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BORIS VON BRAUCHITSCH

Gabriele Münter

Eine Biografie

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

INHALT

Vorspann: Prinz Yussuf und die Null

Stationen der Kindheit und Jugend: Von Berlin nach Düsseldorf

Die Reise nach Amerika

EXKURS: Geborene Dilettantinnen

Aufbruch nach München

Unterwegs mit Kandinsky

EXKURS: Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen

Ein Spätsommer in Oberbayern

Lähmendes München: Münter und die Neue Künstlervereinigung München

Das Jüngste Gericht

EXKURS: Frei nach eigenem Gesetz. Gabriele Münter über ihr Bild »Mann im Sessel«

Der Blaue Reiter und die Motte

Der lange Abschied von Kandinsky

EXKURS: Abstraktion, Ungegenständlichkeit und ein Stillleben mit geflecktem Hund

Die Ohren weit auf: Jahre in Skandinavien

Die grauen Zwanziger

Frühstück der Vögel: Zurück in Murnau

Zeitzeugin, Stifterin und ein Platz in der Kunstgeschichte: Die Nachkriegsjahre

Bibliografie

Anmerkungen

Bildnachweis

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Abb. 1: Gegen Abend, 1909

Vorspann: Prinz Yussuf und die Null

München, Mitte Januar 1913. Die Stimmung ist entspannt, man registriert, wer da ist, plaudert nett miteinander, tauscht sich aus über das Neueste, auch wenn sich in Wahrheit die gegenseitige Wertschätzung in Grenzen hält. Nichts Besonderes also, eines jener kulturellen Ereignisse, wie sie sich eben von Zeit zu Zeit ereignen und die es nicht zu verpassen gilt, will man dazugehören.

In den repräsentativen Räumen der vielleicht bedeutendsten Galerie der Moderne, der Galerie Thannhauser, eröffnet die Retrospektive des Malers Franz Marc. Eine ganze Reihe von Besuchern ist gekommen, darunter auch die Dichterin Else Lasker-Schüler, die den Künstler gerade erst in Berlin kennengelernt hat. Sie ist eigens aus Berlin angereist. Zeit hat sie nicht vergeudet, sondern gleich als Prinz Yussuf von Theben mit ihrem blauen Reiter einen märchenhaft-poetischen Briefwechsel begonnen. Sie spürt die Seelenverwandtschaft. Doch an diesem Abend, an dem sie in Begleitung von Marcs Freundin Maria Franck dessen Ausstellung besucht, sieht sie zum ersten Mal seine großen Bilder und steht tiefbewegt Auge in Auge mit den Katzen, dem Affen, den Pferden, dem Tiger.

Und dann trifft sie zwischen all dieser aufregenden Exotik auf eine Frau, die ihr überhaupt nicht gefällt, die so gar nichts Extravagantes besitzt und doch so provozierend geradlinig auftritt. Eine Frau, die einfach und direkt über Kunst spricht und deren Ziel es zu sein scheint, das Unsagbare, die Verzauberung zu unterlaufen: Gabriele Münter.

Es ist eine Geste der Höflichkeit, dass man zusammen von Bild zu Bild geht. Gabriele Münter hat etwas zu sagen zu diesen Werken, so viel wird schnell klar, denn sie kennt Franz Marc schon länger und hat sein Schaffen und seine Entwicklung aufmerksam verfolgt. Doch je mehr sie sich auf die Bilder einlässt, desto mehr vibriert das Künstler-Ego im Körper von Prinz Yussuf, aus dem es schließlich schwärmerisch herausbricht: »Dies Bild hat mich am tiefsten berührt!«, ruft die Dichterin aus und weist unbestimmt in den Raum. Münter folgt mit ihrem Blick der Geste, sieht, das Pathos ignorierend, ihr Gegenüber an und fragt mit großer Ernsthaftigkeit:

»Welches? Der Affe oder der Tiger?«

Was für eine Frage. Würde sich Lasker-Schüler mit weniger als einem Tiger zufriedengeben? Will diese kleine, graue Frau, die solche Fragen stellt, den Prinzen Yussuf zum Affen machen, oder weiß sie nicht, wen sie vor sich hat?

