Nachwort

Für gewöhnlich wird der Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618 als Beginn des Dreißigjährigen Krieges betrachtet, doch war das zunächst nur ein lokaler Konflikt, bei dem die böhmischen Protestanten ihre Ablehnung katholischer Dominanz zum Ausdruck brachten. Eine internationale Ebene erreichte er erst, als Friedrich von der Pfalz (1596–1632) die böhmische Krone annahm und sich später weigerte, sie dem Habsburger Kaiser Ferdinand zu überlassen, der allerdings vorher rechtmäßig zum böhmischen König gewählt worden war.

Böhmen war zu diesem Zeitpunkt ein weitgehend protestantisches Land. Die überwiegende Mehrheit stellten die Utraquisten dar – eine gemäßigte Gruppe –, die sich nur wenig von den Katholiken unterschieden. Sie bestanden auf dem Einsatz des Weinkelchs bei der Kommunion, duldeten jedoch die Heiligenverehrung. Daneben gab es noch die Taboriten, Nachfahren der radikalen, kriegerischen Hussiten, deren Auslegung des Christentums fast kommunistische Züge aufwies. Die Böhmischen Brüder, eine im 15. Jahrhundert entstandene Freikirche, teilten deren Ablehnung von weltlicher Autorität, verweigerten sich aber dem Kriegsdienst. Solche radikalen, am Urchristentum orientierten Gedanken waren den utraquistischen Bürgern und Adeligen suspekt. Sie sahen in dem Habsburger Kaiser das kleinere Übel, weshalb er zunächst die Königswürde erhielt. Erst nachdem Ferdinand deutlich gemacht hatte, wie ernst es ihm mit einer völligen Rekatholisierung seiner Ländereien war, kippte die Stimmung in Böhmen zu seinen Ungunsten.

Der böhmische Aufstand stand von vornherein unter keinem guten Stern. Die deutschen protestantischen Fürstentümer wollten sich aus dem Konflikt heraushalten. Auch der englische König verweigerte der Idee, dass ein Volk seinen Herrscher einfach absetzte und sich einen neuen suchte, seine Unterstützung. Dazu war seine eigene Position in England zu unsicher.

Wahrscheinlich nahm Friedrich die Krone aus Gewissensgründen an. Er war dazu erzogen worden, Anführer der deutschen Protestanten zu sein, auch wenn es ihm an dem nötigen Durchsetzungsvermögen mangelte, um dieser Rolle gerecht zu werden. Sein Leben lang richtete er sich meistens nach den Ratschlägen anderer. Seiner Frau Elizabeth Stuart wird häufig die Schuld für seine unselige Entscheidung, nach Prag zu ziehen, zugeschoben. Es gibt dafür aber keine echten Beweise, denn zunächst hielt sie sich aus politischen Entscheidungen heraus.

Elizabeth Stuart (1596–1662) war wohl die begehrteste Braut an europäischen Fürstenhöfen der damaligen Zeit. Sie schien unter einem Glücksstern geboren, galt als wunderschön, charmant und kultiviert. Als überzeugte Protestantin wollte sie keinen katholischen Gemahl. Ihre Ehe mit Friedrich war zwar aus politischen Gründen geschlossen worden, doch verliebten sich die zwei jungen Leute sehr bald ineinander. Sie galten als Traumpaar ihrer Zeit und Elizabeth erhielt lange vor Lady Diana den Titel „Königin der Herzen“.

Nach der Vertreibung aus Prag war es mit Elizabeths Glückssträhne im Leben vorbei. Obwohl sie Den Haag nicht mochte, musste sie dort viele Jahre ausharren. Erst 1661 war es ihr möglich, nach England zurückzukehren. Sie war stets von Geldsorgen geplagt, da sie einen ausschweifenden Lebensstil mochte, hatte aber eine große Menge männlicher Verehrer, die sich für sie einsetzten. Dennoch blieben ihr Schicksalsschläge nicht erspart. Ihr ältester Sohn, in den sie große Hoffnungen gesetzt hatte, ertrank bereits 1629. Drei Jahre später starb ihr Gemahl Friedrich an einem Fieber. Auch ihr glühender Verehrer Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel war bereits 1626 gefallen. Ihre letzten Hoffnungen galten dem Schwedenkönig Gustav Adolf, der 1629 ins Kriegsgeschehen eingriff, um der protestantischen Seite zu helfen, aber schon 1632 starb.

Elizabeth selbst gab sich nie geschlagen und nannte sich bis zu ihrem Tod Königin Böhmens. Zu ihren insgesamt dreizehn Kindern hatte sie ein recht distanziertes Verhältnis, dafür liebte sie Schoßhunde, Affen und andere Tiere. Nach dem Frieden von Westfalen bekam ihr ältester noch lebender Sohn einen Teil der Ländereien seines Vaters zurück, doch Böhmen sollte fortan katholisch bleiben.

Für das Land war die Schlacht am Weißen Berg (08.11.1620) eine nationale Katastrophe, die eine wirtschaftlich blühende und politisch unabhängige Region für die nächsten zweihundert Jahre ins Abseits drängte. Die Böhmischen Brüder mussten sich großenteils ins Exil zurückziehen und verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Es gibt aber heute noch in Böhmen, Mähren und auch in Texas kleine Gemeinden.

Jan Comenius (1592–1670) war der wohl bedeutendste Vertreter dieser Gemeinde. Mit seinem Werk „Orbis pictus“ begründete er die moderne Pädagogik. Die erste noch erhaltene Ausgabe des Buches stammt aus dem Jahr 1653. Dass es zu der Zeit, in der mein Roman spielt, bereits vollendet war, scheint eher unwahrscheinlich, aber ich wollte es in meine Geschichte aufnehmen. Es zeigt die helle, fortschrittliche, humane Seite jener Epoche, die leider auch für ihre Grausamkeit bekannt ist. Die übrigen Schriften von Jan Comenius drücken den Wunsch nach einer friedlichen, toleranten Welt aus. Tragischerweise entstanden sie zu einer Zeit, da die christliche Welt Mitteleuropas in einen langen, blutigen Krieg gestürzt werden sollte.

Cover

Kurzbeschreibung:

Fronicka von Odenwald lebt zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Hofdame auf dem Heidelberger Schloss. Ihre erste große Liebe gilt Friedrich, dem zukünftigen Kurfürsten und Hoffnungsträger der deutschen Protestanten. Dieser aber heiratet die englische Prinzessin Elizabeth Stuart, der bald auch schon seine ganze Leidenschaft gilt. Froni wird als Begleiterin des Herrscherpaares in einen Strudel gesellschaftlicher Ereignisse gerissen, der die ganze politische Ordnung Mitteleuropas durcheinanderbringt. In Prag, wo Friedrich und seine schöne Gemahlin nach einem Aufstand zum neuen Königspaar gekrönt werden, trifft Froni auf einen Mann, der sie Friedrichs Zurückweisung endlich vergessen lässt.

Tereza Vanek

Die Spionin des Winterkönigs


Roman

Edel Elements


Besser als streiten, wie ein Feuer entstand, ist, es zu löschen.

