie eine Katze. Sie sah nach der Uhr auf dem Nachtkästchen, fast neun Uhr also und kein Grund zur Eile. Dann sah sie die beiden zerknüllten Geldscheine, die sie der Vogelscheuche abgenommen hatte und erinnerte sich wieder. Sie setzte sich auf und zündete sich eine Zigarette an, dann hustete sie eine Weile.

Sie könnte den Halbtoten da drunten jetzt sicherlich auf die Beine bringen und rausschmeißen, kein Problem. Sie dachte an das viele Geld in seiner Manteltasche und überlegte, ob es nicht besser wäre, ihn noch eine Weile zu betreuen. Helen hatte nackt geschlafen, wie es ihre Gewohnheit war. Sie stand auf und zog eine Art Morgenmantel an, einen sehr kurzen, der gerade den Popo bedeckte, wenn sie sich nicht bückte. Sie ging die Treppe hinunter und sah mit einem Blick, daß sich der Mann kaum bewegt hatte, er atmete aber jetzt regelmäßig, sein Mund war immer noch offen.

Helen setzte sich neben ihn und betrachtete den Mann eine Weile. Er roch nach Schweiß und eben wie jemand, der sich lange nicht gewaschen hat. Mit ihren Zehen stubste sie ihn an der Schulter, erst leicht, dann fester. Der Mann öffnete die Augen und schloß den Mund. Er schluckte. Helen ließ ihm eine Weile Zeit.

»Geht es besser?« fragte sie dann auf Deutsch. John Berger setzte sich langsam auf und schaute um sich wie jemand, der von einem anderen Planeten kommt. Er sah Helen und schluckte wieder. »Wieso sprechen Sie Deutsch?«, murmelte er mühsam.

»Komm schon«, sagte sie und ignorierte das förmliche Sie, »komm schon, geht es dir besser, und kannst du abhauen?« »Natürlich kann ich«, sagte er nach einer Weile, »es geht schon.« Er stand und fiel gleich wieder hin, glücklicherweise auf das Kopfkissen. Helen lachte. Es war ihr klar, der Mann war nicht schwierig, bedeutete keine Probleme, eher ein wenig Profit, wenn sie geschickt war.

Sie war es. »Hör zu, Landsmann, besoffener«, lachte sie, »so kann ich dich nicht rausschmeißen. Ich werde dich jetzt in ein ordentliches Bett legen, und du schläftst erst einmal eine lange Strecke. Komm, ich helfe dir.«

Mit einiger Mühe brachte sie ihn auf die Beine und die Treppe hinauf, seinen Mantel hatte sie über dem Arm. Sie legte ihn in ihr Bett, zog ihm die Schuhe aus und dann die Kleider. John Berger lächelte nur hilflos und murmelte etwas von Dankbarkeit. Sie deckte ihn zu und sagte: »Schlaf jetzt ordentlich.« Er schloß die Augen. Das Bett war noch warm.

Helen Wannemacher ging unter die Dusche und zog sich dann an. Es war fast zehn, als sie wegfuhr, in ihrem alten Volkswagen, um elf hatte sie eine Verhandlung beim Bezirksgericht in einer Versicherungssache. Es war noch Zeit für einen Kaffee in der Nähe des Gerichtes. Nach der Verhandlung, die vertagt wurde, aß sie ausgiebig mit ihrem Rechtsanwalt zu Mittag, der sie nach einer Flasche Wein unbedingt als Nachspeise haben wollte. Helen wehrte tapfer ab, dafür war immer noch Zeit, wenn sie den Prozeß verlieren sollte. Es war fast vier Uhr nachmittags, als sie wieder heimfuhr. Trotzdem hatte sie keine Eile, sie öffnete das Lokal erst um acht. Einer plötzlichen Eingebung folgend kaufte sie eine Garnitur Männerunterwäsche, mittlere Größe, und ein sauberes Herrenhemd.

John Berger schlief noch immer mit offenem Mund. Helen drehte zuerst das Radio an und dann die Dusche. Tatsächlich wurde er wach und setzte sich im Bett auf. Helen kramte eine Weile im Badezimmer, fand Rasierzeug und eine gebrauchte Zahnbürste und legte alles vor den Wandspiegel.

»Zeit, daß du wieder ein Mensch wirst«, sagte sie dann. »Los, du hast genug geschlafen.«

John Berger folgte wie ein braver Schuljunge. Ein wenig irritiert war er, weil er so nackt war. Als er in den Spiegel sah, erkannte er sich kaum wieder. Die Dusche tat ihm gut.

Helen war in der Kochnische und machte Rührei mit Speck, wie sie es in der Kochschule gelernt hatte. Mit viel Zwiebeln. Als sie hörte, wie die Dusche abgedreht wurde, rief sie hinüber: »Zieh frische Wäsche an, sie liegt auf dem Bett.«

John Berger hatte sich rasiert und konnte es nicht glauben, daß dieses eingefallene Gesicht mit den tiefliegenden Augen im Spiegel sein eigenes war. Er fand die Unterwäsche, sie war blau-rot gestreift und eine Nummer zu groß. Es roch nach Essen, und plötzlich hatte er das Gefühl, er müßte einen halben Ochsen fressen, so wütend war dieses Hungergefühl in seinem Magen.

Sie sprachen nicht viel, während er Schinken und Eier in sich hineinstopfte. »Wie heißt du, Mädchen?« fragte er kauend, und sie beobachtete ihn lächelnd. Er sieht eigentlich nicht schlecht aus, dachte sie, rasiert und gewaschen. »Helen«, sagte sie.

Er zog sich an, auch seinen Mantel, griff in die Tasche und legte ein paar Scheine auf den Tisch. »Danke, Helen«, sagte er. »Darf ich wiederkommen?« »Das ist zu viel«, sagte Helen und deutete auf das Geld. »Natürlich sollst du wiederkommen.« Sie wußte, daß es nicht lange dauern würde. Es waren fast hundert Dollar, die da auf dem Tisch lagen. Der Verdienst einer Woche, in guten Zeiten.