Roger Zelazny

Die Chroniken von Amber

4

DIE HAND OBERONS

Aus dem Englischen
von Thomas Schlück

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Übersetzung wurde für diese Neuausgabe vollständig überarbeitet.

 

Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Hand of Oberon« im Verlag Gollancz, London

© 1976 by Roger Zelazny

© 2015 by Amber Ltd

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover und Illustration: Birgit Gitschier, Augsburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98130-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10984-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1.

Ein hell lodernder Blitz der Erkenntnis, der zu jener absonderlichen Sonne passte …

Dort lag es, ausgebreitet in diesem Licht, ein Gebilde, das ich bis jetzt nur als Leuchten in der Dunkelheit wahrgenommen hatte: das Muster, das große Muster von Amber, ausgebreitet auf einem ovalen Felsabsatz gleichzeitig unter und über einem seltsamen Himmel-Meer.

… Vielleicht ließ mich das Element, das uns alle zusammenkettete, die Wahrheit erkennen – jedenfalls wusste ich, dass es sich um das einzig wirkliche Muster handelte. Woraus sich ergab, dass das Muster in Amber lediglich der erste Schatten dieses Musters war. Woraus sich ergab …

Woraus sich ergab, dass ganz Amber nur ein Schatten war, allerdings ein besonderer Schatten, denn das Muster wurde nicht an Orte versetzt, die außerhalb von Amber, Rebma und Tir-na Nog’th lagen. Mit anderen Worten: Der Ort, den wir hier erreicht hatten, war das wirkliche Amber.

Ich wandte mich zu einem lächelnden Ganelon um, dessen Bart und verfilztes Haar in der gnadenlosen Helligkeit wie verschmolzen wirkten.

»Woher wusstest du das?«, fragte ich.

»Du weißt, dass ich zu mutmaßen verstehe, Corwin«, erwiderte er. »Ich erinnere mich an alles, was du mir über die Zusammenhänge in Amber verraten hast: wie seine Schatten und die eurer Mühen über die Welten geworfen werden. Bei meinen Überlegungen wegen der schwarzen Straße habe ich mich oft gefragt, ob nicht irgendetwas in der Lage war, einen solchen Schatten auch nach Amber selbst hineinzuwerfen. Dabei kam ich zu dem Ergebnis, dass ein solches Etwas eine ganz grundlegende Kraft sein muss, sehr stark und geheim.« Er deutete auf die Szene vor uns. »Etwa wie das hier.«

»Sprich weiter«, forderte ich ihn auf.

Er zuckte die Achseln.

»Es muss also eine Stufe der Realität geben, die tiefer geht als euer Amber«, erklärte er, »eine Ebene, auf der die wirkliche Schmutzarbeit getan wird. Euer Wappentier hat uns nun an einen Ort geführt, der diesen Vorstellungen zu entsprechen scheint, und der Fleck dort auf dem Muster sieht aus wie die Schmutzarbeit. Du hast mir zugestimmt.«

Ich nickte. »Mich hat mehr deine Hellsichtigkeit verblüfft als die eigentliche Schlussfolgerung«, sagte ich.

»Ihr seid mir zuvorgekommen«, sagte Random von rechts, »doch auch ich hatte tief drinnen eine Ahnung. Ich glaube, das Gebilde dort unten ist so etwas wie die Grundlage unserer Welt.«

»Ein Außenseiter hat manchmal einen klareren Durchblick als jemand, der dazugehört«, kommentierte Ganelon.

Random warf mir einen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf die Szene.

»Glaubst du, dass sich die Umgebung noch weiter verändert«, fragte er, »wenn wir hinabreiten und uns das Ding aus der Nähe ansehen?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte ich.

»Wir reiten hintereinander«, stimmte Random zu. »Ich voran.«

»Einverstanden.«

Random lenkte sein Pferd nach rechts, nach links und wieder nach rechts, in einer langen Folge von Kehren, die uns im Zickzack den größten Teil des Hanges hinabführten. Die Reihenfolge beibehaltend, die wir den ganzen Tag gewahrt hatten, folgte ich ihm, und Ganelon bildete den Abschluss.

»Scheint alles ziemlich stabil zu sein«, stellte Random fest.

»Bis jetzt«, sagte ich.

»Da unten gibt’s eine Art Öffnung im Gestein.«

Ich beugte mich vor. Weiter rechts gähnte eine Höhlenöffnung in Höhe der ovalen Ebene. Von oben hatten wir sie nicht sehen können.

»Wir kommen ziemlich dicht daran vorbei«, bemerkte ich.

»… schnell, vorsichtig und leise«, fügte Random hinzu und zog sein Schwert.

Ich zog Grayswandir, und eine Kurve über mir griff Ganelon ebenfalls zur Waffe.

Vor der Höhle bogen wir jedoch wieder nach links ab und kamen nur auf zehn oder fünfzehn Fuß heran. Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase, den ich nicht zu identifizieren vermochte. Die Pferde dagegen reagierten nervös darauf, sie legten die Ohren an und stießen ein Schnauben aus, während sie sich unruhig gegen die Zügel sträubten. Sie beruhigten sich wieder, als wir den Bogen beschrieben hatten und uns von der Höhle entfernten, und wurden wieder nervös, als wir unseren Abstieg beendeten und auf das beschädigte Muster zuzureiten versuchten. Sie ließen sich nicht dazu bewegen, sich der Erscheinung weiter zu nähern.

Random stieg ab. Er ging zum Rand des Linienlabyrinths, blieb stehen und starrte darauf. Nach einer Weile ergriff er das Wort, ohne sich umzudrehen.

