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Otto, Elsbeth und Paula Modersohn im Garten von Heinrich Vogelers Barkenhoff, um 1904

 

 

Paula Modersohn-Becker
Otto Modersohn

Der Briefwechsel

Herausgegeben von
Antje Modersohn und
Wolfgang Werner

Bearbeitet von
Rebecca Duckwitz und
Katrin Rascher-Friesenhausen

Insel Verlag

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Paula Modersohn-Becker, Otto Modersohn, am Tisch lesend, um 1904

Inhalt

Gisela Götte
»In der Grundanschauung verwandt – in den Äußerungen verschieden«

Editorische Notiz

DER BRIEFWECHSEL

Biographien

 

Anmerkungen

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

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Otto Modersohn, Paula Becker, am Tisch schreibend, um 1900

Gisela Götte
»In der Grundanschauung verwandt – in den Äußerungen verschieden«

Mit dieser Edition des Briefwechsels zwischen Paula Modersohn-Becker (1876-1907) und Otto Modersohn (1865-1943) werden erstmals bisher unveröffentlichte Briefe, Karten und Tagebucheinträge Otto Modersohns mit den 2007 in einer erweiterten Ausgabe erschienenen Briefen und Tagebüchern Paula Modersohn-Beckers in eine dialogische Form gebracht. Zum besseren Verständnis der jeweiligen Zusammenhänge sind diese Zwiegespräche und Selbstzeugnisse mit einigen Texten an andere Briefpartner verknüpft. Die hier vorliegende Publikation füllt mit ihren erstveröffentlichten Texten eine Lücke in der Primärliteratur und soll für die stetig zunehmende Sekundärliteratur zu beiden Künstlern ein weiterführender, substantieller Beitrag sein.

Die vorliegende Ausgabe umfasst den Zeitraum von 1895, dem Jahr der ersten Begegnung Paula Beckers mit der Malerei Otto Modersohns in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen, bis zum Jahr 1908, in dem die Erschütterung der Familie und Freunde nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers im November 1907 schriftlichen Ausdruck findet.

Der Briefwechsel belegt die Tage, Wochen und Monate, in denen die Ehepartner räumlich voneinander getrennt waren. Die vier Aufenthalte Paula Modersohn-Beckers in der damaligen Kunstmetropole Paris von insgesamt fast 16 Monaten der Jahre 1900, 1903, 1905 und 1906 nehmen den breitesten Raum der Korrespondenz ein. Die Zeit zwischen Anfang Oktober 1906 bis zur gemeinsamen Rückkehr nach Worpswede Ende März 1907 verbrachte Otto Modersohn in Paris. Lediglich ein knapper Rückblick in seinem »Reisetagebuch« und drei Briefe Modersohns an seine Schwägerin Herma Becker geben über diesen korrespondenzfreien Pariser Winter eine spärliche Auskunft. Gerade in den Monaten der selbst gewählten Abwesenheit Paula Modersohn-Beckers von Worpswede enthalten die Briefe der Künstlerin und die Antwortbriefe Otto Modersohns reichhaltiges Material an maltechnischen, kunsttheoretischen und malereigeschichtlichen Überlegungen, die durch die intensive Auseinandersetzung Paula Modersohn-Beckers mit der Pariser Kunstszene und Museumslandschaft ausgelöst worden sind. Zeitgeschichtliches mischt sich mit der jeweiligen Tagesaktualität, persönliche Erlebnisse und Stimmungsbilder wechseln mit der nüchternen Bestandsaufnahme äußerer Ereignisse.

Die Brieftexte sind weit mehr als nur die Korrespondenz zwischen zwei bildenden Künstlern, die die deutsche Malerei des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts jeder auf seine Weise entscheidend mitgestaltet und geprägt haben. Sie spiegeln vielmehr die facettenreiche Gemeinschaft zweier sehr unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten wider, die das jeweils eigene Profil auch während ihrer Ehe zu bewahren wussten.

