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Robert H. Gasser, Robert N.A. Gasser

Der Käser

Ein Amoklauf

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© 2017 Robert H. Gasser, Robert N.A. Gasser

Verlag: Morawa Lesezirkel GmbH, Wien

ISBN
Paperback: 978-3-99070-133-1
Hardcover: 978-3-99070-134-8
e-Book: 978-3-99070-135-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Käser

Robert H. Gasser

Robert N.A. Gasser

Vorwort

In regelmäßigen Abständen erreichen uns durch öffentliche Medien und soziale Netzwerke Nachrichten über Suizid, Selbstmordattentate und Amokläufe. Die Autoren haben analysiert, welche inneren Prozesse einem solchen Verhalten vorangehen können. Sie haben sich, in Form einer fiktiven Persönlichkeit (der Käser), auch der Frage gestellt, ob nicht in jedem von uns ein bestimmtes, gefährliches Gemisch aus inneren Zerwürfnissen und äußeren Einflüssen eine Form von Todessehnsucht und Suizidgedanken lostreten kann und, ob der Amoklauf möglicherweise Ergebnis eines gescheiterten Suizidvollzugs sein kann.

Der Leser wird durch einen Wechsel von inneren Verirrungen und Rückblenden in die Gedankenwelt eines typischen Globalisierungsverlierers entführt, dessen ländlicher Beruf im Aussterben ist und dessen harsches Umfeld ihm Verletzungen und Kränkungen bereitet. Das ganze Buch reiht sich an einem etwa halbstündigen Fußmarsch auf und beschreibt die Inneren Vorgänge des Käsers während dieser Zeit. Am Weg von zuhause bis zum Renner durchlebt er an der Grenzfläche zwischen Irrsinn und normaler Reflexion jenen Prozess, der in die endgültige Befreiung durch den Suizid führen sollte, an dem er jedoch in letzter Konsequenz scheitert. So kommt es zu einer Wende ….

Was bleibt, ist das dumpfe Gefühl, dass jeder Mann um die Ecke ein Amokläufer sein oder werden könnte und dass auch wir selbst bei weitem nicht dagegen gefeit sind. Vielleicht lässt sich auch ein leiser Appell erkennen, darüber nachzudenken, was wir mit unserem eigenen Handeln in anderen Menschen auslösen können.

Sicher ungewöhnlich für dieses Genre ist die gemeinsame Autorenschaft. Als Wissenschaftsautor zahlreicher Sachbücher und Artikel ist Co-Autorenschaft für mich Alltag, auch das gemeinsame Feilen an Gedanken und Hypothesen und das gemeinsame Elaborieren der Sprache als Transportmittel der Gedanken und Vorstellungen. Ich empfinde es als außergewöhnliches Vergnügen, mit meinem eigenen Sohn gemeinsam zu schreiben, der bereits mehrfach veröffentlicht hat und seit seinem 15. Lebensjahr neben der Schule als Redakteur für eine Kulturzeitschrift in Graz arbeitet. Aus einem kleinen gemeinsamen Projekt mit Gedichten vor einigen Jahren ist inzwischen eine handfeste, regelmäßige literarische Zusammenarbeit geworden, deren letztes gemeinsames Produkt Der Käser ist.

Univ.-Prof. Dr. Robert Gasser PhD (Oxford, UK)

Der Käser

Robert H. Gasser, Robert N.A. Gasser

Der Fischteich

Er öffnete die Türe und trat hinaus. Der Nebel hing tief in die lichtlose Novemberlandschaft, und der feuchte Lehmboden gab unter seinen Gummistiefelsohlen leicht nach. Das reif-beschlagene Wellblech starrte ihn an, und er starrte zurück auf das Wellblech, das sich aus dem feuchten Lehm wie ein Widerstand gegen alles Zierliche empor drückte, nichts anderes zuließ, nichts als die feuchten Holzbalken, deren Farbe durch die Nässe in ein bedrohliches Dunkel gewechselt hatten, die vielleicht angenehm hell gewesen wären ohne die Feuchtigkeit des Nebels, in den er hinaus trat, während in ihm schon längst kein Antrieb mehr war, das Wellblech wieder über die Balken zu legen, wie es ursprünglich vorgesehen war, um das Holz am Verrotten zu hindern; so verrottete es langsam, eben deshalb - genau wie der Uferstreifen am seichten Fluss, an dem ein Gemisch aus eng verfilztem Wurzelwerk - wie die Gedanken in ihm – verfilzt – mit nass dunklen Blättern einen süßlich-fauligen Geruch ausströmten.

