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BETTY SMITH

Ein Baum wächst
in Brooklyn

Roman

Aus dem Englischen
von Eike Schönfeld

Insel Verlag

Ein Baum wächst in Brooklyn

I. BUCH

1

»Heiter« war ein Wort, das auf Brooklyn, New York, passte. Zumal im Sommer 1912. Als Wort besser war »düster«. Aber auf Williamsburg in Brooklyn traf das nicht zu. »Prärie« war ein hübsches Wort und »Shenandoah« hatte einen schönen Klang, doch sie ließen sich nicht auf Brooklyn anwenden. »Heiter« war das einzig passende Wort dafür, zumal an einem Samstagnachmittag im Sommer.

Am Spätnachmittag schien die Sonne schräg in den vermoosten Garten, der zu Francie Nolans Haus gehörte, und wärmte den ausgelaugten Holzzaun. Beim Blick auf die Sonnenschäfte hatte Francie dasselbe schöne Gefühl wie bei der Erinnerung an das Gedicht, das sie in der Schule aufsagten.

Dies ist der urzeitliche Wald. Die murmelnden
Kiefern und Hemlocks,

Moosbärtig, im grünen Gewand,

Undeutlich im Zwielicht,

Stehn wie Druiden von einst.

Der eine Baum in Francies Garten war keine Kiefer und auch keine Hemlocktanne. Er hatte spitze Blätter an grünen Zweigen, die vom Ast abstrahlten und einen Baum bildeten, der wie viele aufgespannte grüne Schirme aussah. Manche nannten ihn den Götterbaum. Gleich, wo seine Samen hinfielen, wurde aus ihnen ein Baum, der sich himmelwärts mühte. Er wuchs auf bretterverschlagenen Grundstücken und verrotteten Müllhaufen, auch war er der einzige Baum, der durch Zement wuchs. Er wuchs üppig, aber nur in Stadtvierteln mit Mietskasernen.

Man ging sonntagnachmittags spazieren und kam in ein hübsches Viertel, ein sehr vornehmes. Durch das Eisentor, das zu einem Garten führte, sah man einen kleinen dieser Bäume, und da wusste man, dass dieser Teil Brooklyns bald einer mit Mietskasernen sein würde. Der Baum wusste es. Er war zuerst da. Später wanderten arme Ausländer zu, dann wurden die stillen alten Brownstone-Häuser in Wohnungen zerhackt, Federbetten wurden zum Lüften auf Fenstersimse gelegt, und da gedieh der Götterbaum. So ein Baum war das. Er mochte die Armen.

Und so ein Baum wuchs auch in Francies Garten. Seine Schirme schlangen sich um ihre Feuerleiter im zweiten Stock. Da konnte sich ein elfjähriges Mädchen, das auf dieser Feuerleiter saß, vorstellen, es wohne in einem Baum. Und eben das stellte sich Francie jeden Samstagnachmittag im Sommer vor.

Ach, was war der Samstag in Brooklyn für ein wundervoller Tag. Ach, wie wundervoll überall ! Er war ein Feiertag ohne die Steifheit des Sonntags, und samstags wurde der Lohn gezahlt. Die Menschen hatten Geld, um Dinge zu kaufen. Zur Abwechslung aßen sie einmal gut, betranken sich, verabredeten sich, liebten sich und blieben auf bis in die Puppen, sie sangen, spielten Musik, stritten und tanzten, denn der nächste Tag war ihr freier Tag. Sie konnten ausschlafen – jedenfalls bis zur Spätmesse.

Sonntags drängten sich die meisten in die Elf-Uhr-Messe. Nun ja, einige wenige besuchten auch schon die Sechs-Uhr-Messe. Das trug ihnen Respekt ein, den sie jedoch nicht verdient hatten, waren es doch diejenigen, die so lange aus gewesen waren, dass sie erst morgens zurückkamen. Also gingen sie zur Frühmesse, brachten sie hinter sich, gingen nach Hause und schliefen guten Gewissens den ganzen Tag.

Für Francie begann der Samstag mit dem Gang zum Trödler. Wie andere Kinder in Brooklyn auch sammelten sie und ihr Bruder Neeley Lumpen, Papier, Metall, Gummi und anderen Trödel und horteten ihn in verschlossenen Tonnen im Keller oder in Schachteln, die sie unterm Bett versteckten. Die ganze Woche über ging Francie langsam von der Schule nach Hause, den Blick in den Rinnstein nach Stanniolpapier von Zigarettenschachteln oder Kaugummipapierchen gerichtet. Das schmolz sie dann in einem Topfdeckel. Ungeschmolzene Stanniolkugeln nahm der Trödler nicht an, weil zu viele Kinder Eisenscheiben hineinsteckten, um sie schwerer zu machen. Manchmal fand Neeley eine Siphonflasche. Francie half ihm, das Oberteil abzuschlagen und das Blei einzuschmelzen. Der Trödler kaufte keine komplette Spitze, weil er dann Ärger mit den Sprudelwasser-Leuten bekam. Das Oberteil einer Siphonflasche aber war gut. Eingeschmolzen war es einen Fünfer wert.

Jeden Abend gingen Francie und Neeley in den Keller und leerten den am Tag angesammelten Trödel aus den Fächern des Lastenaufzugs, mit dem die Mieter ihre Einkäufe hoch- und ihren Abfall runterfahren ließen. Dieses Vorrecht besaßen Francie und Neeley, weil ihre Mutter die Hausmeisterin war. Sie räumten Papier, Lumpen und Pfandflaschen aus den Fächern. Papier war nicht viel wert. Für zehn Pfund bekamen sie nur einen Penny. Lumpen brachten zwei Cent das Pfund und Eisen vier. Kupfer war gut – zehn Cent das Pfund. Manchmal stieß Francie auf einen Schatz : den unteren Teil eines ausrangierten Waschkessels. Den löste sie dann mit einem Dosenöffner ab, faltete ihn mit einigen Schlägen um, hämmerte ihn flach und faltete und hämmerte ihn noch einmal.