Bereits am 8. Dezember 1900, in der Verlobungszeit mit Paula Becker, notierte Otto Modersohn in sein Tagebuch: »Man muß sich in der Liebe als verschieden empfinden, nicht ineinander aufgehen wollen, nur innig, liebreich berühren. Auf dem Wege bin ich bei meiner Paula. Ihre Art ist von meiner durchaus verschieden. Das (ist) das Beste. Ihr Temperament leichter, freier, heiterer – und das liebe und verehre ich sosehr. Ihr Urtheil in der Kunst selbständig, eigenartig – schätze ich sosehr. Sie bildet ein glückliches Gegengewicht zu mir, und ich zu ihr. So muß es sein. In der Grundanschauung verwandt – kunstdurchglühtes Leben – in den Äußerungen verschieden. Sonst langweilig.« Diese Passage, aus der das Motto vorliegender Publikation stammt, hat bei wechselseitiger, konstruktiver Kritik und mannigfachen Schwankungen im Urteil der Kunst des Anderen ihre Gültigkeit behalten. Bindend waren die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung im Künstlerischen und Menschlichen trotz zeitweiser Entfremdung zwischen den Partnern.

Der vorliegende Textkorpus zeichnet den gemeinsamen Lebensweg von Paula Modersohn-Becker, der Wegbereiterin der Moderne, mit dem um eine halbe Generation älteren Otto Modersohn nach, dem Mitbegründer der Worpsweder Künstlerkolonie und Hauptvertreter des Worpsweder Naturlyrismus. Zugleich gibt die Publikation neue Auskünfte über das Leben in der Künstlervereinigung in Worpswede der Jahre 1900 bis 1907. Angesprochen werden die Querelen und das wiederum Verbindende zwischen den Gründern der Künstlerkolonie, aus der sich um 1900 auf Heinrich Vogelers Barkenhoff ein Freundeskreis bildete, die sogenannte »Familie«. Paula Becker schilderte diese Gemeinschaft in einem Brief an Marie Hill vom 30. Dezember 1900: »Draußen leben wir eine stille Gemeinde: Vogeler und seine kleine Braut, Otto Modersohn und ich, und Clara Westhoff. Wir nennen uns: die Familie. Wir sind immer sonntags beieinander und freuen uns aneinander, und teilen viel miteinander. So mein ganzes Leben zu leben ist wunderbar.« Zu diesem Freundschaftskreis gehörten auch Paula Beckers Schwester Milly, Rainer Maria Rilke, Carl Hauptmann und Marie Bock. Einblicke in die schon bald ambivalente Beziehung der Modersohns zu dem Ehepaar Rilke, deren wirtschaftlich prekäre Situation zur Selbststilisierung und Abschottung geführt hatte, fügen dem Bild des Worpsweder Künstlerkreises neue Facetten hinzu.

Paula Becker, die nach ihrer zweijährigen professionellen Ausbildung im Berliner Verein der Künstlerinnen 1898 als Anfängerin zur Korrektur bei Fritz Mackensen nach Worpswede kam, heiratete 1901 den damals weithin bekannten Maler Otto Modersohn, der in seiner Kunst seinen Weg bereits gefunden hatte. Mit den gänzlich verschiedenen Voraussetzungen der Biographie und Entwicklung glich diese Verbindung keineswegs dem Lebensmodus der berühmten Künstlerpaare Wassily Kandinsky und Gabriele Münter oder Robert und Sonia Delaunay, die gemeinsam und sich gegenseitig stützend in einem Kreis gleichgesinnter Künstler nach einer neuen Bildsprache suchten.