Johann Amos Comenius

Wichtige Daten

Februar 1613: Heirat von Friedrich von der Pfalz und Elizabeth Stuart

23. Mai 1618: zweiter Prager Fenstersturz

4. November 1619: Krönung Friedrichs zum böhmischen König

8. November 1620: Schlacht am Weißen Berg

27. April 1622: Schlacht von Mingolsheim

Prolog

Heidelberg, 1610

„Los, komm, hab keine Angst!“

Froni stemmte ihren Fuß auf die Astgabel und vertraute sich Friedrichs Händen an, die sie aufwärtszogen. Das Geäst der hohen Eiche zerkratzte ihr Gesicht, ihr einziges schönes Haarnetz blieb an einem Zweig hängen und auf einmal vernahm sie zu ihrem Entsetzen das scharfe Geräusch von Stoff, der zerriss. Ihre Mutter würde ihr niemals verzeihen, wenn sie nun ihr Kleid ruinierte. Aber für einen Rückzug war es bereits zu spät.

„Hier verstecke ich mich immer, wenn ich eine Weile meine Ruhe haben will“, sagte Friedrich und zog sie weiter in das Reich von Ästen und Blättern empor. Froni meinte, die prachtvolle, aber enge Welt des Heidelberger Schlosses mit einem Mal verlassen zu haben, und hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich auf einem der Äste ein Gnom oder eine Elfe aufgetaucht wäre. Doch sie war allein mit Friedrich, als sie nebeneinander auf einem breiten Ast Platz fanden. Unter ihnen lag der Schlossgarten und hinter einem Scherenschnitt aus Blättern und Zweigen war das graue Gemäuer des fürstlichen Gebäudes zu erkennen. Froni verstand auf der Stelle, warum Friedrich so gern hierherkam. Es war, als könne man über der vertrauten Wirklichkeit schweben, sich sicher und doch gleichzeitig frei von allen Verpflichtungen fühlen, die das Leben an einem Fürstenhof mit sich brachte. Auf Friedrich, der nach dem frühen Tod seines Vaters bereits mit vierzehn Jahren Kurfürst von der Pfalz geworden war, lastete noch weitaus mehr Verantwortung als auf der Tochter einer unbedeutenden Hofdame.

„Es ist schön hier“, sagte Froni spontan. „Es freut mich sehr, dass du mir diesen Ort gezeigt hast.“

Sie freute sich tatsächlich so sehr, dass sie spürte, wie ihre Wangen glühten, doch lag dies nicht einfach daran, dass sie den Mut gehabt hatte, auf einen Baum zu klettern. Auf der Burg ihres Vaters, wo das Leben weniger streng reglementiert war, hatte sie oft mit den Kindern der Bediensteten herumgetollt und dabei so einige Dinge angestellt, von denen ihre Mutter zum Glück nie erfahren hatte. Was Froni wirklich mit Glück und Stolz erfüllte, war der Umstand, dass Friedrich ihr soeben sein größtes Geheimnis anvertraut hatte, jenes Versteck, das nur ihm allein gehörte.

Im Frühjahr letzten Jahres war Froni mit ihrer Mutter nach Heidelberg gekommen. Ihr Vater war gestorben, sodass der Familienbesitz in die Hände ihres ältesten Bruders übergegangen war. Leider vertrug die verwitwete Frau von Odenwald sich nicht mit ihrer Schwiegertochter, die sich nun als Hausherrin zu gebärden begann, sodass sie mit Froni, ihrem jüngsten Kind, die Flucht ergriffen hatte. Als junges Mädchen hatte Frau von Odenwald in den Diensten von Friedrichs Mutter, der Prinzessin Louise Juliana von Oranien-Nassau, gestanden und wurde von dieser großzügig am Heidelberger Hof aufgenommen. Für Froni wäre das nur von Vorteil, hatte die Mutter unterwegs gemeint, denn es war an der Zeit, dass ihre reichlich verwilderte Tochter zu einer jungen Dame erzogen wurde. Immerhin war sie schon zwölf.

Froni hatte die heimatliche Burg zunächst fürchterlich vermisst. Sie hatte es gehasst, jeden Tag steife, schwere Kleider zu tragen und sich ständig nach einem für sie völlig undurchschaubaren Geflecht von Vorschriften richten zu müssen, denen selbst Dinge wie das tägliche Aufstehen, Sichankleiden und der Verzehr von Mahlzeiten hier unterlagen. Die zahlreichen Ohrfeigen, die sie sich immer wieder von älteren Hofdamen einfing, wenn sie irgendetwas falsch machte, hatten dazu beigetragen, dass sie sich Nacht für Nacht in den Schlaf geweint hatte.

Aber dann war der junge Pfalzgraf von seiner Erziehung am Hof von Sedan heimgekehrt und alles hatte sich verändert. Froni konnte nicht genau sagen, woran es lag, dass er sie zu seiner auserwählten Gefährtin gemacht hatte. Vielleicht hatte er etwas von ihrer Einsamkeit und ihrem Unglück in ihrem Gesicht lesen können und so eine verwandte Seele erkannt. Denn trotz seines strahlenden Aussehens und all der gewinnenden Manieren, die der junge Pfalzgraf an den Tag legen konnte, neigte er tief in seinem Inneren zur Schwermut.

„In Sedan gab es keinen solchen Baum“, erzählte er nun. „Da wurde ich tagaus, tagein von meinen Lehrern drangsaliert, die mich für meine verantwortungsvolle Aufgabe als Fürst und Beschützer der deutschen Protestanten vorbereiten sollten. Doch wenn ich hier oben sitze, da scheint es plötzlich nicht einmal mehr wichtig, ob irgendwo wieder die Katholiken das Sagen haben könnten und welcher Herrscher welches Bündnis mit wem eingeht. Da ist man einfach froh, leben und Gottes Schöpfung bewundern zu können.“

Er sah Froni an und sie bemerkte, wie ernst, fast traurig sein Gesicht wieder einmal geworden war. Sie legte ihre Hand auf die seine und war überglücklich, als er sie nicht gleich wegzog, wie Jungen es allgemein taten, wenn ihnen weibliche Zuneigung zu aufdringlich wurde.

„Eure Hoheit!“, drang eine Männerstimme in ihr heimliches Reich. „Wo seid Ihr? Es gibt wichtige Dinge zu besprechen!“

„Das ist Johann von Zweibrücken, mein Vormund und Lehrmeister“, stellte Friedrich mit betrübter Stimme fest. Froni hatte dies bereits selbst erkannt. Der Calvinist war von Friedrichs Mutter entsprechend den Wünschen ihres verstorbenen Gemahls an den Hof geholt worden. Eigentlich wäre die Rolle des Vormunds dem nächsten männlichen Verwandten, Wolfgang Wilhelm von Neuburg, zugefallen, aber der war Katholik und daher nicht erwünscht. Der ebenfalls katholische Kaiser hatte die Entscheidung stillschweigend geduldet, sodass der befürchtete Konflikt zunächst einmal ausgeblieben war.