»Der Tiger«, antwortet sie, ihre Wut notdürftig im Zaum haltend.

»Und was berührt Sie so an dem Bild?«

Jetzt ist das Maß endgültig voll. Hält diese Person sich für die Inquisition?

»Das Gefährliche in dem Bild«, flüstert Else Lasker-Schüler nur noch. Was sonst. Und damit gut. Prinz Yussuf wendet sich ab, man geht auseinander, jeder seiner Wege.

Doch dann, urplötzlich, dreht sich der Prinz auf dem Absatz um, stapft entschlossen auf Gabriele Münter zu und ruft, dass es die Umstehenden deutlich vernehmen: »Gnädige Frau, wie kommen Sie dazu, mich zu beleidigen? Ich bin Künstlerin durch und durch!«

Nun ist es an Gabriele Münter, um Fassung zu ringen.

Die Schönheit, die Dimensionen dieser Bilder, ja glaubt die gnädige Frau eigentlich, sie sei berufen, darüber zu sprechen und ihr, der Dichterin, die ihren blauen Reiter in ganz anderen Sphären kennt, auch noch Fragen stellen zu können?

»Ich bin Künstlerin! Ich bin stark!«, ruft Lasker-Schüler in den Saal. Ein Dämon ist entfesselt, der nun redet und redet, über die wunderbaren Bilder, und sich wütend gebärdet gegen diese gnädige Frau. Maria Franck, die versucht, sich dazwischenzuwerfen, ist gleichfalls machtlos gegen die Kraft der Empörung. Dann hält der Prinz inne und richtet seinen Blick auf Gabriele Münter, um sie final und vernichtend zu treffen.

»Ich bin stark«, bricht es aus ihr hervor, »ein ganz starker Mensch, und ich lasse mir das nicht bieten von solch einer Null

Eine Szene, wie in einem bösen Traum – so notierte die zukünftige Maria Marc ein paar Tage später – oder wie man sie schon mal im Theater sieht. Sie stand nur dabei und merkte, wie es ihr grüner und blauer wurde vor Augen, grüner und blauer als auf den Bildern von Franz Marc. Ihr Zittern und ihre Aufregung waren so groß, dass Gabriele Münter sie schließlich beruhigen musste.1

Stationen der Kindheit und Jugend
VON BERLIN NACH DÜSSELDORF

Am 19. Februar 1877, die Einwohnerzahl des wild wuchernden Berlins überschritt gerade die Millionengrenze, wurde Gabriele Münter geboren. Die Adresse der Beletage Unter den Linden 58 war repräsentativ und entsprach dem amerikanischen Traum ihres Vaters Carl Friedrich Münter, den er einst in New York begonnen hatte zu träumen und den er in Deutschland zu vollenden suchte. Im Berliner Adressbuch zuletzt als »Amerikanischer Dentist und Hof-Zahnarzt« eingetragen, war der Westfale Münter, 1826 geboren, als 23-Jähriger zusammen mit einem Freund nach Amerika ausgewandert, wohl auch, um als liberaler Geist, der sich in den Jahren der deutschen Revolution von 1848 verfolgt sah, seine Ideale in der Ferne leben zu können.