In diesem Moment blickte er nun auch kurz vom seinem Inneren ins Außen, wo nur graue Nebelschleier über dem seichten Wasser waren, die sich wie ein Vorhang rasch wieder schlossen, und er erinnerte sich an einen ganz bestimmten Tag: Er war elf geworden, als er von seinem inzwischen verunglückten Onkel angehalten worden war, am Auslassen des von der Gemeinde gestifteten Fischteiches teilzunehmen, da es ein „Gaudium“ und „für alle Kinder lustig“ sei, einmal so viele Fische zu sehen und dabei zu sein und mitzumachen bei „dem Gaudium“, und die Erinnerung war so deutlich, als geschehe es im selben Augenblick: Er sah die Rücken der Fische im fast ausgelassenen Teich, die bedeckt waren von Schlamm, der in der heißen Sommersonne bereits begonnen hatte zu kleinen grauen Platten zu trocknen, während sich die riesigen Leiber darunter verzweifelt wanden und Männer aus dem Dorf mit Gummistiefeln, Wathosen und verschwitzten Ruderleibchen die Fische an den Schwanzflossen packten, welche drohten, jeden Moment aus dem Leib gerissen zu werden. So versuchten die Männer, die schweren Tiere mit aller Gewalt ans Ufer zu ziehen. Diese wanden sich unter den schweißtriefenden Haaren der Dorfmänner und kämpften umsonst gegen ihre Peiniger, umsonst, da in ihren Kiemen nur noch Schlamm pulsierte. Mit Aufmerksamkeit und Entsetzen beobachtete er dieses schlammige, aussichtlose Pulsieren, während einer nach dem anderen an Land gezogen wurde, wo schon andere Dörfler mit weißen Stangen warteten, die wohl früher Teile von Sonnenschirmen gewesen waren und mit denen auf die Köpfe der Fische einschlugen. Es waren große Fische, sehr große Fische, deren Köpfe barsten wie Kokosnüsse: er sah wie einem Fisch Gehirn und Augen aus dem zertrümmerten Maul flossen, nachdem ein Dörfler fünfmal auf den Kopf des Tieres eingeschlagen hatte und sich der Schlamm zusehends mit Blut mischte. Es mochten an die vierzig Fische gewesen sein, die dort abgeschlachtet worden waren. Ein großer Wels war ihm ganz besonders in Erinnerung geblieben, der von zwei Männern zu einer Art Schlachtbank, zu einem anderen Dörfler, gezogen wurde, der schon mit einem großen Fleischbeil wartete und mit mehreren Hieben, die erst nicht richtig trafen, den Rumpf vom Kopf getrennt hatte, der auf den Boden rollte. Alles war voll Blut, der Körper des Welses war bereits leblos, und der Schlächter mit dem Fleischbeil hob den Kopf vom Boden auf, griff mit beiden Händen von hinten in diesen hinein und machte Bewegungen, die dazu führten, dass sich das riesige Fischmaul schnappend öffnete und schloss und bewegte es dabei auf den Elfjährigen zu. Alle lachten, als dieser davon lief und vor Angst weinte, und auch der Onkel lachte, so erinnerte sich der Käser, als er auf den seichten Fluss blickte und sein Blick auf seine Gummistiefel – es waren keine Watstiefel – nieder fiel und er erinnerte sich noch genau an das Bild der vielen riesigen, abgeschlachteten Fische, die am Ufer lagen und an das viele Blut, die abgeschnittenen oder eingeschlagenen Köpfe und den Onkel, der am Heimweg noch mehrmals sagte, dass es eine „echte Gaudi“ gewesen sei.