Kurz nach neun Uhr am Samstagmorgen strömten Kinder aus allen Seitenstraßen auf die Manhattan Avenue, die Hauptstraße. Langsam trotteten sie die Avenue entlang bis zur Scholes Street. Manche trugen ihren Trödel auf den Armen. Andere hatten Wägelchen aus einer hölzernen Seifenkiste mit massiven Holzrädern. Ein paar schoben vollbeladene Kinderwagen.

Francie und Neeley hatten ihren Trödel in einen Jutesack gestopft, den sie dann, jedes an einem Zipfel, hinter sich her über die Straße zogen, die Manhattan Avenue hinauf, vorbei an der Maujer Street, der Ten Eyck, der Stagg bis zur Scholes. Schöne Namen für hässliche Straßen. Aus allen Seitenstraßen drangen Horden kleiner Gassenkinder heran und ließen den Hauptstrom anschwellen. Auf dem Weg zu Carney’s kamen ihnen andere mit leeren Händen entgegen. Sie hatten ihren Trödel verkauft und die Pennys schon verprasst. Nun kamen sie großspurig zurück und verhöhnten die anderen Kinder.

»Lumpensammler ! Lumpensammler !«

Bei dem Wort glühte Francies Gesicht. Dass die Spötter ebenfalls Lumpensammler waren, war ihr kein Trost. Auch spielte keine Rolle, dass ihr Bruder mit seiner Bande später ebenfalls mit leeren Händen zurückzottelte und die Nachzügler aufzog. Francie schämte sich.

Carney betrieb seinen Trödelladen in einem baufälligen Stall. Als Francie um die Ecke bog, sah sie, dass beide Türen einladend offen standen, und sie bildete sich ein, dass die große, ausdruckslose Anzeige der schaukelnden Waage ihr ein Willkommen zuzwinkerte. Sie sah Carney mit seinen rostigen Haaren, dem rostigen Schnauzbart und den rostigen Augen hinter der Waage thronen. Carney mochte Mädchen lieber als Jungen. Mädchen bekamen einen extra Penny, wenn er sie in die Wange kneifen durfte.

Wegen der Aussicht auf diesen Bonus trat Neeley beiseite und ließ Francie den Sack in den Stall ziehen. Carney sprang herbei, leerte dessen Inhalt auf den Fußboden und kniff sie schon mal einleitend in die Wange. Während er das Zeug auf die Waage häufte, gewöhnte Francie ihre Augen blinzelnd an das Dunkel und sog die moosige Luft und den Muff nasser Lumpen ein. Carney schwenkte den Blick auf die Anzeige und sagte zwei Worte : sein Angebot. Francie wusste, dass Feilschen nicht gestattet war. Sie nickte zustimmend, worauf Carney den Trödel herunterkippte und sie warten ließ, bis er das Papier in einer Ecke gestapelt, die Lumpen in eine andere geworfen und das Metall herausgeklaubt hatte. Erst dann griff er in die Hosentasche, zog einen alten, mit einer Wachsschnur zugebundenen Lederbeutel hervor und zählte alte grüne Pennys ab, die ebenfalls wie Trödel aussahen. Während sie »danke« flüsterte, fixierte Carney sie mit seinem rostigen Trödelblick und kniff sie fest in die Wange. Sie blieb standhaft. Er lächelte und gab ihr einen zusätzlichen Penny. Dann änderte sich seine Art, er wurde laut und forsch.

»Komm schon«, brüllte er dem Nächsten in der Schlange zu, einem Jungen. »Lass dich nicht lumpen !« Die Kinder lachten pflichtschuldig. Das Lachen klang wie das Mähen kleiner verlorener Lämmer, doch Carney wirkte zufrieden.

Francie ging hinaus, um ihrem Bruder Bericht zu erstatten. »Er hat mir sechzehn Cent und einen Kneifpenny gegeben.«

»Das ist dann deiner«, sagte er gemäß einer alten Abmachung.

Sie steckte den Penny in die Tasche ihres Kleides und übergab ihm das restliche Geld. Neeley war zehn, ein Jahr jünger als Francie. Aber er war der Junge, er war fürs Geld zuständig. Sorgsam teilte er die Pennys auf.

»Acht Cent für die Bank.« Das war die Regel ; die Hälfte allen Geldes, das sie bekamen, egal, woher, ging in die Blechspardose, die in der dunkelsten Ecke der Kammer auf den Fußboden genagelt war. »Und vier Cent für dich und vier Cent für mich.«

Francie knotete das Dosengeld in ihr Taschentuch. Beim Blick auf ihre fünf Pennys erkannte sie froh, dass sie sie gegen einen ganzen Fünfer eintauschen konnte.

Neeley rollte den Jutesack zusammen, klemmte ihn unter den Arm und drängte sich zu Cheap Charlie’s hindurch, Francie dicht hinter ihm. Cheap Charlie’s war der Süßwarenladen gleich neben Carney’s, der ganz auf den Trödelhandel ausgerichtet war. Am Ende jedes Samstags war seine Kasse voller grünlicher Pennys. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge war der Laden den Jungen vorbehalten. Daher ging Francie nicht ganz mit hinein. Sie blieb in der Tür stehen.