„Manchmal“, begann Friedrich leise, „da überlege ich, dass ich einfach hier oben versteckt bleiben könnte. Niemand würde mich finden.“

„Aber wie willst du auf einem Baum überleben?“, fragte Froni erstaunt.

„Nun, ich könnte nachts herunterklettern und nach etwas Essbarem in den Vorratskammern suchen, so, wie Ratten oder streunende Katzen es tun. Vielleicht könnte ich mich sogar für ein paar Stunden in irgendeiner dunklen Ecke hinlegen, bevor ich in der ersten Morgendämmerung wieder in mein Versteck klettere.“

Froni musterte ihn mit einer gewissen Verwirrung, denn er hatte todernst geklungen. Zog er tatsächlich einen derart närrischen Plan in Erwägung? Sein Gesicht, das ein Bildhauer nicht edler und klassischer hätte schaffen können, sah weiter melancholisch aus, ein Eindruck, der durch die leicht zerzausten braunen Locken verstärkt wurde.

„Ich würde dir das Essen bringen“, versprach Froni, ohne weiter zu überlegen, „und dich rechtzeitig wecken, damit du nicht im Schlaf entdeckt wirst.“

Nun blitzte der Schalk in seinen großen, dunklen Augen auf und Froni fürchtete, vor Scham auf den Boden zu stürzen, weil sie seine Albernheiten nicht sogleich durchschaut hatte. Ihre älteren Brüder hatten sie oft wegen ihrer Gutgläubigkeit gehänselt, die angeblich Mädchen eigen war, da sie von der harten Wirklichkeit viel zu wenig Ahnung hatten. Doch Friedrich drückte plötzlich von selbst ihre Hand.

„Du wärest für jeden Unsinn zu haben“, meinte er anerkennend. „Aber ich fürchte, jetzt müssen wir wieder runterklettern, sonst fällt mein armer Vormund noch vor lauter Angst über mein Wohlergehen und die politischen Konsequenzen meines plötzlichen Verschwindens in Ohnmacht.“

Froni nickte brav. Im Grunde war sie erleichtert, dass Friedrich nicht völlig den Sinn für die Notwendigkeiten des täglichen Lebens verloren hatte, obwohl die Vorstellung, seine einzige heimliche Verbündete zu sein, ihr durchaus gefallen hatte. Sie schob sich ein wenig vorwärts und versuchte, mit ihren Füßen einen tiefer liegenden Ast zu erreichen. Gern hätte sie Friedrich dadurch imponiert, dass sie selbst herunterklettern konnte.

„Nicht so übereifrig, Froni. Wir warten, bis der edle Johann von Zweibrücken sich weit genug entfernt hat, denn er soll mich ja nicht vom Baum fallen sehen wie einen überreifen Apfel.“

Froni kicherte und war gleichzeitig beeindruckt von Friedrichs Weitblick. Darüber hinaus gefiel es ihr, noch eine Weile neben ihm sitzen bleiben zu können, verborgen hinter dichtem Geäst, als seien sie zwei heimliche Verschwörer.

„Wenn ich ein einfacher Ritter wäre …“, begann er plötzlich und wandte sein Gesicht ab, was Froni verstörte. „Also dann würde ich auf die Burg deines Vaters reiten und ihn fragen, ob er sich eine Verbindung zwischen meinem Haus und dem seinen vorstellen kann.“

„Aber mein Vater ist doch schon tot“, meinte Froni kleinlaut.

„Oh, das hatte ich leider vergessen. Dann eben deinen Bruder, aber den magst du ja nicht gut leiden, nicht wahr?“

Froni nickte stumm. Das Herz hüpfte wie ein unruhiger Ball in ihrer Brust und sie war dankbar, dass dichtes Geäst das Tageslicht filterte, denn wieder brannten ihre Wangen. Aber das Gefühl, das sie dabei durchflutete, war durchaus angenehm. Sie kannte es aus ihrer frühen Jugendzeit, wenn der Vater sie anstatt all ihrer Brüder auf seinen Schoß gesetzt und sein Herzenskind genannt hatte.

„Aber du bist kein einfacher Ritter“, fiel ihr ein und das Gefühl wurde wie ein Windhauch ins Geäst geblasen. „Sonst wäre ich mit dir davongerannt, wenn mein Bruder dein Angebot abgelehnt hätte.“

Sie erschrak, weil sie sehr laut gesprochen hatte. Friedrich zog seine linke Augenbraue hoch. Wieder sah sie den Schalk in seinen Augen blitzen und fragte sich, ob sie ihn ernster genommen hatte, als angebracht war.

„Ich bin der Kurfürst von der Pfalz, der Beschützer aller deutschen Protestanten. So auch deiner.“

Leider gab es sehr viele andere junge Frauen, deren Beschützer er ebenso war. Froni wurde wieder bewusst, wie unwichtig sie eigentlich war.

„Sobald ich mündig bin und keinen Vormund mehr habe, kann ich tun, was mir gefällt“, verkündete Friedrich stolz. Dann griff er in den kleinen Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing, und zog eine Schnur heraus. Eine kleine Holzschnitzerei baumelte daran.

„Das ist ein Eulenküken“, sagte er. Diese Erklärung war auch notwendig, denn Froni konnte nichts weiter als eine Art verwachsenen Gnom erkennen. Holzschnitzerei gehörte leider nicht zu Friedrichs Stärken.

„Als ich dich das erste Mal sah, in der Gefolgschaft meiner Mutter, und du dich hinter den Röcken der älteren Hofdamen versteckt hattest, aber gleichzeitig versuchtest, so viel wie möglich zu sehen zu bekommen, da kamst du mir vor wie eine aus dem Nest gefallene kleine Eule.“

Froni schluckte. Sie wusste nicht, ob sie diese Beschreibung schmeichelhaft finden sollte.

„Ich war eben neugierig“, erklärte sie verlegen.

„Und gleichzeitig schüchtern. Aber auch frech und neunmalklug. Ich habe gleich geahnt, dass du ein Mädchen bist, mit dem ein Mann Unsinn anstellen kann, ohne dass es gleich von Sünde und ewiger Verdammnis spricht oder einfach entsetzt davonläuft. Deshalb möchte ich dir diese Kette schenken.“

Froni stieß ein nervöses Kichern aus. Zwar sah die missglückte Schnitzerei weiterhin nicht wie eine Eule aus, aber was machte das schon? Sie hätte über ein kostbares Juwel nicht glücklicher sein können. Vermutlich war dies der Augenblick, um einen geistreichen Scherz zu machen, denn Friedrich schätzte wortgewandte Menschen. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen als ein schlichtes Wort des Dankes. Glücklicherweise sah Friedrich nicht enttäuscht aus.

„Wir gehören zusammen, Froni. Ganz gleich, was noch geschehen mag“, versprach er. Zwar tanzte immer noch sanfter Spott in seinen wunderschönen Augen, aber seine Stimme klang ernst.