Immer noch stand er am Ufer. Er trat einen Schritt vor, erschrak, trat schnell wieder einen Schritt zurück, um vorsichtig wieder einen Schritt vor zu treten, und da war es wieder. Er hatte es genau gehört. Diesmal hatte der Morast unter seinen Stiefeln nicht gezischt wie vorher, sondern geächzt. Es klang wie ein Seufzen. Ungläubig blickte der Käser in das dunkle Gewirr und je länger er hinein blickte, desto mehr fand er sich selbst in diesem feuchten Gewirr und das Gewirr in sich selbst. Einen weiteren Schritt konnte er derzeit nicht wagen, aber es schien, dass er das Seufzen des finsteren Gewirrs mit der Zeit allmählich besser verstehen konnte, und es begann sich eindeutig zu einer Botschaft an ihn zu verdichten. Auf keinen Fall konnte er noch einen Schritt nach vorne machen, um sich der Bedeutung der Botschaft noch sicherer zu werden. Nein. Er tat es nicht, sondern trat wieder einen Schritt zurück, denn er ahnte, was gemeint war, aber er wusste, dass das jetzt noch nicht möglich war, auch wenn ihn ständig ein dumpfes Gefühl darüber begleitete.

Seine graublauen Augen schienen müde von einem durch die Umstände zerfurchten Leben, seine Haare waren ungepflegt, ebenso die Kleidung, sein ganzes Äußeres spiegelte scheinbar schlüssig einen resignierten, abgestumpften Menschen wider, einen jener zahllosen Gescheiterten, die von der Stumpfsinnigkeit des Dörflichen im Laufe ihres Lebens an den Abgrund getrieben worden sind und sich das eigene Ende näher heranholen, meist durch Alkoholismus, seltener durch den Entschluss, sich das Leben direkt zu nehmen. Doch der erste Eindruck täuschte.

Es war nun schon ziemlich viel Zeit vergangen - eigentlich hätte er zum Renner gehen sollen, der ja vielleicht schon auf ihn wartete und ohne den sein Plan letztendlich nicht umsetzbar wäre. Er wollte, nein, er mußte zum Renner, um dort das Wichtigste zu erledigen, aber im Augenblick war ihm das unmöglich, so wie sich die Situation jetzt gestaltete. Es war ihm, als müsse er plötzlich unbedingt zurück zum Haus. Er hatte sich nämlich in diesem Augenblick ganz deutlich daran erinnert, dass sich die Fleischerhaken, die an der Wand seiner Kellerwerkstatt hingen, an eben diesem Morgen bewegt hatten. Jetzt wusste er es wieder. Der Renner konnte sicher noch zuwarten, dachte er, obwohl man im Dorf gesagt hatte, der Renner würde demnächst für längere Zeit wegfahren, und er wusste, dass er den Renner unbedingt noch vor dessen Abreise treffen müsse. Er selbst aber müsse jetzt besser in die Werkstatt zurückkehren, um die Haken noch einmal genau zu kontrollieren, und er drehte sich abrupt um, so, als stünde jemand direkt hinter ihm, was eigentlich gar nicht sein konnte, aber man wisse ja nie. Doch niemand stand hinter ihm. Er fragte sich, ob es jemand bemerken hätte können, dass er sich plötzlich umdrehte und ohne eine Erledigung genau denselben Weg zurückgehen würde. Aufgeregt blickte er um sich. Niemand war zu sehen. Nur das ständige Gebell der Bracke des Forstmeisters tönte aus der Ferne. Er verabscheute die beiden. Andererseits waren sie einander auch irgendwie ähnlich. Aber der Forstmeister war jetzt zu weit weg, um etwas zu bemerken, das erkannte er allein schon durch die akustische Entfernung des Brackengebells.

Kuni

So hatte er Zeit für verschiedene Erinnerungen, wie zum Beispiel jene an den Duft der Frühlingswiese, über die er vor langer Zeit steil hinunter, in den unteren Talabschnitt lief. Er lief, so schnell er konnte, als würde ihn jemand oder etwas mit rasender Geschwindigkeit verfolgen und er hörte noch ganz genau die Stimme des Wasenmeisters, der auf ihn zeigte und ihn verhöhnte. „Der hot sich die Kuni einbildt! Schaut´s ihn eich on, den Trottl!“ Und es war ihm, als wäre die johlende Gruppe rauchender Männer direkt hinter ihm, als könnte er ihren alkoholschwangeren Atem riechen, als würde dieser sich zunehmend mit dem der Frühlingsblumen mischen und diese verderben. „Der Todel hot glaubt, dass die Kuni sich von so an ausgreifn losst!“ Das scheppernde Gelächter der zum Platzen roten Köpfe schien ihn einzuholen, so schnell er auch lief, es kam näher und er schämte sich und war zornig auf sich selbst, er hasste es überhaupt, Empfindungen zu haben und mehr noch als ausgelacht zu werden, hasste er es damals, die Demütigungen überhaupt zu empfinden. Nur weil sie ihn auf ihr Zimmer mitgenommen hatte, hatte er wohl gedacht, dass sie ihn mochte. Es war das erste Mal, dass er so etwas erlebte. Vor seinem inneren Auge sah er nur mehr zwei Bilder des ganzen Ereignisses: die vertrockneten Blumen im Herrgottswinkel und die linke, schneeweiße Brust der Kuni, die sicher noch nie einen Sonnenstrahl gesehen hatte, von Schweiß nass war und an der drei oder vier längere braune Haare gewachsen waren, die auf der feuchten Haut klebten.