Die Jungen, acht bis vierzehn Jahre alt, sahen in ihren weiten Knickerbockern und Schiebermützen alle gleich aus. Sie standen herum, Hände in den Taschen, die schmalen Schultern angespannt nach vorn gereckt. Diese Haltung behielten sie, wenn sie größer wurden, standen später genauso an anderen Treffs herum. Der einzige Unterschied war dann die Zigarette, die scheinbar permanent zwischen den Lippen steckte und beim Sprechen auf und ab wippte.

Jetzt wogten die Jungen nervös herum, die schmalen Gesichter wandten sich von Charlie zueinander hin und wieder zurück zu Charlie. Francie fiel auf, dass einige schon ihre Sommerfrisur hatten : die Haare so kurz geschoren, dass die Kopfhaut Schrammen aufwies, wo die Schere zu tief zugebissen hatte. Diese Glücklichen hatten die Kappe in die Hosentasche gestopft oder auf den Hinterkopf geschoben. Die Ungeschorenen, deren Haar sich sanft wie bei einem Baby im Nacken ringelte, schämten sich und trugen die Kappe so tief über die Ohren gezogen, dass sie trotz ihrer hervorgestoßenen Beschimpfungen etwas Mädchenhaftes hatten.

Cheap Charlie war nicht billig, und er hieß auch nicht Charlie. Der Name war ausgedacht, aber da er auch auf der Ladenmarkise stand, glaubte Francie ihn. Charlie gab einem für seinen Penny ein Los. Hinterm Ladentisch hing ein Bord mit fünfzig nummerierten Haken daran und an jedem ein Gewinn. Es gab etliche schöne Gewinne, Rollschuhe, einen Baseball-Handschuh, eine Puppe mit echten Haaren und dergleichen. An den anderen Haken hingen Kladden, Bleistifte und andere Penny-Artikel. Francie sah genau zu, wie Neeley ein Los kaufte. Er zog das schmutzige Kärtchen aus dem abgegriffenen Umschlag. Sechsundzwanzig ! Voller Hoffnung schaute Francie auf das Bord. Er hatte einen Federlappen für einen Penny gezogen.

»Gewinn oder Süßes ?«, fragte Charlie ihn.

»Süßes. Was glauben Sie denn ?«

Es war immer dasselbe. Francie hatte noch von keinem gehört, der mehr als einen Penny-Gewinn gezogen hatte. Überhaupt waren die Rollschuhrädchen verrostet und das Puppenhaar staubüberzogen, als hätten diese Dinge schon so lange dort gewartet wie der Spielzeughund und der Zinnsoldat aus dem Gedicht »Little Boy Blue«. Eines Tages, beschloss Francie, würde sie, wenn sie fünfzig Cent hätte, sämtliche Lose kaufen und alles an dem Bord gewinnen. Sie glaubte, es würde ein gutes Geschäft werden : Rollschuhe, Handschuh, Puppe und alle anderen Sachen für fünfzig Cent. Allein die Rollschuhe waren viermal so viel wert ! An dem großen Tag müsste dann Neeley mitkommen, weil Mädchen nur selten bei Charlie’s kauften. Gut, an diesem Samstag waren tatsächlich ein paar Mädchen da … kecke, freche, zu entwickelt für ihr Alter, Mädchen, die laut redeten und mit den Jungen rangelten – Mädchen, denen die Nachbarn prophezeiten, dass es mit ihnen nicht gut enden werde.

Francie ging zu Gimpy’s Süßigkeitenladen auf der anderen Straßenseite. Gimpy hinkte. Er war ein sanfter Mann, nett zu kleinen Kindern … das jedenfalls dachte jeder bis zu jenem sonnigen Nachmittag, als er ein kleines Mädchen in sein düsteres Hinterzimmer lockte.

Francie überlegte, ob sie einen ihrer Pennys für ein Gimpy Spezial opfern sollte : die Wundertüte. Maudie Donovan, ihre zeitweilige Freundin, kaufte gerade etwas. Francie drängte sich hinein, bis sie hinter Maudie stand. Sie tat, als wollte sie den Penny ausgeben. Sie hielt den Atem an, als Maudie nach viel Grübeln dramatisch auf eine wohlgefüllte Tüte im Schaukasten zeigte. Francie hätte eine kleinere Tüte genommen. Sie schaute ihrer Freundin über die Schulter, sah, wie sie ein paar Stückchen schales Naschwerk herausholte und ihre Überraschung begutachtete – ein grobes Batisttuch. Einmal hatte Francie ein Fläschchen mit einem kräftigen Duft erhalten. Erneut überlegte sie, ob sie einen Penny für eine Wundertüte ausgeben sollte. Es war nett, überrascht zu werden, auch wenn man die Süßigkeiten nicht essen konnte. Aber sie sagte sich, sie sei überrascht gewesen, als Maudie ihren Kauf tätigte, und das war fast genauso gut.

Francie ging die Manhattan Avenue entlang und las laut die schön klingenden Namen der Straßen, an denen sie vorbeikam : Scholes, Meserole, Montrose und dann Johnson Avenue. In den letzten beiden Avenues hatten sich die Italiener angesiedelt. Der Bezirk mit Namen Jew Town fing an der Seigel Street an, umfasste die Moore und McKibbin und ging über den Broadway hinaus. Francie lief Richtung Broadway.

Und was war am Broadway in Williamsburg, Brooklyn ? Nichts – nur der beste Billigladen auf der ganzen Welt ! Er war groß und glitzerte und hatte alles, was man sich nur denken konnte … so jedenfalls erschien es einem elfjährigen Mädchen. Francie hatte einen Fünfer. Francie hatte Macht. Sie konnte in dem Laden praktisch alles kaufen ! Es war das einzige Geschäft der Welt, wo das möglich war.