Glaubt man den Aufzeichnungen von Münters späterem Lebensgefährten, dem Kunsthistoriker und Philosophen Johannes Eichner, so hat die Emigration nicht ganz freiwillig stattgefunden. Der Überschwang seiner Freiheitsrhetorik soll dazu geführt haben, dass Carl Friedrichs Vater, seinerseits Steuerbeamter in den Diensten des Königs, den aus der Art geschlagenen Sohn mittellos in Richtung Vereinigte Staaten einschiffte.2

Dort begann er nach der Landung in New York als Krämer in Quincy (Illinois), einem Städtchen, dessen Architektur im South Side District – wegen der zahlreichen dort gehaltenen Kälber auch Calftown genannt – bis heute von den deutschen Einwanderern zeugt. Die Hälfte der ansässigen Jakobi-Gemeinde bestand um 1850 wiederum aus ehemaligen Herfordern. 1852 heiratete Carl Friedrich Münter in der lutherischen St. James Church Mary Lucinde Richardson, eine junge Witwe, die ihn wiederum bald zum Witwer machte.

Den Grundstein für einen sozialen Aufstieg legte schließlich ein Studium am Dental College von Cincinnati, nach dessen Abschluss er eine zweite Ehe einging. An der Seite von Wilhelmine »Minna« Scheuber, der robusten Tochter eines ebenfalls in die USA ausgewanderten Schreiners und Holzhändlers, lebte Carl Friedrich Münter ab 1857 in verschiedenen Orten Tennessees, in Jackson, in Nashville und schließlich im Städtchen Savannah, wo das Paar einen Drugstore mit angeschlossener Zahnarztpraxis führte.

Inwieweit das Leben in einem Staat mit 270 000 Leibeigenen und in einer Gemeinde mit weniger als 500 Einwohnern mit seinem Freiheitsgeist in Einklang zu bringen war, lässt sich schwer sagen, er selbst hatte aber offenbar keine Hemmungen, seinerseits in Haus und Praxis »Negersklaven« zu beschäftigen. Dennoch, so merkte Gabriele Münter in späten Erinnerungen an, begegnete man den deutschen Emigranten mit Skepsis. Schon weil sie als Kaufleute, anders als die Plantagenbesitzer, nicht so dringend auf billige Arbeitskräfte angewiesen waren und sich auch deshalb Vorbehalte gegen die Sklaverei leisteten. »Die meisten waren außerdem als politische Flüchtlinge, die an die Menschenrechte glaubten, in die Staaten gekommen. Sie erregten bei den Nachbarn den Argwohn, auf Seiten der Gegner der Sklaverei, das heißt der Nordstaaten, zu stehen.«3

Carl Friedrich Münter konnte während seiner amerikanischen Jahre beobachten, wie der Nord-Süd-Konflikt eskalierte, wie nicht nur die Frage der Sklaverei, sondern vor allem die gegensätzlichen Vorstellungen von der Souveränität der Einzelstaaten gegenüber dem Bund immer mehr polarisierten und 1861 zum Sezessionskrieg führten. Als der Krieg im April des folgenden Jahres auch nach Savannah kam und die Schlacht von Shiloh direkt vor seiner Haustür ausgetragen wurde, mögen sich die Zweifel erhärtet haben. Spätestens mit dem Gedanken an die Zukunft seiner noch ungeborenen Kinder sah er im Jahr darauf endgültig den Zeitpunkt gekommen, den Vereinigten Staaten wieder den Rücken zu kehren. Ab 1864 war er in Berlin registriert, und während der kommenden 13 Jahre kamen hier seine vier Kinder zur Welt: August (1865), Carl Theodor (1866), Emmy (1869) und Gabriele (1877).

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Abb. 2: Familie Münter um 1882. Sitzend die Eltern Wilhelmine und Carl Friedrich Münter, zwischen ihnen Gabriele und August, links Carl Theodor, rechts Emmy