Es ist deshalb bemerkenswert, dass Paula Modersohn-Becker die Worpsweder Stimmungsmalerei weit hinter sich zurückließ und in einem kurzen Jahrzehnt ein Lebenswerk von europäischem Rang schuf. Ihr Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein sprechen aus nahezu allen schriftlichen Selbstzeugnissen der Malerin. Ihre berühmt gewordenen Sätze, die sie am 17. Februar 1906 kurz vor ihrer Abreise nach Paris an den zurückgewonnenen Freund Rainer Maria Rilke schrieb, machten sie zu einer Identifikationsfigur für bildende Künstlerinnen bis heute: »Und nun weiß ich garnicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden. Das ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen.«

Paula Becker orientierte sich zunächst in Berlin sowie auf Reisen nach München, Leipzig und Dresden an der Kunst in den Museen und den Ausstellungen der Galerien. Mit ihrem Aufbruch nach Paris in der Silvesternacht 1899/1900 erfüllte sie sich ihren sehnlichen Wunsch, nun auch die Kunst der dortigen Museumssammlungen sowie insbesondere die französische Malerei der Moderne kennenzulernen. Überdies nahm sie Unterricht an privaten Akademien, um ihre Ausbildung voranzutreiben. Die an den Bruder Kurt gerichteten Worte vom April 1900 lesen sich wie das Bekenntnis ihrer eigenen Pariser Befindlichkeit: »Siehst Du, das habe ich für Dich gewünscht, daß Du mit Deiner Zeit lebst (…). Dein Nervensystem ist eins unserer Generation.« Offen gegenüber neuen künstlerischen Strömungen, entdeckte sie 1900 in der Galerie Vollard die Bilder des zu dieser Zeit einem breiten Publikum noch weitgehend unbekannten Malers Paul Cézanne und fand in ihm einen ihrem Streben wahlverwandten Künstler. Die späteren Begegnungen mit der Malerei von Maurice Denis, Paul Gauguin, Vincent van Gogh, des Zöllners Henri Rousseau und vermutlich auch Pablo Picassos waren für die nach neuen Bildkonzepten suchende Malerin von wegweisender Bedeutung. Während ihrer Parisaufenthalte setzte sich Paula Modersohn-Becker mit der Kunst der Impressionisten, Pointillisten und Nabis auseinander und sah im März 1905 bei den Indépendants erstmals Werke von Henri Matisse und André Derain. Sie äußerte sich über Gustave Courbet, Edgar Degas, Odilon Redon und Charles Cottet, zeichnete im Louvre nach Gemälden u. ‌a. von Ingres, Cranach und Rembrandt, fertigte Skizzen nach ägyptischen Skulpturen und schulte ihr Formempfinden an den Mumienporträts aus Fayum. Von den Deutschen interessierten sie Anselm Feuerbach, Hans von Marées und vor allem Arnold Böcklin, dessen Tagebuchaufzeichnungen sie gemeinsam mit Modersohn noch während ihrer Verlobungszeit gelesen hatte. Im Januar 1906 besuchte sie zusammen mit Otto Modersohn in Berlin die große Jahrhundertausstellung deutscher Kunst noch vor deren Eröffnung.

Zu ihren Lebzeiten fand die Kunst Paula Modersohn-Beckers kaum öffentliche Anerkennung. Erst 1913, sechs Jahre nach ihrem Tod, setzte mit einer Ausstellung ihrer Werke in dem von Karl Ernst Osthaus gegründeten Folkwang Museum in Hagen ihr Nachruhm ein. Dieser gipfelte 2016, 140 Jahre nach ihrer Geburt, in einer umfassenden Retrospektive in Paris, der ersten in Frankreich.