Er war gerade erst sechzehn und die Kuni doch einige Jahre älter gewesen. Außerdem war sie mit dem Stelzwanger zusammen, und jeder wusste, dass der Stelzwanger rabiat war - wie konnte er nur glauben, dass die Kuni für einen sechzehnjährigen Burschen den reichen Stelzwanger verlassen würde, und noch während sie sein Gesicht abschleckte, wusste er, dass alles samt und sonders eine Dummheit war. Er hatte auch nicht viel getan, war irgendwie überrumpelt worden, viel war nicht passiert, sie hatte sich ja nur oben ausgepackt und sonst waren beide doch angezogen geblieben. Er wäre am liebsten gar nicht da gewesen, wollte nicht abgeschleckt werden und auch nicht die große Brust mit den Haaren so fest angreifen wie die Kuni es wollte. Zwischen all diesem Nicht-Wollen und Doch-Tun, entstand eben genau jenes bestimmte Gefühl, das er plötzlich nicht mehr los wurde und auch als sie von ihm herunter stieg - es war, als ob ein Schwein vom Trog geht - und oben alles wieder schnell hoch schob und zuknöpfte, sich den BH mit ausladenden Bewegungen richtete und zu ihm sagte, er sei ja nur „a Kasbua“, er solle jetzt „abzischen“, und als er den Raum durch die Holztür mit dem ausgeschlagenen weißen Lack verließ, war das Gefühl immer noch da, irgendwo unter dem Rippenbogen, warm und doch schneidend, wie eine frische Wunde und es ließ eben nicht nach und führte ihn in den folgenden Tagen immer wieder in die Nähe der Kuni, obwohl er wusste, dass dies die größte Dummheit war, weil die Leute, allen voran der Wasenmeister, ihn längst ganz genau beobachteten.

Einmal, er hatte allen Mut zusammen genommen, rief er im Gasthaus an und verlangte nach der Kuni, die ewig nicht zum Telefon kam. Als er sagte, dass er mit ihr reden müsse, rief sie laut und unfreundlich: „Mir brauchen kan Kas! Suach da a Ondare!“ Dies machte die Fleischwunde unter dem Rippenbogen nur tiefer und auch die Verachtung, die er sich selbst gegenüber bereits damals empfand, hatte nun einen großen Sprung vorwärts gemacht („The great leap forward“).

Jetzt aber, am Weg zum Renner, stieß alles in die Leere und zog wie etwas Fremdes, Belangloses, durch ihn hindurch. Er hatte einen Entschluss gefasst und dieser musste wohl vorbereitet sein.

Die Fleischerhaken

Und so war es möglich, dass er sich auf den Weg zurück machte ohne beim Renner gewesen zu sein, wobei er sich schon jetzt fragte, ob er die Kellerwerkstatt durch die Wohnung oder doch durch den separaten Eingang betreten sollte. Er hatte nämlich beobachtet, dass die grüne Lackierung der Kellertüre, die direkt ins Freie führte, durch Wettereinflüsse abzublättern begonnen hatte – im Lack waren Auffaltungen entstanden und kleine, flechtenartige Gebilde erkennbar, wie man sie oft auf Steinen im Gebirge sieht. Das hatte ihm Unruhe bereitet, da vielleicht die Lackierung, welche er sonst mühsam in seiner Kellerwerkstatt an den Präparaten angebracht hatte, ebenfalls kurzlebig sein könnte. Das wäre für den Käser eine Katastrophe gewesen und deshalb wollte er nicht schon wieder mit dem abgewitterten Lack an der Kellertüre konfrontiert werden.