Jahrelang hatte er im Wilden Westen überlebt, hatte, auch dank seiner zunächst als besonders fortschrittlich angesehenen amerikanischen Ausbildung, den gesellschaftlichen Aufstieg in Berlin geschafft und war mit dem Titel des Hof-Zahnarztes bekrönt worden, der später in Stein gemeißelt selbst noch auf seinem Grabstein prangen sollte. Jetzt aber schien es dem Nomaden an der Zeit, sich auf seine familiären Wurzeln zu besinnen, zumal er beim Gründerkrach 1873 spürbar Kapital an der Börse eingebüßt hatte und ein etwas bescheidenerer Lebenswandel angemessen schien. 1879 siedelte die Familie daher zunächst nach Herford über, wo sie ein repräsentatives Haus baute, um dann ins benachbarte Oeynhausen zu ziehen. Gabriele Münter verbrachte somit einen Großteil ihrer Kindheit im Norddeutschen Tiefland zwischen Wiehengebirge und Teutoburger Wald. Wirklich sesshaft wurden die Münters nie, und so fand sich die Familie bald schon in Koblenz wieder, wo Carl Friedrich Münter 1886 starb. Gabriele war neun Jahre alt. Nur zwei Jahre später – er hatte dem Beispiel seines Vaters folgend in den USA Zahnmedizin studiert – starb auch der älteste Sohn August.

Wilhelmine Münter blieb mit einer kleinen Tochter und zwei halbwegs erwachsenen Kindern zurück. Sie war immer die gradlinige Amerikanerin geblieben, hatte nie akzentfrei Deutsch gelernt und machte sich nichts aus feinem Gesellschaftsleben. »Durch ihr entwurzeltes Leben schritt sie gelassen und wortkarg, ohne einen Anflug von Gefühlszerrissenheit«, schrieb Eichner, auf den Erinnerungen Gabriele Münters basierend. »Überall bewegte sie sich mit der natürlichen Sicherheit eines Menschen, der in sich selbst fest ist und keinen falschen Schein kennt.«4

Die charakterlichen Parallelen zu ihrer jüngsten Tochter, die Eichner suggeriert, sind unverkennbar. Gabriele, seit Kindertagen nur »Ella« genannt, ist »nicht auf Wirkung bedacht; sie blieb innerlich. Das angeborene Sein und die unwillkürliche Regung bestimmten Tun und Lassen.« Äußerlich unscheinbar, bewahrte sie in sich doch das urwüchsige und unverbildete Enfant terrible, verweigerte nicht nur schulische Zwänge und füllte stattdessen freie Stellen ihrer Schulbücher mit Zeichnungen von Köpfen, was wiederum manche Bildungslücke zur Folge hatte, sondern bewahrte sich auch den Charme der Autodidaktin, der ihr gesamtes Dasein in allen Aspekten durchzog.5 Sie empfand sich von ihrer Mutter auf unbestimmte Art alleingelassen, ein Gefühl, dass ihr nicht so unangenehm war, wie es klingen mag, sondern ihr eine Quelle bedeutete, aus der sie für sich selbst schöpfen konnte: »Dass meine Vorfahren mir die künstlerische Begabung mitgegeben hätten, lässt sich weder nachweisen noch herausdeuten. Meine frühe Neigung zum Zeichnen kam ganz aus mir selbst und fand in meiner Familie so wenig Förderung wie in der Schule.«6 Dass Gabriele Münter das so vehement betont, ist auch vor dem Hintergrund der kunstgeschichtlichen Tatsache zu sehen, dass erfolgreiche Künstlerinnen auch im 19. Jahrhundert noch fast durchweg aus Familien stammen, in denen die Kunst bereits gepflegt wurde, Väter oder Brüder selbst als Künstler tätig waren und ein begabtes weibliches Familienmitglied in der eigenen Werkstatt einfach mit ausbildeten.

Nach durchgestandener Schulzeit stellte sich für die Tochter aus einem zugleich unkonventionellen und gutbürgerlichen Elternhaus die Frage nach dem weiteren Lebensweg. Zunächst konnte es für Außenstehende so scheinen, als ginge es auch für sie darum, die Zeit bis zu einer Eheschließung mit Gesellschaftsleben und musischem Dilettieren herumzubringen. Sie fuhr Schlittschuh und ritt aus, besuchte die Oper, komponierte Lieder, zeichnete, nahm Tanzstunden und verschlang wahllos Romane, okkultistische Literatur und lehrreiche Sachbücher – Brehms Tierleben war lebenslang ihre Lieblingslektüre.