Otto Modersohn hingegen war schon zu Lebzeiten ein hoch anerkannter, an der Düsseldorfer Kunstakademie ausgebildeter Landschaftsmaler. Als Mitbegründer der Künstlerkolonie feierte er zusammen mit den Worpswedern in der Kunsthalle Bremen und kurz darauf im Münchener Glaspalast 1895 seine ersten künstlerischen Erfolge. Modersohns Malerei stand in der Tradition der französischen Schule von Barbizon, deren Vertreter die Freilichtmalerei propagierten und realistische Stimmungslandschaften schufen, in Abkehr von der klassisch-idealistischen Landschaftskomposition, wie sie auf den Akademien gelehrt wurde. Zu den von Modersohn häufig genannten Künstlern gehörten neben Rembrandt die Barbizon-Maler Millet, Daubigny, Dupré, Rousseau und Corot. Diesen begegnete Modersohn bereits 1888 auf der III. Internationalen Kunstausstellung im Münchener Glaspalast sowie 1889 bei seinem Besuch der Pariser Weltausstellung. Die Auseinandersetzung mit der Malerei Arnold Böcklins, die Modersohn in der Münchner Schackgalerie zur gleichen Zeit sah, führte mehrfach zu kunsttheoretischen Reflexionen in seinen Tagebüchern.

Trotz dieser grundlegend unterschiedlichen Voraussetzungen stellte sich schon frühzeitig, noch zu Lebzeiten von Modersohns erster Frau, ein rasches, künstlerisches Einvernehmen zwischen Paula Becker und ihm ein. Die bei allen ihren Selbstzweifeln kritische Anfängerin und der bereits Arrivierte fanden sich wie selbstverständlich in ihren Sacherörterungen, Empfindungen und Urteilen. Die später in ihrer Ehe häufig gemeinsame Lektüre kunsthistorischer Abhandlungen der damals maßgeblichen Autoren Julius Meier-Graefe und Richard Muther sowie die Rezeption von Künstlermonographien und gegenseitig empfohlener Beiträge in Kunstzeitschriften vertieften den fachlichen Gedankenaustausch zwischen beiden. Nicht zuletzt waren es die gemeinsamen Besuche großer Museumssammlungen, welche kollegiale Gespräche auslösten.

Die Ehe der Modersohns war von gegenseitigem Respekt und Anerkennung getragen. Das Paar gewährte einander Freiräume, wobei die Großzügigkeit Modersohns seiner Frau gegenüber, deren Parisaufenthalte er akzeptierte und finanziell unterstützte, in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich war. Die zahlreichen, meist dem Tagebuch anvertrauten Äußerungen Otto Modersohns zur Kunst Paula Modersohn-Beckers schwankten zwischen Wertschätzung und Kritik. »Wie ich ihr von dem Intimen geben kann – so sie mir vom Großen, Freien, Lapidaren. (…) Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle wie ich lerne an ihr und mit ihr. (…) Sie ist eine echte Künstlerin, wie es wenige gibt in der Welt, sie hat etwas ganz Seltenes. (…) Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden«, notierte der Maler am 15. Juni 1902 in sein Tagebuch. Doch nur wenige Tage später, am 28. Juni, klagte er: »Egoismus, Rücksichtslosigkeit ist die moderne Krankheit. Nietzsche der Vater. (…) Leider ist Paula auch sehr von diesen modernen Ideen angekränkelt. (…) Ob wohl alle begabten Frauenzimmer so sind? Begabt in der Kunst ist Paula ja sehr, ich bin erstaunt über ihre Fortschritte. Wenn sich damit doch mehr menschliche Tugenden verbänden.« Und wiederum wenige Tage später, am 7. Juli 1902, gestand sich Otto Modersohn ein, dass er mit seiner Frau zurzeit nicht »mitkomme«. Er rühmt ihren Farbensinn und ist »einfach paff« darüber: »Das rüttelt mich auf. Diese kleine Deern soll besser malen wie du, der Deubel, das wäre doch! (…) Mir sind die Augen offen. Das wird ein Wettlauf.«

»Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament«, diesen berühmten Satz Emile Zolas machte sich Otto Modersohn einen Tag nachdem ihm seine Frau mit ihren Arbeiten die Augen geöffnet hatte, am 8. Juli 1902, zu eigen. In Abwandlung dieser Maxime bekennt der Maler: »Nur das Gefühl schafft gute, echte Kunst. Nur im Furor, in der Leidenschaft kann etwas Feines, Lebensvolles, echt Künstlerisches entstehen. (…) Denn alle meine Franzosen zeigen dies Temperament, diese Leidenschaft: Natur gesehen durch eigenes Temperament.« Mit dieser Feststellung verabschiedete sich Modersohn nach »7jährigem Schlafe« von einer Bildauffassung, die allein die Natur als große Lehrmeisterin beschwört und der er 1895 seinen ersten großen Erfolg schuldete.