„Zusammen für immer“, plapperte sie munter drauflos und neigte ihr Gesicht zu dem seinen. Er zögerte einen winzigen Augenblick, dann streiften seine Lippen ihre Wange. Froni schloss die Augen. Eine merkwürdige Unruhe fuhr durch ihren Körper, als krabbelten aufgebrachte Ameisen darin herum. Vielleicht würde Friedrich sie jetzt auch noch umarmen, wie ihr Vater es manchmal getan hatte.

Aber er wandte sich ab.

„Es ist Zeit, nach unten zu klettern, kleine Eule. Sonst löst mein vermeintliches Verschwinden noch den nächsten Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken aus.“

Mit einem geschickten Sprung gelangte Friedrich auf den Ast unmittelbar unter ihnen, doch geriet er gleich darauf ins Schwanken. Froni streckte ihre Hände aus, um seinen Absturz zu verhindern.

Erstes Buch

1. Kapitel

„Fronicka, was trödelst du denn wieder?“, nörgelte die Stimme der Frau von Zwergenstein in ihrem Rücken. Froni, die sich aus dem Fenster gelehnt hatte, um die uralte, mächtige Eiche im Schlossgarten zu betrachten, wandte sich widerwillig um. Die Pfalzgräfin Louise Juliana brauchte stets die Hilfe mehrerer Hofdamen, um sich morgens anzukleiden. Leider kränkelte Fronis Mutter seit dem letzten Winter ständig, sodass sie nun ihre Aufgaben übernehmen musste. Im Geiste zählte sie alle Dinge auf, die vonnöten waren, um eine alte Frau in eine Pfalzgräfin zu verwandeln: Strümpfe und ein Reifrock, ein Mieder, danach mehrere Unterröcke und schließlich jene Robe, die Ihre Hoheit heute ausgewählt hatte. Allein das Frisieren konnte bis zur Mittagsstunde dauern. Sie hatte niemals geahnt, wie aufwendig es sein konnte, dünnes graues Frauenhaar zu einem mit Juwelen geschmückten, turmartigen Gebilde aufzurichten. Missmutig gesellte sie sich in die Reihe der Hofdamen, um ihren Aufgaben entgegenzugehen. Seit Friedrich nach England aufgebrochen war, schien ihr das Heidelberger Schloss wieder ein so freudloser, kalter Ort wie unmittelbar nach ihrer Ankunft, doch hoffte sie auf seine baldige Rückkehr. Noch am Tag seiner Abreise hatten sie sich kurz heimlich treffen können und er hatte ihr versichert, dass er diese hochnäsige englische Prinzessin nicht wollte, ganz gleich, wie vorteilhaft eine solche Verbindung für die protestantische Sache wäre. Zudem würde man ihn, einen gewöhnlichen Pfalzgrafen, auch niemals als königlichen Schwiegersohn akzeptieren, da verstieg sein Vormund Johann von Zweibrücken sich in unrealistische Träumereien, weil er auf Friedrichs Charme und sein blendendes Aussehen vertraute. „Aber ich werde mich von meiner unausstehlichsten Seite zeigen, damit sie mich gleich wieder nach Hause schicken!“, hatte Friedrich lachend versprochen und Froni noch einmal an sich gedrückt, während die Stimme Johann von Zweibrückens vor der Tür zum Aufbruch drängte.

Die fünf Hofdamen betraten das Gemach der Pfalzgräfin, die bereits aufrecht im Bett saß, und sanken in eine tiefe Reverenz. Dann begannen sie alle zu tun, was sie jeden Morgen taten. Eine stellte der Gräfin die Pantoffeln hin, die nächste brachte Reifrock und Unterröcke, während Froni ein Paar Strümpfe über grauweiße, von blauen Adern durchzogene Beine rollte.

„Ich habe gestern Abend noch eine Nachricht von meinem Sohn erhalten“, erzählte Louise Juliana mit glücklich strahlenden Augen. Froni ließ den zweiten Strumpf fallen, was zum Glück niemand bemerkte.

„Ich bin mir sicher, dass der junge Herr die Herzen der Engländer im Sturm erobert hat“, zwitscherte sogleich die Frau von Zwergenstein, während sie die Schmuckkassette der Pfalzgräfin öffnete, um ein Collier mit Rubinen herauszuholen.

„Ja, so scheint es“, stimmte Friedrichs Mutter sogleich zu. Froni unterdrückte den Wunsch, sie in ihre dünnen Waden zu kneifen. Aber daran, dass die alte Dame ihren Sohn für unwiderstehlich hielt, war eigentlich nichts Überraschendes. Sie hatte allen Grund dazu. Sie konnte ja nicht wissen, dass Friedrich …

„Er schreibt, dass diese Elizabeth Stuart tatsächlich so strahlend schön und geistreich ist, wie ihr allgemein nachgesagt wird. Damit hatte er nicht gerechnet.“ Louise Juliana stieß ein leises, nachsichtiges Lachen aus. „Mein armer Sohn fürchtete, dass wir ihn mit einer Vogelscheuche vermählen wollen, nur weil es der protestantischen Sache dient. Aber das hätte ich niemals zugelassen, ganz gleich, wie sehr sein Vormund mich gedrängt hätte.“

Froni spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Friedrich hatte das nur geschrieben, um seine Mutter zu besänftigen, sagte sie sich. Er war stets zögerlich, wenn es galt, die Erwartungen seiner Umwelt zu enttäuschen, als hätte er Angst, nur einen Krümel jener Bewunderung und Liebe, an die er gewöhnt war, auf immer verlieren zu können. Nachdem sie der Gräfin den zweiten Strumpf angezogen hatte, nutzte sie den kurzen Moment der Freiheit von Pflichten, um jene Stelle an ihrem Hals zu berühren, wo die geschnitzte Eule hing. Ihre Mutter hatte diese Vorliebe für so ein gewöhnliches, billiges Schmuckstück nie verstehen können, doch in den letzten Monaten war sie zu schwach und kränklich geworden, um der Tochter noch irgendwelche Vorschriften zu machen. Zu ihrem Staunen hörte Froni einen leisen Schluchzer in ihrem Rücken und wandte kurz den Kopf. Sophia von Falkenhagen, eine junge, blonde, bildhübsche Hofdame, wischte sich schnell die Augen trocken. Froni begriff nicht, warum dieses stets so sonnig gestimmte Mädchen auf einmal traurig war, doch konnte sie in diesem Moment auch nicht fragen.

Nachdem Louise Juliana angekleidet und frisiert war, ihren Schmuck angelegt hatte und mit Duftwasser besprüht worden war, fand ein Morgenmahl im Speisesaal statt. Froni trank zwei Becher süßen Gewürzweins und verzehrte gierig einen mit Speck überbackenen Brotfladen, denn sie hatte an diesem Tag bisher nichts gegessen.