Sie gehörte nicht mehr zur physisch-materiellen Pioniergeneration, die aus den preußisch-erstarrten Gesellschaftsmustern ausgebrochen war und in Selbständigkeit den sozialen Aufstieg geschafft hatte, sondern entpuppte sich als Protagonistin einer Generation, die eine innerlich-künstlerische Erneuerung anstrebte. Für ihr Potential besaß ihre Familie wenig Gespür, und doch war ihr selbst ihre Begabung zum zeichnerischen Begreifen der Dinge und Menschen so selbstverständlich, dass es der Anregung ihres Bruders Carl Theodor, genannt Charly, bedurfte, bevor sie mit 20 Jahren nach Düsseldorf ging, um einen Blick in den akademischen Kreativbetrieb zu werfen. Mehr als ein Blick war es auch nicht. Denn eine professionelle Ausbildung zur Künstlerin an staatlichen Kunstschulen blieb Frauen ohnehin weitgehend verwehrt, so dass ihnen nur der Weg zu privaten Akademien offenstand, die zum einen Geld kosteten und zum anderen überwiegend Dozenten beschäftigten, die es nicht oder noch nicht zum Professor an einer »richtigen« Akademie gebracht hatten und das Unterrichten des weiblichen Geschlechts folglich auch selbst als zweite Wahl betrachteten. Gabriele Münter mietete sich beim großväterlichen Morten Müller ein, dem norwegischen Meister, der mit wenigen Unterbrechungen seit 50 Jahren in Düsseldorf die Fjorde und Wälder seiner skandinavischen Heimat idealisierte. Die Weite und Sehnsucht, die diese Gemälde atmeten, wirkte bereits ein wenig aus der Zeit gefallen, als Münter bei ihm ihren Wohnsitz nahm, aber sie verfehlten bei der jungen Kunststudentin doch nicht ihre Wirkung. In diesen Bildern begegnete ihr ein erstes Mal jene Landschaft, die auch für sie einmal vorübergehende Wahlheimat werden sollte.

Zermürbend und geistlos erschienen ihr dagegen die Stunden, die sie beim betulichen Düsseldorfer Naturalisten Ernst Bosch mit Kopieren nach Vorlagen, Schraffur-Übungen und dem Modellieren von Gipsköpfen verbrachte. Ohne auch nur den geringsten künstlerischen Impuls mitnehmen zu können, quälte sie sich durchs Semester und entkam bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die freie Natur.

Ihr Fahrrad war ihr Ein und Alles, es garantierte ihr Freiheit und das berauschende Gefühl der Unabhängigkeit. Die Ausflüge unternahm sie verwegen in Hosen und berichtete in ihren Briefen nach Hause von den Abenteuern, die sie auf abschüssigen Schotterstraßen, in plötzlich auftauchenden Bachläufen oder zwischen verstörten Hundemeuten erlebte. Diese Erlebnisse standen im Kontrast zu der wachsenden Resignation, die sie im Atelier von Ernst Bosch auch angesichts der erfolgreicheren Mitschülerinnen ergriff und die sie der Mutter ebenfalls nicht vorenthielt. Die Antwortschreiben, auch sie gekennzeichnet von ihrem amerikanischen Akzent, enthielten gewöhnlich ausführliche Schilderungen leiblicher Genüsse verbunden mit einer Handvoll Ermutigungen und Ermahnungen an die Tochter: »Also bis Sonntag Mittag habe ich berichted. Zur Grünkern Suppe und Hasenbraten gab es Rosenkohl, Kastanien und Appelcompot, als desert Sahnen Baisers. Nachmittag, hat ich Apptit auf Most, also Dampften wir nach Horchheim, musten aber mit schlechtem Kaffe und Federweisem fürlieb nehmen … Das Du aber gleich den Muth sinken läßt, weil die Damen im Atelier mehr können wie Du ist doch Unvernünftig. Du wirst schon noch was lernen, wen Du fleisig bist … Deine treue Mama.«7