Für Paula Modersohn hingegen war die Natur gleichsam nur ein Vorwand bei ihrer Suche nach einem neuen, bildkünstlerischen Wortschatz. Der Bildauffassung der Nabis entsprechend, deren Malerei sie in Paris kennengelernt hatte, erachtete sie den Bildwert gegenüber dem Darstellungswert als vorrangig: »Ich glaube, man müßte beim Bildermalen gar nicht so an die Natur denken, wenigstens nicht bei der Konzeption des Bildes. Die Farbenskizze ganz so machen, wie man einst etwas in der Natur empfunden hat. Aber meine persönliche Empfindung ist die Hauptsache. Wenn ich die erst festgelegt habe, klar in Form und Farbe, dann muß ich von der Natur das hineinbringen, wodurch mein Bild natürlich wirkt, daß ein Laie gar nicht anders glaubt, als ich habe mein Bild vor der Natur gemalt«, schrieb sie am 1. Oktober 1902. Wenige Monate später, im Februar 1903, notierte sie in ihr Pariser Tagebuch: »Die große Einfachheit der Form, das ist etwas Wunderbares.«

Beide Künstler trafen sich freilich in einer Kunstanschauung, deren Devise lautete: »Das Ding an sich – in Stimmung«, eine Formulierung, mit der Otto Modersohn im April 1902 das »alte Thema« seiner Bilder »nicht im Sinne des gewöhnlichen Naturalismus« deutete und hinzufügte, dass er diese früher mit »Paula« oft gebraucht habe. Bereits im Juli 1901 notierte Modersohn in sein Tagebuch: »Das Ding an sich ist mein Ziel, das Ding an sich in Stimmung. Daß das merkwürdige Einzelne da ist und gesehen wird – mein Ziel.« Damit übertrug Otto Modersohn den von Descartes über Immanuel Kant zum philosophischen Modewort gewordenen Begriff »Das Ding an sich« auf die Gattung der Malerei und apostrophierte eine Wirklichkeit, die unabhängig für sich besteht. Gegenstände der Sinnenwelt sind Erscheinungen jenseits der Art, wie der Künstler sie anschaut. Sowohl Paula wie Otto Modersohn hatten mit der bildnerischen Auswertung dieser Maxime einen breiten Spielraum.

Ein immer wiederkehrendes Thema, insbesondere in den Tagebucheinträgen von Otto Modersohn, waren Überlegungen zu Farbe, Form, Technik und Malmittel: »Ich will in Zukunft riesig auf Technik achten, was ich nie recht gethan. Nur die Lasurwuth, die ich ganz schablonenhaft, unfein anwandte entsprang einem falsch verstandenen Verlangen nach Technik«, notierte der Maler am 21. August 1902. Wenige Monate später, am 17. Februar 1903 schrieb er seiner Frau aus Worpswede nach Paris begeistert über seine Entdeckung der Ölfarbstifte: »Und nun meine Kunst. Seit Du fort bist, habe ich den Stein der Weisen entdeckt. Diese Raffaellistifte sind über Untermalung fabelhaft. (…) Noch nie bin ich so von einer Technik fasciniert. Ich möchte alles aber alles damit versuchen, alle meine angefangenen Bilder. (…) Ich habe jetzt 40 verschiedene im Gebrauch. Tempera war besser wie Öl, aber diese Stifte sind erst das Wahre.« Im selben Monat notierte er in sein Tagebuch: »Durch den ganzen Apparat der früheren Techniken, was ging da von innerem Reiz, Frische, Gefühl verloren.« Dennoch fand selbst Paula Modersohns kollegiale Kritik an seiner Malerei mit Raffaellistiften, die sie nach ihrer Rückkehr aus Paris ihm gegenüber geäußert haben musste, in Modersohns Tagebuch vom 23. März ein positives Echo. Unter der Überschrift »Merkwürdiges Colorit« vermerkte Otto Modersohn in seinem Tagebuch vom 15. September 1902: »Von Anfang an betrachtete ich Colorit als meine Domäne, ich hielt mich darin für besonders begabt, es fiel mir leicht, irgendeine Stimmung auszudrücken. (…) Paula war die erste, die immer an meinem Colorit Anstoß nahm, allmählich und immer mehr sehe ich das auch ein. (…) Sie hat überhaupt von allen Malern und Malerinnen, die mir nahe gekommen, die meiste Ahnung und Auffassung für ein merkwürdiges Colorit.«