Sie trat ein und ging die Gänge entlang, griff dabei nach jedem Gegenstand, der ihrer Laune zusagte. Welch wundervolles Gefühl, etwas in die Hand zu nehmen, einen Augenblick lang zu halten, die Konturen zu spüren, mit der Hand über die Oberfläche zu streichen und es dann sorgsam wieder hinzulegen. Dieses Vorrecht gab ihr der Fünfer. Falls ein Aufseher fragte, ob sie die Absicht habe, etwas zu kaufen, konnte sie »ja« sagen, es kaufen und es ihm dann zeigen. Geld war etwas Wundervolles, fand sie. Nach einer Orgie von Berührungen tätigte sie ihren wohlgeplanten Kauf – für fünf Cent rosa-weiße Pfefferminzwaffeln.

Den Heimweg nahm sie durch die Graham Avenue, die Ghettostraße. Die vollbeladenen Handkarren begeisterten sie – ein jeder ein Geschäft für sich –, auch die feilschenden, aufgeregten Juden und die eigentümlichen Gerüche des Viertels, gefüllter Backfisch, saures Roggenbrot frisch aus dem Ofen und etwas, was wie kochender Honig roch. Sie starrte auf die bärtigen alten Männer mit ihren Alpaka-Käppchen und seidigen Baumwollmänteln und fragte sich, wovon ihre Augen so klein und wild waren. Sie schaute in winzige Lädchen und roch die Kleiderstoffe, die durcheinander auf den Tischen lagen. Sie betrachtete die Federbetten, die sich in den Fenstern bauschten, die Kleider in orientalisch leuchtenden Farben, die auf den Feuerleitern trockneten, und die halbnackten Kinder, die in der Gosse spielten. Eine schwangere Frau saß geduldig am Bordstein auf einem harten Holzstuhl. Sie saß in der heißen Sonne, beobachtete das Leben auf der Straße und bewahrte in sich das Rätsel ihres Lebens.

Francie fiel wieder ein, wie überrascht sie gewesen war, als ihre Mutter ihr sagte, Jesus sei Jude gewesen. Francie hatte geglaubt, er sei Katholik gewesen. Aber Mama wusste Bescheid. Mama sagte, die Juden hätten Jesus immer nur als einen störenden jiddischen Jungen angesehen, der nicht im Zimmermannsgewerbe arbeiten, heiraten, sesshaft werden und eine Familie gründen wollte. Und die Juden glaubten, ihr Messias komme noch, sagte Mama. Daran dachte sie, als sie die schwangere Jüdin betrachtete.

»Wahrscheinlich haben die Jüdinnen deshalb so viele Kinder«, dachte Francie. »Und sitzen deshalb so still da … und warten. Und schämen sich nicht, dass sie so dick sind. Jede denkt, dass sie den wahren kleinen Jesus machen könnte. Deshalb sind sie auch so stolz, wenn sie so sind. Die Irinnen dagegen genieren sich immer so. Die wissen, dass sie nie im Leben einen Jesus machen können. Es wird bloß immer noch ein Mick. Wenn ich mal groß bin und weiß, dass ich ein Kind kriege, dann werde ich daran denken, stolz und langsam zu gehen, auch wenn ich keine Jüdin bin.«

Als Francie nach Hause kam, war es zwölf Uhr. Bald darauf erschien Mama mit Besen und Eimer, die sie mit jenem endgültigen Getöse in die Ecke knallte, das besagte, dass sie erst wieder Montag angefasst würden.

Mama war neunundzwanzig. Sie hatte schwarze Haare und braune Augen und war flink mit den Händen. Auch eine gute Figur hatte sie. Sie arbeitete als Hausmeisterin und hielt drei Mietshäuser sauber. Wer hätte schon geglaubt, dass Mama Böden schrubbte, um den Lebensunterhalt für sie vier zu verdienen ? Sie war so hübsch und zierlich und lebhaft und von überbordender Intensität und Lustigkeit. Obwohl vom Waschsoda rot und rissig, waren ihre Hände doch hübsch geformt und hatten wunderschön geschwungene ovale Nägel. Jeder sagte, es sei doch schade, dass eine so zierliche, schöne Frau wie Katie Nolan Fußböden schrubben müsse. Aber was bleibe ihr schon übrig bei dem Mann, den sie habe, sagten sie. Sie räumten ein, dass Johnny Nolan, da könne man sagen, was man wolle, ein hübscher, liebenswerter Kerl sei, weit hübscher und liebenswerter als jeder andere im Block. Aber er sei eben ein Säufer. Das sagten sie, und sie hatten recht damit.

Francie steckte die acht Cent vor Mamas Augen in die Spardose. Sie mutmaßten freudige fünf Minuten lang, wie viel wohl in der Dose sein könnte. Francie glaubte, es müssten wohl an die hundert Dollar sein. Mama sagte, acht kämen der Wahrheit näher.

Mama gab Francie Anweisungen, etwas fürs Mittagessen kaufen zu gehen. »Nimm aus dem Topf mit dem Sprung acht Cent und hol einen Viertellaib jüdisches Roggenbrot, sieh aber zu, dass es frisch ist. Dann noch einen Fünfer, mit dem gehst du zu Sauerwein’s und fragst nach Zunge, einem Endstück, für einen Fünfer.«

»Aber dafür muss man sich gut mit ihm stehen.«

»Sag ihm, deine Mutter hat es gesagt«, beharrte Katie. Sie dachte über etwas anderes nach. »Ich überlege, ob wir noch für fünf Cent Zuckerwecken kaufen oder das Geld in die Dose tun sollen.«

»Ach, Mama, es ist doch Samstag. Die ganze Woche hast du gesagt, Samstag gibt’s einen Nachtisch.«

»Na gut. Hol die Wecken.«

Die kleine jüdische Feinkosthandlung war voller Christen, die jüdisches Roggenbrot kauften. Sie sah zu, wie der Mann ihren Viertellaib in eine Tüte schob. Mit seiner herrlich knusprigen und doch feinen Kruste und der bemehlten Unterseite ist es das bei weitem herrlichste Brot der Welt, dachte sie, wenn es frisch ist. Zögernd betrat sie Sauerweins Geschäft. Manchmal war er bei der Zunge verträglich, manchmal auch nicht. Geschnittene Zunge zu fünfundsiebzig Cent das Pfund war nur etwas für Reiche. Aber wenn fast alles verkauft war, bekam man das ganze Ende für einen Fünfer, wenn man sich mit Mr Sauerwein gutstand. Allerdings war am Zungenende nicht mehr viel dran. Es war vor allem weich, hatte kleine Knochen und Knorpel und erinnerte nur noch entfernt an Fleisch.