„Ist Euch nicht wohl, Sophia?“, hörte sie die unangenehme Stimme der Frau von Zwergenstein fragen. „Ihr esst nicht.“

„Ich fürchte, ich habe gestern zu kräftig zugelangt“, erwiderte das Fräulein von Falkenhagen leise. „Mein Magen ist noch voll.“

„Nun, der Medikus kann Euch sicher einen Trank brauen, der Eure Verdauung anregt. Mir hat er kürzlich mit Schwedenbitter sehr geholfen, als ich so aufgebläht war, dass ich kaum gerade stehen konnte. Vielleicht sind Eure Körpersäfte durcheinandergeraten. Es tut einem jungen Mädchen auch nicht gut, zu lange unvermählt zu sein, denn …“

„Vergebt mir, mir ist nicht wohl.“ Sophia von Falkenhagen hatte sich erhoben, knickste und als sie ein zustimmendes Kopfnicken der Pfalzgräfin erhalten hatte, eilte sie aus dem Raum.

„Die junge Dame sollte nicht allein bleiben, wenn sie krank ist“, sagte Louise Juliana daraufhin. „Fräulein von Odenwald, seht doch nach, wie es ihr geht.“

Froni stand erleichtert auf, denn das Geplapper der Frau von Zwergenstein hatte ihr alle Lust aufs Weiteressen genommen. Rasch eilte sie in den Korridor hinaus, wo sie Sophia von Falkenhagen auf einer Truhe hockend vorfand. Deren Hände ruhten aber auf keinem schmerzenden Unterleib, sondern verbargen ihr Gesicht, während sie von Schluchzern geschüttelt wurde.

„Was ist mit Euch?“, fragte Froni und legte zaghaft ihre Hand auf den bebenden Rücken. Sie hatte Sophia stets für eitel und hochnäsig gehalten, doch nun tat sie ihr plötzlich leid, so echt und tief schien ihr Schmerz.

„Er hat mich geküsst“, wimmerte Sophia in ihre Handflächen. „Er sagte, er hätte niemals eine Schönere als mich gesehen.“

„Wer denn?“, fragte Froni. Hatte Sophia sich leichtsinnigerweise auf ein Abenteuer eingelassen und war dann von ihrem Liebsten im Stich gelassen worden? Fronis Mutter hatte sie oft vor dieser Gefahr gewarnt, die allen jungen Mädchen drohte, die sich von ihren Trieben leiten ließen, anstatt Gottes Gebote zu achten.

„Na Friedrich, wer sonst?“, kam es nun fast trotzig zurück. „Meint Ihr, von einem anderen hätte ich mich küssen lassen?“

Sophia hatte ihre Fassung allmählich wiedergewonnen und wischte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken.

„Aber er will diese englische Kuh sicher nur, weil seine Mutter es sich so wünscht“, sagte sie nun lächelnd. „Ein so wichtiger Mann wie er kann seine Gemahlin nicht frei wählen. Sobald er einen Erben gezeugt hat, wird er sich von ihr abwenden.“

Sophia von Falkenhagen stand auf, strich ihr Kleid glatt und machte sich auf den Weg in ihr Gemach, ohne Froni eines weiteren Blickes zu würdigen. Froni starrte dem schlanken, stolzen Rücken, der aus dem Reifrock wuchs, hinterher. Der Tag begann sehr unerfreulich.

Friedrich hatte vor seiner Abreise die schönste aller Hofdamen geküsst, doch war dies sicher nur ein verzeihlicher Augenblick männlicher Schwäche gewesen, denn Sophia musste mit ihm kokettiert haben. Sie, Froni, war es, mit der er sein Geheimnis teilte und die ihn trösten würde, wenn er unter der Kälte seiner zweifellos sehr hochmütigen Engländerin litt, falls es überhaupt zu dieser Vermählung kam.

Sie nutzte den kurzen Moment des Alleinseins, um am Fenster nochmals die Eiche anzustarren und das unförmige Stück Holz an ihrem Hals zu streicheln. Wie sollte sie nur all die langen, leeren Tage aushalten, bis Friedrich endlich wieder zurückkam? Sie beschloss, sich gewissenhafter ihren Aufgaben zu widmen und so oft wie möglich nach ihrer Mutter zu sehen. Vielleicht würde Gott der Herr sie dafür belohnen, auch wenn sie wusste, dass ihr tiefster Herzenswunsch sündhaft war. Friedrich konnte sie niemals zu seiner Gemahlin machen, das war ihr stets klar gewesen. Aber fast alle Männer hohen Standes hatten Mätressen, die von ihnen manchmal lebenslang versorgt wurden, ebenso wie die Nachkommen aus einer solchen Beziehung. Froni war eine solche Zukunft allemal lieber, als die Frau eines unbekannten, einfachen Ritters zu werden, wie die Mutter es ihr immer wieder prophezeit hatte. Sie hoffte, dass Gott der Herr ihr vergeben würde, denn ihre Liebe zu Friedrich schien so stark und rein, dass nichts Schlechtes durch sie entstehen konnte.

Am 13. Juni des Jahres 1613 stand Froni mit ihrer Mutter, Sophia von Falkenhagen und den anderen Hofdamen hinter dem Tor des Schlosses und wartete. Anlässlich der Feierlichkeiten hatte Louise Juliana sämtlichen Einwohnern Heidelbergs freie Speisen und Getränke versprochen, so viel sie nur wollten. Bereits in den frühen Morgenstunden hatten die ersten Betrunkenen in den Gassen gelegen, wo Stadtbüttel sie später zur Seite traten, um dem höfischen Prunkzug Platz zu machen. Louise Juliana trug eine riesige Halskrause, die sogar über den Reifrock an ihren Hüften hinausragte. Froni fand, dass sie damit aussah wie eine in den Pranger gezwängte Verbrecherin, behielt diese Meinung aber für sich. Das unnatürlich weiß geschminkte Gesicht der Kurfürstin erinnerte zudem an einen aus dem Grab entstiegenen Geist und mit dem Übermaß an Edelsteinen auf dem goldbestickten Gewand lockte sie mehr Taschendiebe an als echte Bewunderer. Doch kein Opfer war groß genug, wenn es galt, Eindruck auf eine Schwiegertochter königlichen Geblüts zu machen.

Trompeten kündeten den unmittelbar bevorstehenden Einzug des Kurfürsten, seiner Gemahlin und ihres gemeinsamen Gefolges an. Froni stellte sich auf die Zehenspitzen, denn ein paar hochgewachsene Wachmänner versperrten ihr das Blickfeld.

„Ich bin ja mal gespannt, ob sie wirklich so schön ist, wie alle sagen“, murmelte Sophia von Falkenhagen an ihrer Seite. „Wahrscheinlich sind das nur Schmeicheleien, weil sie eine Stuartprinzessin ist. Am Ende sieht sie aus wie eine englische Kuh, wundern würde es mich nicht.“

Froni überlegte, ob Sophia jemals eine englische Kuh zu Gesicht bekommen hatte. Sie hielt es für unwahrscheinlich, wollte aber nicht fragen, da sie im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt war. Aus den Augenwinkeln musterte sie das Gewand des Fräuleins von Falkenhagen. Der steife Kragen war aus kostbarer Spitze, aber von bescheidenem Umfang, der den schlanken Hals seiner Trägerin betonte. Das Kobaltblau des Seidenkleids passte hervorragend zu Sophias Blondhaar und entsprach dem Farbton ihrer Augen, die dadurch noch mehr zu strahlen schienen. Sophia sah glücklich aus, seitdem sie mit einem wohlhabenden Grafen verlobt worden war, der zwar ihr Vater hätte sein können, sie aber anbetete wie ein schmachtender Jüngling. Froni verachtete sie ein wenig dafür, dass sie die Aussicht auf ein angenehmes Leben in Wohlstand der wahren Leidenschaft vorzog, die Friedrichs zukünftige Mätresse sicher erleben würde. Aber für eine ernsthafte Konkurrentin hatte sie diese eitle, oberflächliche Person ohnehin nicht gehalten. Friedrich war ein allzu tiefer, nachdenklicher Mensch, als dass er sich dauerhaft von einem hübschen Gesicht hätte blenden lassen.