Erst im Dezember 1905 verriet ein Eintrag in Modersohns Tagebuch, wie weit sich Paula Modersohn-Becker mit ihrer Bildauffassung von seiner eigenen im Laufe der Jahre entfernt hatte: »Paula macht mir in ihrer Kunst lange nicht soviel Freude wie früher. Sie nimmt keinen Rath an – das ist sehr thöricht und schade. Riesige Kraftvergeudung. Was könnte die machen! Malt lebensgroße Akte und das kann sie nicht, ebenso lebensgroße Köpfe kann sie nicht. Und da ist sie drauf erpicht – wie ich früher auf meine Märchen. Ihre herrlichen Studien läßt sie liegen. (…) Sie ist hochkoloristisch – aber unmalerisch-hart besonders in ausgeführten Figuren. Verehrt primitive Bilder, sehr schade für sie – sollte sich malerische ansehen. Will Farbe und Form vereinigen – geht gar nicht in der Weise wie sie es macht. Sie mag die Form nicht unterdrücken – großer Fehler – sie denkt zu wenig über ihre Kunst nach – arbeitet immer in denselben Anschauungen – kommt nicht weiter.« Ein Jahr später, im Dezember 1906, revidierte Otto Modersohn in einem Brief aus Paris an seine Schwägerin Herma Becker dieses Urteil: »Paula malt riesig und macht bedeutende Fortschritte.«

Die Briefe und Tagebücher Paula Modersohn-Beckers und Otto Modersohns sind keine literarischen Schöpfungen, wie sie in besonderem Maße aus der Briefkultur des 19. Jahrhunderts bekannt sind. Sie sind spannungsreiche Zeugnisse der persönlichen und künstlerischen Entwicklung beider Briefpartner, ihrer Erfahrungs- und Lebensgeschichten. Gegenseitige, glühende Liebesbezeugungen mit einer bisweilen drastischen Ausmalung intimer Momente wechseln sich ab mit begeisterten oder auch kritischen Berichten über Kunst, mit Schilderungen familiärer Situationen, alltäglichen Erlebnissen und Selbstreflexionen. Persönliche Nähe und Distanz, Sehnsucht nach dem vermissten Briefpartner und Verbitterung ihm gegenüber bestimmen in ihrer Vielfarbigkeit den vitalen Dialog zwischen den Eheleuten, der durchwegs von Aufrichtigkeit und gegenseitigem Vertrauen getragen war.

Ergreifend ist die Sprachform der Wiederholung, deren sich Otto Modersohn bediente, als seine Frau ihn im Frühjahr 1906 für immer verlassen wollte und nach Paris aufgebrochen war. Um sie wieder zurückzugewinnen, beschwor er sie in seinem Brief vom 25. Juni siebzehn Mal nacheinander mit der Formel »Noch einmal sag, ich sollte mit Dir (…)« und bat sie, doch zu versuchen, ihr Leben noch einmal mit ihm zu teilen.