Zufällig hatte Mr Sauerwein einen verträglichen Tag. »Die Zunge ist gestern ans Ende gekommen«, sagte er zu Francie. »Aber ich hab’s für euch aufgehoben, weil ich weiß, dass deine Mama Zunge mag, und ich mag deine Mama. Sag ihr das, hörst du ?«

»Ja, Sir«, wisperte Francie. Sie blickte zu Boden, da sie merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Sie hasste Mr Sauerwein und würde Mama nicht erzählen, was er gesagt hatte.

Beim Bäcker wählte sie vier Wecken aus, ganz bewusst die mit dem meisten Zucker darauf. Vor dem Geschäft stieß sie auf Neeley. Er linste in die Tüte und machte vor Freude einen Luftsprung, als er die Wecken sah. Obwohl er schon am Morgen Süßigkeiten für vier Cent verdrückt hatte, war er sehr hungrig und trieb Francie an, den ganzen Weg nach Hause zu rennen.

Papa kam zum Abendessen nicht nach Hause. Er war freiberuflicher singender Kellner, was bedeutete, dass er nicht sehr oft arbeitete. Zumeist verbrachte er den Samstag in der Gewerkschaftszentrale, wo er auf eine Anstellung wartete.

Francie, Neeley und Mama aßen ein sehr schönes Mittagsmahl. Jeder bekam eine dicke Scheibe »Zunge«, zwei Scheiben herrlich riechendes, mit ungesalzener Butter bestrichenes Roggenbrot, einen Zuckerwecken und einen Becher starken, heißen Kaffees mit einem Teelöffel gesüßter Kondensmilch dazu.

Für die Nolans war Kaffee etwas Besonderes. Er war ihr einziger großer Luxus. Mama machte jeden Morgen eine große Kanne voll und wärmte ihn zum Mittag- und Abendessen auf, sodass er im Lauf des Tages immer stärker wurde. Es war eine Riesenmenge Wasser und sehr wenig Kaffee, aber Mama tat ein Klümpchen Zichorie dazu, wodurch er kräftig und bitter schmeckte. Jedem standen pro Tag drei Tassen mit Milch zu. Ansonsten durfte man sich jederzeit, wenn einem danach war, eine Tasse schwarzen Kaffee nehmen. Manchmal, wenn man gar nichts hatte und es regnete und man allein in der Wohnung war, war es herrlich zu wissen, dass man wenigstens etwas hatte, selbst wenn es nur eine Tasse schwarzen, bitteren Kaffees war.

Neeley und Francie liebten Kaffee, tranken ihn aber nur selten. Heute ließ Neeley wie immer seinen Kaffee schwarz und nahm seine Kondensmilch als Brotaufstrich. Um der Form willen schlürfte er ein bisschen schwarzen Kaffee. Mama schenkte Francie ihren Kaffee ein und tat die Milch dazu, obwohl sie wusste, dass das Kind ihn nicht trinken würde.

Francie liebte den Geruch von Kaffee und dass er heiß war. Während sie ihr Brot und Fleisch aß, hielt sie den Becher mit einer Hand umfasst und genoss seine Wärme. Hin und wieder roch sie an der bitteren Süße. Das war besser, als ihn zu trinken. Nach dem Essen kam er in den Ausguss.

Mama hatte zwei Schwestern, Sissy und Evy, die häufig kamen. Jedes Mal, wenn sie sahen, wie der Kaffee weggeschüttet wurde, hielten sie Mama einen Vortrag über Verschwendung.

Mama erklärte : »Francie hat das Recht auf eine Tasse pro Mahlzeit wie alle anderen auch. Wenn sie ihn lieber weggießt, statt ihn zu trinken, ist das in Ordnung. Ich finde es gut, dass Leute wie wir hin und wieder auch mal was wegschütten können und ein Gefühl dafür bekommen, wie es wäre, einen Haufen Geld zu haben und sich übers Schnorren keine Gedanken machen zu müssen.«

Dieser eigenartige Standpunkt befriedigte Mama und erfreute Francie. Er war eine der Verbindungen zwischen den zermürbten Armen und den verschwenderischen Reichen. Das Mädchen fand, dass sie, selbst wenn sie weniger als alle anderen in Williamsburg besäße, doch mehr hatte. Sie war reicher, weil sie etwas zu verschwenden hatte. Sie aß ihren Zuckerwecken langsam, um den süßen Geschmack zu verlängern, während der Kaffee eiskalt wurde. Genüsslich goss sie ihn in die Spüle und fühlte sich dabei wie eine Königin. Danach war sie bereit, zu Losher’s zu gehen und den halbwöchentlichen Familienvorrat an altem Brot zu holen. Mama sagte ihr, sie könne sich zwei Zehner nehmen und auch eine altbackene Pastete kaufen, wenn es eine gab, die nicht zu sehr zerdrückt war.