Andererseits, würde er durch die Wohnung gehen, könnte er etwas Unerledigtes oder einen Mangel bemerken, welche ihn abhalten könnten, rechtzeitig in die Werkstatt zu gelangen, um die Fleischerhaken mit seiner unerwarteten Rückkehr zu überraschen. So dachte der Käser und wollte auf keinen Fall einen voreiligen Schritt zurück in Richtung des Hauses machen, ehe er sich nicht ganz sicher war, auf welchem Weg er in die Kellerwerkstatt gelangen sollte. Und so blieb er vorerst stehen. Er war sich zusehends unsicher geworden, aber es war ja noch früh am Morgen. Der Renner war sicher noch zu Hause. Er hätte ohne weiteres noch einmal zurück gehen können. Und er hätte auch einfach zu Boden sehen können, ohne die Oberfläche der Türe anzusehen. Dann hätte er den aufgebrochenen grünen Lack an der Türe ja gar nicht anschauen müssen. Andererseits hätte er ja auch durch die Wohnung gehen können und, den Blick starr auf den Boden gerichtet, den Flur und den Gang durchschreiten und von Innen, unabgelenkt, durch die holzbeschlagene Türe überraschend eintreten können. So wäre er einerseits relativ unbemerkt geblieben, andererseits hätte ihn bereits eine kleine Unachtsamkeit zu einem Blick nach der Seite, nach Oben oder Zurück verleiten können. Nicht auszudenken.

Und überhaupt, wer weiß, ob sich die Fleischerhaken noch immer bewegten? Und würden diese ganz still, also reglos da hängen - was würde das beweisen? Nichts. Sie hätten sich ja genau bis zum Eintritt des Käsers bewegen können. So wie damals, als er in der Werkstatt saß und genau spürte, wie sich einer der beiden großen, rostigen Haken bewegt hatte. Auch da wollte er unauffällig bleiben, saß still und tat so, als hätte er nichts, gar nichts, bemerkt, nur um sich dann plötzlich, mit einem schnellen Ruck, umzudrehen. Auch damals bewegte sich der Fleischerhaken nicht, ja schien sogar wie zwischen seinen einzelnen Kettengliedern erstarrt, als wäre das Metall verlötet gewesen. „Völlig unnatürlich“, dachte der Käser, „man konnte daraus sofort eine Absicht erkennen. Wie einen schleichenden Dieb, der plötzlich inne hält, um nicht entdeckt zu werden, in der allerunnatürlichsten Steifigkeit – aber gerade das verrät ihn.“ Und so war die Bewegungslosigkeit des Fleischerhakens durch Beobachtung und Täuschung einfach nicht zu deuten gewesen. Sie sagte nichts aus. Im Gegenteil, sie könnte eben gerade besonders viel aussagen, zum Beispiel eine absichtlich gestoppte Bewegung. Wie, wenn jemand bei einer Handlung ein besonders schlechtes Gewissen hätte. „Und ein solches wäre bei den Fleischerhaken sicher auch angebracht“, dachte der Käser. Es handelt sich ja bei allen ihren Bewegungen um mit geheimen Absichten durchsetzte Zustände. Dies könne von reinem Angsteinflößen bis zur Tötungsabsicht reichen. Mit Sicherheit aber sollte diese scheinbare Erstarrung der Ketten eine Beunruhigung im Käser auslösen, da war er sich sicher, und so hielt er abermals inne und machte den geplanten Schritt nun doch nicht.

Da er nun schon eine Weile da stand, hatte das Zischen im dunklen Geflecht unter seinen Füßen bereits aufgehört. Es schien schon ganz zusammengepresst worden zu sein, und ihm war für einen Augenblick, als hätte er die innere Enge, welche durch sein Körpergewicht im Wurzel- und Laubgeflecht entstanden war, spüren können. Er musste sich nun irgendwie entscheiden, ob er die Fleischerhaken noch kontrollieren, und die damit verbundenen Umstände auf sich nehmen sollte, oder ob er nicht doch gleich den Weg zum Renner suchen sollte, angesichts dessen möglicher Abreise. „Wann“, dachte der Käser beunruhigt, "habe ich den Renner denn eigentlich tatsächlich zum letzten Mal gesehen?"

Der Renner

Er stand am Eingang in eine schmale Gasse zwischen SPAR und dem Cafe Dolce Vita, wobei sich der Käser nicht sicher war, ob es sich bei ihr überhaupt um eine Gasse handelte, oder doch eher um einen ungewollten oder gewollten Durchgang zwischen zwei Gebäuden.