Die Brieftexte von Paula Modersohn-Becker zeichnen sich häufig, im Unterschied zu den meist eher sachlich gehaltenen Äußerungen Modersohns, durch den Gebrauch von Metaphern aus. Das eigentliche Wort oder auch die Beschreibung des realen Hergangs werden vermieden und durch ein sachfremdes Vokabular ersetzt. Zwischen beiden besteht eine Analogie, die mit einer Bedeutungserweiterung einhergeht. Dieses Mittel einer poetischen Redeweise wendet Modersohn-Becker gerne für die Schilderung intimster Vorgänge an. Während ihrer Verlobungszeit mit Otto Modersohn schrieb sie ihm im September 1900: »Wir müssen uns erst die tausend andern Blumen unseres Liebesgartens pflücken ehe wir uns in einer schönen Stunde die wunderbare tiefrote Rose pflücken.« Und während der ersten großen Trennung von ihrem Mann versprach sie ihm am 7. November 1902: »Wenn Du wieder kommst, sollst Du alles, alles haben. Ich lege alles in Deine Hände. Nur das Letzte, Köstlichste, das Kleinod, das wickle ich in ein seiden Tuch und grabe es in die Erde und pflanz ein Blümelein darauf und im Mai wenn meine Blume duftend blüht in Seligkeit, beseligend, dann lüfte ich leise das Tüchlein und wir schauen beide fromm das Allerheiligste.« Doch auch im Alltagsleben, im Blick auf die Passanten mitten im Trubel der Großstadt Berlin dachte und schrieb Paula Becker im Januar 1901 in Analogien und Metaphern: »Dabei sind es zarte, vibrierende, sensitive Frauen, Gartenblumen, und mein Blühen ist doch so sehr im Felde.« Höchst bemerkenswert ist, dass die Künstlerin ihre Sprachbilder auf ihre Bildsprache überträgt. In ihren Porträts werden die attributiven Pflanzen, Blüten und Früchte zu Bedeutungsträgern und damit zu Metaphern der im Bild vergegenwärtigten Person.

Das Motto »In der Grundanschauung verwandt – in den Äußerungen verschieden«, das dem vorliegenden Briefwechsel zwischen Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn vorangestellt ist, definiert zutreffend das Streben beider Künstler, der jeweils eigenen, individuellen Entfaltung gebührend Raum zu geben. Sie waren weder Rivalen noch Konkurrenten, vielmehr trafen sie sich im fortwährenden Ringen um die Kunst und im schöpferischen Diskurs über ihre bildkünstlerischen Anschauungen. Als schriftliche Zeugnisse eines »kunstdurchglühten Lebens« erhellen die Briefe und Tagebucheinträge Paula und Otto Modersohns ein Stück weit das Schaffen ihrer Verfasser.

Editorische Notiz

Sämtliche erhaltenen Briefe und Karten, die Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn einander schrieben, werden hier erstmals vollständig veröffentlicht. Der Briefwechsel ist weitgehend lückenlos erhalten und umfasst 92 Briefe und Karten Paula Modersohn-Beckers sowie 70 Briefe und Karten Otto Modersohns. Diese liegen im Original vor und befinden sich in der Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen, bis auf den Brief Paula Modersohn-Beckers vom 12. ‌2. ‌1903. Die Karten vom 31. ‌3. ‌1900 und 18. ‌2. ‌1903 sind dort als Kopien vorhanden. Aus den inhaltlichen Bezügen ergibt sich, dass nur einige wenige Briefe fehlen.

 

Die Briefe und Karten werden ungekürzt wiedergegeben, Schreibweise und Zeichensetzung, manchmal sehr eigenwillig, wurden beibehalten. Sinnentstellende Fehler sind durch ‌[!] kenntlich gemacht, fehlende Buchstaben oder Worte falls nötig in eckigen Klammern ergänzt. Mit Initialen abgekürzte Namen werden bei der ersten Nennung im jeweiligen Text ergänzt. Sind Familienmitglieder nur mit ihrem Vornamen genannt, werden diese mit Verweis auf den vollständigen Namen im Namensregister aufgeführt.