Die Brotfabrik Losher’s belieferte die Geschäfte in der Nachbarschaft. Das Brot war nicht in Wachspapier gewickelt und wurde schnell hart. Losher’s holte das alte Brot wieder bei den Händlern ab und verkaufte es den Armen zum halben Preis. Die Verkaufsstelle war gleich neben der Bäckerei. Der lange, schmale Ladentisch nahm eine Seite ein, an den beiden anderen standen lange, schmale Bänke. Hinterm Ladentisch war eine riesige Doppeltür. Dort fuhren die Bäckerwagen heran und entluden das Brot direkt auf den Tisch. Zwei Laibe gab es für einen Fünfer, und wenn das Brot entladen wurde, raufte eine drängelnde Menge um das Vorrecht, es zu kaufen. Es gab nie genug Brot, und manche warteten drei oder vier Wagenladungen ab, bis sie endlich welches kaufen konnten. Bei diesem Preis mussten die Kunden ihre eigenen Tüten mitbringen. Die meisten Käufer waren Kinder. Manche klemmten sich das Brot unter den Arm und taten auf dem Heimweg aller Welt schamlos kund, dass sie arm waren. Die Stolzen wickelten das Brot ein, manche in alte Zeitungen, andere in saubere oder schmutzige Mehlsäcke. Francie hatte eine große Papiertüte dabei.

Sie versuchte nicht gleich, ihr Brot zu bekommen. Sie setzte sich auf eine Bank und schaute. Ein Dutzend Kinder drängelten sich kreischend vor dem Ladentisch. Auf der Bank gegenüber dösten vier alte Männer. Die alten Männer, die als Rentner bei ihren Familien lebten, mussten Besorgungen machen und Babys hüten, die einzige Arbeit, die alten, verbrauchten Männern in Williamsburg noch blieb. Sie warteten, solange sie konnten, bevor sie kauften, weil es bei Losher’s so freundlich nach backendem Brot roch und die Sonne, die durch die Fenster kam, ihrem alten Rücken guttat. Da saßen sie und dösten, während die Stunden vergingen, und hatten das Gefühl, dass sie die Zeit ausfüllten. Das Warten gab ihnen eine Weile lang einen Lebenssinn, und fast fühlten sie sich wieder gebraucht.

Francie starrte den ältesten Mann an. Sie spielte ihr Lieblingsspiel, andere Leute zu ergründen. Seine dünnen, wirren Haare waren vom selben schmutzigen Grau wie die Stoppeln, die auf seinen eingefallenen Wangen standen. Getrocknete Spucke klebte in den Mundwinkeln. Er gähnte. Er hatte keine Zähne mehr. Fasziniert und abgestoßen sah sie zu, wie er den Mund zuklappte, die Lippen nach innen zog, bis kein Mund mehr da war, und das Kinn fast bis zur Nase hob. Sie musterte seinen alten Mantel, bei dem das Futter aus der aufgeplatzten Ärmelnaht hing. Die Beine hatte er in hilfloser Erschlaffung breit ausgestreckt, und an seinem mit Schmutz verkrusteten Hosenschlitz fehlte ein Knopf. Sie sah, dass seine Schuhe zerbeult und an der Spitze aufgebrochen waren. Ein Schuh war mit einem mehrfach verknoteten Senkel zugeschnürt, der andere mit einem verdreckten Zwirn. Sie sah zwei dicke fleckige Zehen mit knittrigen grauen Nägeln. Ihre Gedanken schweiften.

»Er ist alt. Er ist bestimmt über siebzig. Er wurde um die Zeit geboren, als Abraham Lincoln noch lebte und sich anschickte, Präsident zu werden. Damals war Williamsburg sicher noch ein kleiner Landflecken, und vielleicht haben in Flatbush noch Indianer gelebt. Das ist so lange her.« Sie starrte ihm weiter auf die Füße. »Er war auch mal ein Baby. Da war er bestimmt süß und sauber, und seine Mutter hat ihn auf seine kleinen rosa Zehen geküsst. Vielleicht kam sie, wenn es nachts donnerte, zu seinem Bettchen, steckte ihm die Decke zurecht und flüsterte ihm zu, er brauche keine Angst zu haben, seine Mutter sei ja da. Dann hob sie ihn hoch, legte ihm die Wange auf den Kopf und sagte, er sei doch ihr süßes Baby. Vielleicht war er ja ein Junge wie mein Bruder, der ständig türschlagend ins Haus rannte und wieder hinaus. Und während seine Mutter ihn schalt, dachte sie, dass er eines Tages vielleicht Präsident wird. Dann war er ein junger Mann, ein starker, glücklicher. Wenn er auf der Straße ging, lächelten die Mädchen und drehten sich nach ihm um. Er lächelte zurück und zwinkerte vielleicht dem hübschesten zu. Dann dürfte er wohl geheiratet und Kinder bekommen haben, und für die war er der wundervollste Papa auf der Welt, weil er so hart arbeitete und ihnen zu Weihnachten Spielsachen schenkte. Jetzt werden seine Kinder auch alt wie er, und sie haben Kinder und keiner will den alten Mann mehr, und sie warten darauf, dass er stirbt. Aber er will gar nicht sterben. Er will weiterleben, obwohl er so alt ist und es nichts mehr gibt, was ihn glücklich machen kann.«

Es war still im Raum. Die Sommersonne strömte herein und bildete staubige, schräge Straßen vom Fenster bis zum Fußboden. Eine große grüne Fliege summte in dem besonnten Staub herum. Bis auf sie selbst und die dösenden alten Männer war niemand da. Die Kinder, die auf Brot gewartet hatten, spielten jetzt draußen. Ihre hohen, schrillen Stimmen schienen von weit her zu kommen.