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Abb. 3: Gabriele Münter mit neuem Fahrrad, Juli 1897

Am Ende war es ihr Tod, der diesen Düsseldorfer Lebensabschnitt Gabrieles abrupt beendete. 1897 starb Wilhelmine Münter. Sie fand ihre letzte Ruhestätte an der Seite ihres Mannes und ihres ältesten Sohnes auf dem Herforder Friedhof.

Charly heiratete seine Lebensgefährtin und ließ sich in Bonn nieder, Emmy plante, den Kontakt zur amerikanischen Verwandtschaft wiederaufzunehmen, auf eine längere Reise durch die USA zu gehen und damit ein Versprechen einzulösen, das sie ihrer Mutter gegeben hatte. Gabriele war 21 Jahre alt. Und sie stand ziemlich allein und planlos da. Also ließ sie sich ermuntern, ihre Schwester nach Amerika zu begleiten.

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Abb. 4: Donohoo’s Warehouse, Plainview, 1899

Die Reise nach Amerika

Am 29. September 1898 in Rotterdam eingeschifft, erreichten Emmy und Gabriele Münter auf den Spuren ihres Vaters am 9. Oktober New York. Eingemietet im deutschen Ambiente des Hotels Naegeli in der Hudson Street von Hoboken und geführt von einem Importeur für Coburger Actien-Bier, erkundeten sie zehn Tage lang die – nach London – größte Stadt der Welt, bevor sie ihre »Vetterlesreise« zur mütterlichen Verwandtschaft antraten. Zunächst ging es gen St. Louis. Nach zweitägiger Zugfahrt erreichten die Schwestern die Metropole am Mississippi. Mehr noch als die florierende Stadt beeindruckte Gabriele Münter der Strom, doch konnte sie während ihres Aufenthalts – quasi als Beweis für die starke deutsche Prägung der Gemeinde – auch Zeugin der feierlichen Enthüllung eines Schillerdenkmals (eine Kopie nach dem Marburger Monument von Ernst Rau) im St. Louis Place Park werden, dem Herzstück der deutschen Community. Zu Gast waren die Schwestern bei ihrer Tante, der Bankiersgattin Albertine Happel. Während ihres mehr als dreimonatigen Aufenthalts in St. Louis knüpften sie, vor allem mit ihren zahlreichen Cousinen, an das Gesellschaftsleben an, das sie aus Deutschland gewohnt waren: Theater, Konzerte, urbane Kurzweil, dann ein zweitägiger Ausflug zu den Niagara-Fällen in Begleitung eines jungen Mannes, den Emmy auf der Überfahrt kennengelernt hatte.8

Am 6. Februar hieß es dann Abschied nehmen, denn ihr Cousin John war eigens angereist, um Emmy und Gabriele abzuholen und sicher ins rund 450 Kilometer südlich gelegene Dorf Moorefield zu geleiten, wo die nächste Tante lebte. Hier war nicht mehr viel zu spüren von mondäner Zivilisation. Carry Schreibers Familie lebte in der Tradition ihres Vaters von einem Holzverarbeitungsbetrieb, den Rollermills, die John den »German Girls« stolz präsentierte. Höhepunkte des Gesellschaftslebens stellten in dieser Einöde Hausmusikabende oder der Besuch der sonntäglichen Messe dar. Das raue Landleben zwischen Äckern und Wäldern mit Schweinen in Holzhäusern vermittelte den Schwestern einen ersten Eindruck amerikanischen Daseins jenseits der Metropolen. Während Emmy vor allem Augen für ihren Cousin John hatte, hinterließen bei Gabriele das Landschaftserlebnis, die Weite und die Naturgewalten einen nachhaltigen Eindruck.