„Meine Güte, so viele Leute!“, schnatterte die alte Frau von Zwergenstein plötzlich drauflos. Da ihre Körpergröße ihrem Namen entsprach, hatte sie sich von einem Lakaien eine alte Obstkiste bringen lassen, um sich draufstellen zu können. Nun schwankte sie in besorgniserregender Weise und Froni trat an ihre Seite, um ein Unglück zu verhindern. Ehe sie sich’s versah, war die alte Frau ihr in die Arme gefallen, krallte sich an ihrer einzigen guten Halskrause fest, wodurch diese einen winzigen Riss abbekam.

„Mir war schwindelig geworden“, erklärte die Frau von Zwergenstein. „Es muss an der furchtbaren Hitze liegen. Ich werde den Medikus fragen, ob er mir nicht etwas dagegen geben kann.“

Froni fragte sich, wie der arme Medikus das Wetter ändern sollte, und hielt die Frau von Zwergenstein noch eine Weile fest, da sie weiterhin unsicher auf den Beinen schien. Dabei atmete sie den verräterischen Geruch von Schnaps ein und bekam eine Ahnung, was den Schwindelanfall der alten Hofdame wirklich ausgelöst haben konnte, denn trotz strahlenden Sonnenscheins wehte an diesem Tag ein frischer Wind.

„Ich muss mich ein wenig ausruhen, fürchte ich. Das war ein Schock eben“, sagte die Frau von Zwergenstein und winkte einen Lakaien heran. „Diese Gefolgschaft der Engländerin … ich meine, wir werden das einfache Gesinde aus der Stadt jagen müssen, um hier in Heidelberg überhaupt so viele Leute unterzubringen.“

„Ich bin müde, Kind. So furchtbar müde. Ich kann kaum noch aufrecht stehen“, hörte Froni plötzlich ihre Mutter klagen und schämte sich, weil sie sie vor Aufregung kaum beachtet hatte. Sie winkte dem Lakaien hinterher, der sich glücklicherweise noch einmal umgedreht hatte und die Frau von Odenwald ebenfalls an sich nahm, um sie in ihr Gemach zu bringen.

„Ich sehe so bald wie möglich nach dir“, versprach Froni schnell, doch ihre Mutter war zu erleichtert, von kräftigen Männerarmen gestützt zu werden, um ihr weitere Beachtung zu schenken.

Froni fiel ein, dass die Obstkiste nun frei war, und sie hastete los, um als Allererste ihre Füße daraufzusetzen. Ein giftiger Blick Sophia von Falkenhagens machte ihr klar, dass sie nicht als Einzige diese Idee gehabt hatte. Eine sehr gute Idee, wie sich gleich herausstellte, denn auf einmal konnte sie über die Köpfe der meisten Zuschauer hinweg einen direkten Blick auf die Eintreffenden werfen.

Es war tatsächlich ein sehr langer Zug, der sich da auf der Brücke über den Neckar bewegte und dann zum Schloss hochschlängelte. Fahnen flatterten im Wind, Helme und Brustpanzer glänzten silbern in der Sonne, Federn wippten auf Männerhüten im Rhythmus der Schritte der Pferde, auf denen ihre Träger saßen. Dahinter folgte eine Kette aus schwer beladenen Karren, die erst irgendwo am Horizont im Nichts endete. Fußvolk spazierte daneben einher, immer wieder mischte sich ein berittener Wachmann dazwischen, der wohl weniger für den Schutz der einfachen Leute zuständig war denn für die Sicherheit der aufgeladenen Truhen, Kisten und Möbel.

Froni erinnerte sich noch an Friedrichs Abreise, bei der etwa sieben Karren mit Gewändern und anderen Habseligkeiten mitgekommen waren. Nun schien es, als käme er mit allen Einwohnern einer mittelgroßen Stadt zurück, die auch noch ihr Hab und Gut mitgebracht hatten. Wollte diese englische Prinzessin gleich neben Heidelberg eine neue Stadt errichten?

Laute Jubelrufe erklangen, als die Spitze des Zuges sich endlich durchs Stadttor schob. Friedrich ritt voran, hinter ihm fuhr eine mit lila Samt bezogene, von sechs Pferden gezogene Kutsche, in der wohl die englische Königstochter sitzen musste. Man hatte mehrere Prunkbögen errichtet, um die neue Schlossherrin angemessen zu begrüßen. Der Rektor der Heidelberger Universität stand unter einem davon und stimmte eine lateinische Begrüßungsrede an. Ein älterer Herr stieg aus der Kutsche, um ebenfalls auf Lateinisch zu antworten, doch die englische Königstochter ließ sich nicht blicken. „Vielleicht aus gutem Grund“, dachte Froni und genoss diese Bösartigkeit. Eine Frau, der der Ruf vorauseilte, die strahlendste Schönheit der Christenheit zu sein, hatte womöglich Angst, die Anwesenden zu enttäuschen, wenn sie ihrer wirklich ansichtig wurden. Indessen rollte die Kutsche weiter zum Schloss. Dort befand sich der prächtigste Prunkbogen und hinter ihm wartete die Gesellschaft des Hofes. Von der Kurfürstin bestellte Musikanten stimmten eine Begrüßungsmelodie an, Blumen wurden geworfen und Louise Juliana machte ein paar ungeduldige Schritte auf ihren Sohn und die unbekannte Schwiegertochter zu. Sobald Froni Friedrich erblickte, tat ihr Herz einen freudigen Sprung. Trotz der langen Reise, die zweifellos anstrengend gewesen sein musste, sah er entspannt und glücklich aus, als er sich vom Sattel seines Rosses schwang.

„Ich darf euch allen Colonel Schomberg vorstellen“, verkündete Friedrich und wies auf den Herrn, der vorher mit dem Rektor gesprochen hatte. „Mein Schwiegervater gab ihn meiner verehrten Gemahlin großzügigerweise als Ratgeber mit.“

Die kluge Engländerin kam also nicht allein zurecht, dachte Froni. Wie gut es manchmal tat, gehässig sein zu können! Noch bevor Friedrich seine Mutter begrüßt hatte, trat er zu der Kutsche und streckte seine Hand hinein, wie um etwas herauszuziehen.

Alle wussten, was es sein würde. Ein paar Hofdamen an Fronis Seite atmeten lauter. Sie selbst hielt vor Aufregung die Luft an.