Plötzlich sprang Francie auf. Ihr Herz schlug rasend schnell. Sie hatte Angst. Ohne jeden Grund dachte sie an ein Akkordeon, das zu einem vollen Ton ganz ausgefahren war. Dann sah sie, wie das Akkordeon zuging … zuging … zuging … Eine furchtbare, namenlose Panik überfiel sie, als ihr klar wurde, dass viele niedliche Babys nur auf die Welt kamen, um eines Tages so zu enden wie dieser alte Mann. Sie musste raus hier, sonst würde das auch mit ihr passieren. Mit einem Mal wäre sie eine alte Frau, zahnlos und mit Füßen, vor denen die Leute sich ekelten.

In dem Moment wurden die Türen hinterm Ladentisch aufgestoßen, und ein Brotwagen fuhr heran. Ein Mann stellte sich hinter den Ladentisch. Der Fahrer machte sich daran, ihm Brote zuzuwerfen, die er dann auf dem Ladentisch aufstapelte. Die Kinder auf der Straße hatten gehört, wie die Türen aufgestoßen wurden, und wuselten nun um Francie herum, die aber schon den Ladentisch erreicht hatte.

»Ich will Brot !«, rief Francie. Ein großes Mädchen gab ihr einen kräftigen Schubs und fragte sie, wofür sie sich denn halte. »Kann dir doch egal sein !«, sagte Francie zu ihr. »Ich will sechs Laibe und eine Pastete, nicht zu gedrückt !«, schrie sie.

Von ihrer Heftigkeit beeindruckt, schob der Verkäufer ihr sechs Laibe und die am wenigsten ramponierte Pastete hin und nahm ihre zwei Zehner. Sie rempelte sich durch die Menge, wobei sie einen Laib fallen ließ, den sie nur mit Mühe wieder aufheben konnte, weil zum Bücken kaum Platz war.

Draußen setzte sie sich auf den Bordstein und steckte die Brote und den Kuchen in die Papiertüte. Eine Frau kam mit einem Kinderwagen vorbei. Das Baby darin schlenkerte die Füße in der Luft. Francie schaute hin und sah nicht den Babyfuß, sondern ein groteskes Ding in einem großen, abgewetzten Schuh. Erneut überfiel sie Panik, und sie rannte den ganzen Weg nach Hause.

Die Wohnung war leer. Mama hatte sich fein gemacht und war mit Tante Sissy zu einer Matinee gegangen, die Plätze auf der Galerie zu zehn Cent. Francie verstaute Brot und Pastete und legte die Tüte fürs nächste Mal säuberlich zusammen. Sie ging in das winzige, fensterlose Schlafzimmer, das sie mit Neeley teilte, setzte sich im Dunkeln auf ihr Bett und wartete darauf, dass die Panikwellen sie nicht mehr überschwemmten.

Nach einer Weile kam Neeley herein, kroch unter sein Bett und kam mit einem ramponierten Baseballschläger wieder hervor.

»Wohin gehst du ?«, fragte sie.

»Auf die Parzellen, Ball spielen.«

»Kann ich mit ?«

»Nein.«

Sie folgte ihm hinunter bis auf die Straße. Drei aus seiner Bande warteten auf ihn. Einer hatte einen Schläger, ein anderer einen Baseball, und der dritte hatte nichts, er trug nur eine Baseballhose. Sie machten sich zu einer leeren Parzelle Richtung Greenpoint auf. Neeley sah, dass Francie ihnen folgte, sagte aber nichts. Einer der Jungen stupste ihn an und sagte :

»He ! Deine Schwester läuft uns hinterher.«

»Ja«, bestätigte Neeley. Der Junge drehte sich um und schrie Francie zu :

»Zieh Leine !«

»Das ist ein freies Land«, erklärte Francie.

»Das ist ein freies Land«, wiederholte Neeley dem Jungen gegenüber. Danach beachteten sie Francie nicht mehr. Sie folgte ihnen weiter. Bis zwei Uhr, wenn die Stadtteilbücherei wieder öffnete, hatte sie nichts zu tun.

Es war ein langsamer Gang voller Albereien. Die Jungen blieben stehen, um im Rinnstein nach Stanniolpapier zu suchen und sich nach Zigarettenkippen zu bücken, die sie aufbewahrten, um sie am nächsten verregneten Nachmittag im Keller zu rauchen. Sie nahmen sich die Zeit, um einen kleinen Judenjungen auf seinem Weg zum Tempel zu quälen. Sie hielten ihn fest und beratschlagten dabei, was sie mit ihm machen würden. Der Junge stand, demütig lächelnd, dabei. Schließlich entließen die Christen ihn mit detaillierten Verhaltensanweisungen für die kommende Woche.

»Lass deine Fresse nicht in der Devoe Street blicken«, geboten sie ihm.

»Bestimmt nicht«, versprach er. Die Jungen waren enttäuscht. Sie hatten mehr Widerstand erwartet. Einer holte ein Stück Kreide aus der Tasche, zog eine wellige Linie auf den Gehsteig und befahl :

»Tret ja nie über diese Linie.«

Der Junge wusste, dass er sie gekränkt hatte, indem er zu schnell nachgegeben hatte, und beschloss daher, ihr Spiel mitzumachen.

»Kann ich denn nicht mal einen Fuß in die Gosse setzen, Jungs ?«

»Du kannst nicht mal in die Gosse spucken«, wurde er beschieden.

»Na gut.« Er seufzte in vermeintlicher Resignation.

Einer der größeren Jungen hatte eine Eingebung. »Und halt dich von den Christenmädchen fern, hörst du ?« Sie gingen weiter, und er starrte ihnen hinterher.