Nach vier Monaten in Moorefield ging es weiter nach Texas. Zunächst in die Stadt Marshall, immerhin annähernd so groß wie Herford, wo die Familie ihres verstorbenen Onkels lebte, dann nach Plainview, wo sich in einer Westerndorf-Atmosphäre endgültig das Pioniergefühl der ersten Siedler einstellte. Tante Lou hatte Joe Donohoo geheiratet, der hier in einer besseren Bretterbude einen Laden für den Bedarf der Viehzüchter und Bauern eröffnet und damit den Ort Plainview eigentlich erst gegründet hatte. Eine weitere Tante, Annie, lebte ebenfalls in Plainview und war dort mit dem Cowboy Bud Hamilton verheiratet. Dass das Leben auch in der gottverlassensten Gegend seine Vergnügungen kannte, beweist nicht nur die Hochzeit eines ihrer Cousins, zu der die Schwestern termingerecht gekommen waren, sondern auch die spektakuläre »Cowboy Reunion« mit Festen, Paraden und Rodeos, die im August 1899 stattfand und von Gabriele Münter in ihrem Tagebuch besonders vermerkt wurde.

In ihren Skizzenbüchern, die sie bereits in der Heimat begonnen und mit auf Reisen genommen hatte, hielt sie die Verwandtschaft fest. Und trotz imposanter Natur widmete sie sich weiterhin vor allem dem Porträt. Das Bild der Außenwelt begann sie sich parallel dazu mit der Kamera zu erobern, einem Präsent ihrer Schwester. Wann sie die Kamera bekam, darüber gibt es widersprüchliche Erinnerungen.9 Möglicherweise war der Anlass für das Geschenk Gabrieles 22. Geburtstag im Februar 1899 oder ihr Geburtstag im Jahr darauf. Es gibt jedoch Indizien, dass beide Daten nicht zutreffend sind, denn ein Fotoalbum, dass Gabriele Münter anlegte, beginnt mit Bildern der erwähnten Cowboy Reunion in August 1899 und anderen Aufnahmen aus Plainview. Das legt nahe, dass hier ihre frühesten Fotografien entstanden, vorausgesetzt, diese Fotografien stammen wirklich von ihr.

Plainview – der Name war Programm, und Gabriele Münter skizzierte seine Bedeutung in einem Brief an ihren Bruder: »Wenn Du Dich auf den Boden legst, kannst Du meilenweit sehen. Es gibt zwar nichts zu sehen, aber wenn es etwas gäbe, so könntest Du es sehen!«10 Diesen Blick auf die Fläche zu bannen, diese Leere der Landschaft und Gradlinigkeit ihrer Bewohner ins Bild zu bringen, dazu taugte die Fotografie weit mehr als ihre kleinteilige Art der Zeichnung. Und tatsächlich gemahnen manche ihrer rund 400 in den USA entstandenen Aufnahmen an Theodor Jung, Dorothea Lange oder Walker Evans, die Jahrzehnte später im Auftrag der Farm Security Administration die Folgen der großen Depression, wenn auch weitaus professioneller und mit fortgeschrittener Kameratechnik, dokumentierten.

Es wäre vorstellbar, dass Emmy die von Gabriele Münter verwendete Bull Eye No. 2, die Kodak seit 1895 als handliche, lederbezogene Holzkiste mit fixem Objektiv und Rollfilm für 9x9-Zentimeter-Negative vertrieb, vor ihrem zehnmonatigen Aufenthalt in der texanischen Wildnis in der letzten nennenswerten Stadt, in Marshall, erstand, um Gabriele, die sich dort nach eigenen Aussagen in der Stube hinter Büchern verkrochen hatte oder Klavier spielte, aus dem Haus zu locken. Wenn das ihr Plan gewesen sein sollte, so trug er bald Früchte.