Elizabeth Stuart, die begehrteste Braut Europas, steckte in einer zitronengelben, perlenbestickten Robe, die auch ohne Trägerin ein Kunstwerk gewesen wäre. Ihre Taille war schmal, der Hals grazil, die Schultern blieben unverhüllt, was einige der Anwesenden leise murren ließ. Sie trug keine Halskrause, nur einen weich fallenden Kragen. In dem hoch aufgetürmten rötlich braunen Haar schimmerten ebenfalls Juwelen. Friedrichs Gemahlin glitt leicht wie ein Vogel über den Erdboden, als besäße sie keinerlei Gewicht. Froni glaubte, Seide rascheln zu hören, und atmete einen süßen Duft ein, den der Wind ihr zuwehte. Dicht neben sich hörte sie Sophia einen leisen, hellen Ton des Staunens ausstoßen.

„Wenn englische Kühe so aussehen, dann werden die Seelen der englischen Kuhhirten ewig in der Hölle schmoren müssen, denn dieser Versuchung können sie sicher nicht widerstehen“, spöttelte eine andere Hofdame, die Sophias abfällige Bemerkungen über Elizabeth Stuart auch mitbekommen haben musste. Sophia schwieg, sah aber aus, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. Froni begriff sogleich den Grund für diesen Missmut. Neben Elizabeth Stuart wirkte selbst die schönste Dame des Heidelberger Hofes wie eine herausgeputzte Landpomeranze. Elizabeth bewegte sich, als sei sie von Gott allein dafür geschaffen worden, edle Gewänder zu tragen und sich bewundern zu lassen. Ihr Leib war schmal, aber dennoch wohlgeformt. Der rötliche Schimmer des Haars verlieh ihr einen Hauch von Sünde. Selbst an dem Gesicht vermochte Froni keinerlei Makel zu erkennen. Es war blass, vornehm und ebenmäßig, nur störte eine feine Falte zwischen den Brauen die Harmonie göttlicher Schöpfung.

„Ich bin sehr froh, meine neuen Untertanen begrüßen zu dürfen“, verkündete die englische Prinzessin nun mit leicht gepresster Stimme. „Möge Gott der Herr uns beistehen, dem verderbten Geist des Papismus erfolgreich Widerstand zu leisten.“

Sie sprach auf Deutsch, auch wenn sie aufgrund ihres Akzents schwer verständlich war. Allerdings klang sie dabei so melodisch und weich wie jene Demoiselle, von der Froni gemeinsam mit den anderen Hofdamen Französischunterricht erhalten hatte. Eigentlich hatte Froni erwartet, dass eine Engländerin sich etwas anders anhörte.

Das junge Paar trat der alten Kurfürstin gegenüber. Elizabeth Stuart knickste, auch wenn sie dabei eine widerwillige Miene zog. Sobald sie wieder aufrecht stand, erhellte aber ein charmantes Lächeln ihr Gesicht, von dem sogar die Kurfürstin nicht unberührt blieb. Sie legte ihre Hände auf die Schultern der Schwiegertochter und küsste sie rasch auf die Wange.

„Sei uns willkommen, mein Kind. Wir sind sehr froh, dich bei uns zu haben.“

Elizabeth Stuart lächelte weiter, doch fiel Froni auf, dass der Blick ihrer Augen gelangweilt wirkte. Friedrich wandte sich nun zu seiner jungen Gemahlin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie sah ihn an, ihre Augen leuchteten kurz auf und zauberten so ein fast überirdisch glückliches Strahlen auf sein Gesicht.

„Ich habe die Ehre, die schönste Braut der Christenheit nach Hause zu führen!“, rief er laut. Seine Untertanen stimmten begeistert ein, da sie sich nun wohl noch großzügigere Gaben erhofften.

Froni spürte eine Kälte, die sich von ihrem Herzen aus bis in alle Gliedmaßen zog. Selbst in ihren Fingerspitzen kribbelte es. Anders als Sophia hatte sie damit gerechnet, dass Elizabeth Stuart tatsächlich eine schöne Frau wäre, eine wahrhaft fürstliche Erscheinung, die eher himmlisch denn irdisch schien. Aber etwas an Friedrichs Strahlen ließ ihr das Blut gefrieren. Sie tastete nach der geschnitzten Eule, doch plötzlich fühlte diese sich nur noch an wie ein schäbiges, billiges Stück Holz, das sie ebenso gut wegwerfen konnte.

Selbst wenn Friedrichs Verbindung mit der englischen Königstochter nichts weiter als ein geschickter politischer Schachzug hatte sein sollen, ein Mann, der seine Braut so glücklich und verliebt ansah, würde keine Mätresse brauchen.

2. Kapitel

„À droite. J’ai dit à droite! Vous êtes sourdes, demoiselles?“

Froni schüttelte den Kopf, um den unfreundlichen Tonfall abzuwehren. Monsieur Cherbault, der neue Haushofmeister, musterte sie durch golden umrahmte Brillengläser. Ein weiterer französischer Wortschwall folgte. Die Frau von Zwergenstein stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Da heiratet er die englische Königstochter, um der protestantischen Sache zu dienen, und wir müssen uns das affektierte Getue parfümierter Papisten anhören!“, zischte im Hintergrund Sophia von Falkenhagen. Froni erschrak und warf dem Franzosen einen furchtsamen Blick zu. Erst gestern hatten ein paar Küchenmägde ihre Stellung verloren, weil sie in einen heftigen Streit mit zwei Mädchen aus Elizabeths Gefolgschaft geraten waren. Worum es genau gegangen war, wusste Froni nicht, aber die wesentliche Aussage des Gerüchts war eindeutig: Wer sich der Anhängerschaft der englischen Prinzessin in den Weg stellte, wurde kurzerhand aus dem Weg geräumt.

„Ich denke, er will, dass wir die Porzellanfiguren in den rechten Schrank räumen, weil die Möbel auf der linken Seite weggebracht werden sollen“, teilte Froni ihren Gefährtinnen mit. Ihr war inzwischen klar, dass sie als Einzige wenigstens ein paar Worte von Monsieur Cherbaults Anweisungen verstehen konnte. Sie wusste nicht, woran es lag. Während der Unterrichtsstunden, die sie erhalten hatte, war ihr das Begreifen stets leichter gefallen als den meisten anderen Mädchen.

„Wenn du ein Junge wärest, dann könnten wir dich auf eine Universität schicken“, hatte die Mutter einmal zu ihr gemeint und dabei ein unglückliches Gesicht gezogen. „Aber ein Mädchen sollte aufpassen, nicht zu klug zu wirken. Dann findet sie am Ende keinen Ehemann, denn Männer mögen das nicht.“

Monsieur Cherbault schien es aber zu mögen, dass wenigstens eine der Hofdamen begriff, was er meinte. Als sie alle nach den Schäferinnen und Hirten aus Porzellan griffen, um sie von einem Ende des Raumes in das andere zu bringen, sah er zum allerersten Mal recht zufrieden aus. Er roch so stark nach Parfüm, dass einem in seiner Nähe fast übel wurde, und sein Gesicht war so ausladend bemalt wie das eines Gossenmädchens. Aber wenn es darauf ankam, wusste er, wie man Autorität ausstrahlte. Sein Blick konnte so scharf sein wie die Klinge eines Messers.