Für Briefe ohne Orts- und Datumsangaben wurden diese wenn möglich nach dem Poststempel ermittelt und in eckigen Klammern angegeben. Durchgestrichene Worte sind nicht aufgenommen, Unterstreichungen wiedergegeben und Einfügungen in den laufenden Text eingegliedert. Letztere werden nur kenntlich gemacht, wenn sie nicht in den Textfluss passen.

 

Die Briefe und Karten Paula Modersohn-Beckers werden nach der 2007 im S. Fischer Verlag erschienenen revidierten und erweiterten Ausgabe Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern, hg. von Günter Busch und Liselotte von Reinken, wiedergegeben.

Die Briefe und Karten Otto Modersohns sind hier erstmals in Gänze veröffentlicht. Auszüge aus folgenden Briefen finden sich in Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern, 2007: 7. ‌2. ‌1900, 17. ‌2. ‌1900, 25. ‌3. ‌1900, 4. ‌4. ‌1900, 20. ‌5. ‌1900, 30. ‌5. ‌1900, 22. ‌1. ‌1901, 25. ‌2. ‌1901, 2. ‌3. ‌1901, 16. ‌3. ‌1906, 30. ‌5. ‌1906, 12./13. ‌6. ‌1906, 22. ‌6. ‌1906, 2. ‌10. ‌1906.

 

Ergänzt wird diese Ausgabe durch einige Briefe Paula Modersohn-Beckers an ihre Eltern, ihre Geschwister Kurt, Milly und Herma, an ihre Tante Cora von Bültzingslöwen sowie Briefe Otto Modersohns an Herma Becker und Milly Becker/Rohland. Weiter enthält der Briefwechsel einige Dokumente Dritter, die zum Verständnis des jeweiligen Kontextes wichtig erschienen.

 

Neben dem Briefwechsel, der im Wesentlichen die Zeiten der Parisaufenthalte Paula Modersohn-Beckers umfasst, enthält das Werk Auszüge aus den Tagebüchern von Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn. Paula Modersohn-Beckers Tagebücher waren im Zweiten Weltkrieg in Bunzlau ausgelagert und gingen verloren. Sie werden zitiert nach der Ausgabe von 2007, die auf den älteren Ausgaben ab 1913 fußt.

Die umfangreichen Tagebücher Otto Modersohns hingegen sind im Original erhalten. Keine Aufzeichnungen liegen für die Zeit von Mai 1906 bis Ende Januar 1908 vor. In den verschiedenen Publikationen über Otto Modersohn wurden bereits kürzere Auszüge aus seinen Tagebüchern veröffentlicht, insbesondere die darin festgehaltenen Überlegungen zu seiner Kunst. Mit dieser Ausgabe werden aus seinen Tagebüchern, die sich in der Otto-Modersohn-Stiftung in Fischerhude befinden, erstmals größere, zusammenhängende Passagen zitiert. Von den sich in Varianten wiederholenden künstlerischen Überlegungen und den Reflexionen zu seiner eigenen Kunst und Maltechnik wurden jeweils die umfangreichsten und aussagekräftigsten ausgewählt. Weiter geben diese nicht nur einen Einblick in das Miteinander von Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker, sondern auch in die Worpsweder Künstlergemeinschaft zwischen 1900 und 1907, insbesondere zu Martha und Heinrich Vogeler, Fritz und Hermine Overbeck, Fritz Mackensen sowie zu Rainer Maria Rilke und Clara Rilke-Westhoff. Die Angaben der verschiedenen Reisen beruhen auf Otto Modersohns Reisetagebuch. Zeichensetzung und Rechtschreibung entsprechen hier ebenfalls dem Original.

Der Briefwechsel