»Meydl !«, flüsterte er und verdrehte seine großen braunen jüdischen Augen. Die Vorstellung, dass diese Gojim ihn als so männlich erachteten, dass er überhaupt an Mädchen dachte, jüdische oder nicht, verschlug ihm die Sprache, und er ging weiter, wobei er immerzu Meydl stammelte.

Die Jungen liefen langsam weiter, schauten den Größten, der das mit den Mädchen gesagt hatte, lauernd an und warteten gespannt, ob er sie wohl in schmutzige Reden verwickeln würde. Doch noch bevor das beginnen konnte, hörte Francie ihren Bruder sagen :

»Den Jungen kenn ich. Das ist ein weißer Jude.« Neeley hatte Papa so von einem jüdischen Barkeeper sprechen hören, den er mochte.

»Ein weißer Jude, so was gibt’s doch gar nicht«, sagte der große Junge.

»Aber wenn’s so einen gäbe«, sagte Neeley mit dieser Kombination aus Zustimmung und gleichzeitigem Festhalten an seiner Meinung, die ihn so liebenswert machte, »dann wär er das.«

»Einen weißen Juden könnt’s nie geben«, sagte der große Junge, »nicht mal als Annahme.«

»Unser Herrgott war Jude.« Neeley zitierte da Mama.

»Und andere Juden haben ihn aber getötet«, stellte der große Junge klar.

Bevor sie tiefer in die Theologie eintauchten, sahen sie einen anderen kleinen Jungen, der, einen Korb am Arm, von der Humboldt Street in die Ainslie Street einbog. Der Korb war mit einem sauberen, zerschlissenen Tuch bedeckt. An einem Ende des Korbs ragte ein Stock heraus, und darauf steckten gleich einer schlaffen Fahne sechs Brezeln. Der große Junge aus Neeleys Bande gab einen Befehl aus, worauf sie dicht an dicht zu dem Brezelverkäufer hinrannten. Der blieb stehen, machte den Mund auf und plärrte lauthals »Mama !«.

Im ersten Stock flog ein Fenster auf, und eine Frau, die sich einen Kimono aus einer Art Krepppapier vor die ausladenden Brüste hielt, schrie herab :

»Lasst ihn ja in Ruhe und verschwindet von dem Block hier, ihr verlausten Rotznasen.«

Francie schlug sich die Hände auf die Ohren, damit sie bei der Beichte dem Priester nicht sagen musste, sie habe ein schlimmes Wort mit angehört.

»Wir machen doch gar nichts, Lady«, sagte Neeley mit dem einschmeichelnden Lächeln, das seine Mutter immer für ihn einnahm.

»Darauf kannst du Gift nehmen, du. Nicht, solange ich da bin.« Dann rief sie, ohne den Ton zu wechseln, ihrem Sohn zu : »Und du komm hier hoch, ja. Ich lern dir, mich zu stören, wenn ich mich hingelegt hab.« Der Brezeljunge ging nach oben, und die Bande schlenderte weiter.

»Die Lady ist hart.« Der große Junge zeigte mit dem Kopf auf das Fenster.

»Ja«, pflichteten die anderen bei.

»Mein Alter ist auch hart«, wagte ein kleinerer Junge.

»Wen interessiert das schon ?«, fragte der große Junge gelangweilt.

»Hab ja bloß gemeint«, entschuldigte sich der kleinere Junge.

»Mein Alter ist nicht hart«, sagte Neeley. Die Jungen lachten.

Sie bummelten weiter, wobei sie hin und wieder stehen blieben, um den Geruch des Newtown Creek einzusaugen, der entlang der Grand Street ein paar Blocks weit in seinem engen Bett dahinströmte.

»Gott, stinkt das«, bemerkte der große Junge.

»Ja !« Neeley klang zutiefst befriedigt.

»Ich wette, dass ist der schlimmste Gestank auf der Welt«, prahlte ein anderer Junge.

»Ja.«

Und auch Francie flüsterte zustimmend Ja. Sie war stolz auf diesen Geruch. Er sagte ihr, dass in der Nähe ein Wasserlauf war, der, wie schmutzig auch immer, in einen Fluss mündete, der ins Meer floss. Für sie stand der gewaltige Gestank für in die Ferne fahrende Schiffe und Abenteuer, daher erfreute sie sich daran.

Als die Jungen die Parzelle erreichten, auf der ein Baseballfeld grob ausgetrampelt war, flatterte ein kleiner gelber Schmetterling über das Unkraut. Mit dem menschlichen Instinkt, alles, was rennt, schwimmt oder kriecht, einzufangen, warfen sie ihre zerschlissenen Kappen nach ihm, bevor sie selbst folgten. Neeley erwischte ihn. Die Jungen betrachteten ihn kurz, verloren rasch das Interesse daran und begannen ein Baseballspiel zu viert nach ihren eigenen Regeln.

Sie spielten wie die Wilden, fluchten, schwitzten und rempelten einander. Kam ein Stromer vorbei und blieb einen Moment lang stehen, machten sie Faxen und posierten. Es ging das Gerücht, dass die Brooklyn’s samstagnachmittags hundert Scouts zu den Parzellen schickten, um Spiele anzusehen und verheißungsvolle Spieler herauszupicken. Und in Brooklyn gab es keinen Jungen, der nicht lieber bei den Brooklyn’s spielen, als Präsident der Vereinigten Staaten sein wollte.

Nach einer Weile hatte Francie keine Lust mehr, den Jungen zuzuschauen. Sie wusste, dass sie spielen, kämpfen und posieren würden, bis es Zeit war, zum Abendessen nach Hause zu bummeln. Es war zwei Uhr. Inzwischen müsste die Bibliothekarin vom Mittagessen zurück sein. Voller Vorfreude ging Francie Richtung Bücherei.