Im Renner schienen solche Gedanken keinen Platz zu finden, vielleicht war es ihm einfach zu aufwändig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Käser wartete angespannt darauf, den Renner eindringlicher betrachten zu können, jedoch war ihm dies, so lange er vor dem Durchgang stehen blieb, nicht möglich. Der Käser wurde durch diesen Durchgang zu sehr abgelenkt, er konnte sich nicht auf den Renner konzentrieren, würde dieser dort stehen bleiben. Unter keinen Umständen hätte er den Renner begrüßen dürfen, denn es gab nichts, was er mehr fürchtete, als ein Gespräch mit dem frühpensionierten Schlosser, der dort, eine Zigarette rauchend, an einem Kaffee nippte. Der Käser stand mitten auf dem Parkplatz und es begann zu nieseln. Bald würde der Regen so dicht sein, dass er den Renner an der Ecke nicht mehr sehen würde. Es ist nicht gewiss, ob sich der Käser deswegen dazu entschloss, den Renner anzuschauen und all seine Gedanken auf ihn und nicht auf den Durchgang zu konzentrieren, oder, ob er selbst nicht nass werden wollte, den Renner aber trotzdem noch einmal eindringlich anschauen wollte, damit er ihn bis zum nächsten Treffen in sich fixieren konnte. Der Käser konzentrierte sich, und tatsächlich gelang es ihm, nicht auf den Durchgang zu achten, dessen Absicht es ohne Zweifel war, ihn abzulenken. So war es ihm möglich, den Renner von oben bis unten zu mustern. Er sah alles: Die ausgeblichene Glockenschnitthose, die der Renner schon seit seinem siebenunddreißigsten Geburtstag trug, das rosa-orange Hemd, das von kleinen Flecken unklarer Herkunft überzogen war und der von Zigarettenrauch vergilbte, ungepflegte Schnurrbart. So stand er da, seine braunen Arbeiterstiefel wie tief in den Beton gepresst und eine Zigarette, welche der Regen schon gelöscht hatte, zwischen den Fingern in die Leere gestreckt. Der Käser hatte genug gesehen. Es war seine letzte Begegnung mit dem Renner gewesen.

Immer noch stand er auf dem feuchten Boden nahe seinem Haus, an jenem unfassbar trüben Novembertag. Zumindest einen Schritt musste er jetzt machen, auch wenn dieser Schritt noch kein Ziel erkennen ließ: Er könnte ja auch erst nach ein paar Schritten entscheiden, ob er noch einmal zurückgehen sollte, oder zum Haus vom Renner. Und so machte er nun doch einen plötzlichen Schritt nach vorne. Unter seinen Füßen ächzte wieder der Filz aus Wurzeln und schwarzen Blättern und mit dem leisen Zischen entwich ein angenehm fauliger Geruch, wie aufgebrochene Erde, etwas süßlicher und in der kühlen Luft sogar wie etwas Frisches, ein Geruch nach Natur, sich selbst zersetzender Natur – "pflanzlich aber", dachte er, "nicht fleischlich, was für ein dummes Wort", dachte er weiter und erinnerte sich an den toten Igel am Straßenrand. Jeden Tag war er im Sommer mit seinem Moped daran vorbei gefahren. An manchen Tagen war er auch stehen geblieben, um den Prozess zu beobachten, der sich in und an dem Igel vollzog. Eigentlich wäre der Igel ein hervorragendes Stück für seine Zwecke gewesen. Schließlich wusste er auch noch nicht, in welche Richtung der Prozess gehen würde: Verwesung oder Mumifizierung? Viel hing vom Wetter ab, das wusste der Käser. Wenn es feuchter war und zwischendurch warm, war die Verwesung sicher. Der Igel hatte nach mehreren heißen Tagen die Form einer Kugel angenommen, die Beine standen im rechten Winkel wie kleine Stangen aus dieser Kugel. Innen war sicher Verwesung, die gesamte Umgebung war mit einem furchtbaren Verwesungsgeruch erfüllt. Derzeit sah der Käser keine Chance mehr auf Mumifizierung. „Die Verwesung scheint sicher“, so dachte der Käser und er sollte Recht behalten.

Der Sommergast

Er war es, der ihm einen Perspektivenwechsel in alles bisher Dagewesene gebracht hatte. ErSommergast