„Quel est votre nom, Demoiselle?“, fragte er Froni kurz darauf. Sie stellte sich mit einem Knicks vor. Er versuchte, den Namen Odenwald nachzusprechen, was ihm sogar einigermaßen gelang.

„Vous comprenez. C’est bien“, stellte er gleich darauf fest. Dabei gab es nun sehr viele Damen am Hof, die ihn viel besser verstanden. Elizabeth Stuart war mit einem ganzen Hühnerstall eingetroffen, doch hielt ihre Gefolgschaft sich meistens bei ihr in den Gemächern auf, wo gesungen, getanzt und Poesie gelesen wurde. Für das Herumschleppen von Einrichtungsgegenständen, die zu zart und kostbar für die Hände gewöhnlicher Domestiken waren, sollten sich nun die Zofen der alten Kurfürstin zuständig fühlen. Sie waren seit zwei Wochen ständig auf den Beinen, um Räume zu leeren und anschließend wieder zu füllen, ganz wie es den Wünschen der neuen Schlossherrin entsprach. Elizabeth hatte zwar auch Diener mitgebracht, aber diese sollten allein für ihre persönlichen Bedürfnisse zuständig sein. Ihr wichtigster Berater war Colonel Schomberg, der ihr aber bei der Verwaltung der Gelder zur Seite stand. Monsieur Cherbault sollte sich indessen darum kümmern, dem Schloss und seinen Bewohnern die nötige Eleganz zu vermitteln. Er erschien stets mit perfekt sitzendem Spitzenkragen und sauberen Hemden, um sie zu beaufsichtigen. Froni wusste, dass ihre beiden guten Kleider inzwischen unangenehm riechen mussten, weil sie jeden Abend völlig durchgeschwitzt war und keine Zeit mehr fand, sie zu waschen. Die Frau von Zwergenstein klagte über regelmäßige Schwindelanfälle und der sonst sehr strenge Franzose erlaubte ihr dann, sich zurückzuziehen. Mit den jüngeren Hofdamen hatte er aber deutlich weniger Erbarmen, vor allem nicht mit Froni. Sie bemühte sich stets, seinen Anweisungen rasch Folge zu leisten. Sonst kamen sie alle zu spät zu den Mahlzeiten und liefen Gefahr, kaum noch etwas abzubekommen. Das Schloss platzte seit der Ankunft des jungen Paares aus allen Nähten, sodass eine Versorgung aller Bewohner nicht mehr garantiert war. Die Gefolgschaft der englischen Prinzessin hatte immer den Vortritt und die alteingesessenen Bewohner mussten nehmen, was für sie übrig blieb.

Manchmal war es nichts. Aber ihr war es bisher immer gelungen, noch ein paar Streifen Speck, Brot und manchmal sogar einen Teller Suppe in das Zimmer ihrer Mutter zu tragen, die es nicht mehr schaffte aufzustehen.

Nun verkündete eine Glocke, dass im großen Gemeinschaftssaal zum Mittagsmahl aufgetischt wurde. Froni atmete erleichtert auf, denn sie hatten alle ihre Aufgaben erledigt und konnten sich daher jetzt zurückziehen.

Die Frau von Zwergenstein eilte sogleich los. Wenn es ums Essen ging, kehrten ihre Körperkräfte erstaunlich schnell zurück. Sophia und ein paar andere junge Frauen schlossen sich ihr sogleich an. Froni wollte es ebenfalls tun, da sah sie plötzlich, wie Monsieur Cherbault sie zu sich winkte.

„Venez, Demoiselle!“

Es war höflich formuliert, aber eindeutig ein Befehl. Froni fluchte innerlich. Ihre Beine schmerzten und in ihrem Magen gähnte ein großes Loch, das gefüllt werden wollte.

„Vous dinez avec la princesse.“

Sie ging davon aus, dass sie sich verhört haben musste. Elizabeth und Friedrich nahmen ihre Mahlzeiten nun in separaten Gemächern ein, nur in Anwesenheit einiger Vertrauter, die allesamt mit der englischen Königstochter eingetroffen waren.

„Venez, Demoiselle. Venez!“, wiederholte der Franzose unbeirrt. Froni blickte an sich hinab. An ihrem Kleid hingen Staubfäden, die sie rasch wegfegte. Trotzdem sah sie wenig besser aus als eine Küchenmagd. Aber das war ihr ganzes Leben lang so gewesen, daher würde sie auch weiterhin zurechtkommen.

Sie hastete dem Franzosen hinterher, da sie keine Wahl hatte. Vielleicht bekäme sie danach noch ein paar Brotkrumen in der Küche des Schlosses.

Es ging ins nächste Stockwerk hoch, wo Elizabeth Stuart gemeinsam mit ihren Hofdamen eingezogen war.

Monsieur Cherbault schob eine Tür auf, ließ sein melodisches Französisch erklingen und verneigte sich tief. Froni knickste mechanisch. Sie wusste nicht genau, in welchem Raum der weit gefächerten Anlage sie nun gelandet war. Das glockenhelle Gelächter von Frauenstimmen erklang. Irgendwo zupfte jemand an einer Harfe.

„Willkommen, Fräulein von Odenwald“, sagte eine weibliche Stimme mit französischem Akzent. Froni stockte der Atem, als sie erkannte, wer die Sprecherin war. Sie knickste nochmals tiefer, wagte erst nach einer Weile, ihren Blick zu der jungen Kurfürstin zu erheben.

„Monsieur Cherbault schwärmt von Eurem Verstand“, verkündete Elizabeth Stuart nun auf Französisch. Sie saß auf einem breiten, mit Samt bezogenen Kanapee und nippte an einem goldfarbenen Pokal. Um sie herum waren die englischen Hofdamen versammelt. Ihre Kleider leuchteten in allen Farben des Regenbogens, Schmucksteine blitzten in ihren Ohren und an ihren Fingern. Froni musste an einen Käfig voller Paradiesvögel denken.

„Kommt zu uns. Habt Ihr Hunger?“

Elizabeth winkte Froni heran, während Monsieur Cherbault sich zurückzog. Auf dem großen Tisch sah sie Platten mit Fleisch, gefüllte Pasteten, verschiedene Brotsorten und eine große Karaffe mit Wein. Die anderen Hofdamen schoben ununterbrochen Leckereien zwischen ihre rot bemalten Lippen. Froni lief das Wasser im Munde zusammen. Sie hatte noch niemals Speisen gesehen, die so appetitlich wirkten und verführerisch dufteten.

Sie nahm auf einem winzigen Hocker am Ende des Tisches Platz und ergriff eine mit Fleisch gefüllte Pastete. Ein starker Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Zunächst war er herb, dann wurde er langsam aromatischer und schien in verschiedene Nuancen zu zerfließen. Sie hatte in ihrem Leben vieles gegessen, das lecker schmeckte, aber im Gemach der Kurfürstin wurden Speisen zu einer völlig neuen Erfahrung.