»Nach allem, was wir wissen«, sagte er, »ist es wahrscheinlich, dass der Schaden absichtlich herbeigeführt wurde.«

»So sieht es jedenfalls aus«, sagte ich.

»Ebenso klar ist, dass wir aus einem bestimmten Grund hierhergebracht wurden.«

»Das würde ich auch sagen.«

»Dann braucht man nicht allzu viel Fantasie, um auf den Gedanken zu kommen, dass wir hier feststellen sollen, wie das Muster beschädigt wurde und was man tun kann, um es zu reparieren.«

»Möglich. Wie lautet deine Diagnose?«

»Noch habe ich mir keine Meinung gebildet.«

Er bewegte sich am Rand der Erscheinung entlang nach rechts, wo der verwischte Fleck begann. Ich stieß mein Schwert zurück in die Scheide und wollte absteigen. Ganelon hielt mich an der Schulter zurück.

»Ich schaffe es auch allein …«, begann ich.

»Corwin«, sagte er jedoch, meine Worte ignorierend, »dort draußen, zur Mitte hin, scheint es eine Unregelmäßigkeit zu geben. Sieht nicht so aus, als gehöre das Ding dorthin …«

»Wo?«

Etwa in der Mitte lag etwas, das nicht zum Muster gehörte. Ein Stock? Ein Stein? Ein zusammengeknülltes Stück Papier …? Aus dieser Entfernung war es nicht deutlich zu erkennen.

»Ich sehe es«, sagte ich.

Wir stiegen ab und näherten uns Random, der inzwischen rechts von uns über die Maserung gebeugt kniete und die Verfärbung untersuchte.

»Ganelon hat in der Mitte etwas entdeckt«, sagte ich.

Random nickte.

»Schon bemerkt«, erwiderte er. »Ich versuche gerade, mir darüber schlüssig zu werden, wie man am besten dorthin kommt, um sich das Ding näher anzusehen. Mir missfällt die Vorstellung, ein zerstörtes Muster zu beschreiten. Andererseits frage ich mich, welchem Einfluss ich Tür und Tor öffne, wenn ich versuche, über die geschwärzte Fläche zur Mitte zu laufen. Was meint ihr?«

»Die vorhandenen Teile des Musters abzuschreiten, würde Zeit kosten«, sagte ich, »wenn der Widerstand dem entspricht, was wir von zu Hause kennen. Außerdem hat man uns eingeschärft, dass wir sterben müssen, wenn wir vom Muster abweichen – und wie die Dinge hier liegen, müsste ich das Muster verlassen, sobald ich den Fleck erreiche. Andererseits könnte ich, wie du sagst, unsere Feinde herbeirufen, die sich des schwarzen Weges bedienen. Folglich …«

»Folglich wird es keiner von euch tun«, warf Ganelon ein. »Ich gehe.«

Ohne unsere Antwort abzuwarten, nahm er Anlauf, sprang auf den schwarzen Streifen und rannte darauf zur Mitte hin; hastig hob er den kleinen Gegenstand auf, drehte sich um und kam zurück.

Sekunden später stand er wieder vor uns.

»Das war aber ziemlich riskant«, bemerkte Random.

Er nickte.

»Hätte ich es nicht getan, würdet ihr immer noch diskutieren.« Er hob die Hand und hielt sie uns entgegen. »Was sagt ihr dazu?«

Er hielt einen Dolch in der Hand. Die Klinge hatte sich durch ein fleckiges Stück Pappe gebohrt. Ich nahm ihm den Fund ab.

»Sieht wie ein Trumpf aus«, stellte Random fest.

»Ja.«

Ich löste die Karte, glättete die eingerissenen Teile. Der Mann, den ich betrachtete, war mir halb vertraut – was zugleich bedeutete, dass er mir halb fremd war. Blondes, glattes Haar, ein wenig spitz im Gesicht, ziemlich schmal gebaut, ein halbes Lächeln.

Ich schüttelte den Kopf.

»Den kenne ich nicht«, sagte ich.

»Lass mal sehen.«

Random nahm mir die Karte ab und blickte stirnrunzelnd darauf.

»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ist mir auch unbekannt. Ich habe das Gefühl, ich müsste ihn kennen, aber … nein.«

In diesem Augenblick begannen die Pferde wieder wiehernd und schnaubend an ihren Zügeln zu zerren. Wir brauchten uns nur ein kleines Stück umzudrehen, um den Grund ihrer Unruhe zu erkennen: Etwas war aus der Höhle herausgekommen.

»Verdammt«, zischte Random.

Ganelon räusperte sich und zog sein Schwert.

»Weiß einer von euch, was das ist?«, fragte er ruhig.

Das Aussehen des Ungeheuers erinnerte an eine Schlange, sowohl seine Bewegungen als auch die Tatsache, dass der lange dicke Schwanz wie eine Fortsetzung des dünnen Körpers wirkte. Allerdings besaß das Wesen vier doppelt untergliederte Beine mit breiten Tatzen und bösartig schimmernden Klauen. Der schmale Kopf endete in einem Schnabel und bewegte sich beim Näherkommen von einer Seite auf die andere, so dass von den hellblauen Augen zuerst das eine und dann das andere zu sehen war. Große purpurfarbene Flügel aus einem lederartigen Material waren an den Flanken untergefaltet. Das Wesen besaß weder Haare noch Federn; allerdings hatte es Schuppenflächen auf Brust, Schultern, Rücken und Schwanz. Vom Schnabelbajonett zur hin und her zuckenden Schwanzspitze maß es gut drei Meter. Das Wesen näherte sich mit leisem Klirren, und ich sah an seinem Hals etwas Helles aufblitzen.

»Mir fällt im Augenblick nur ein Vergleich ein«, sagte Random. »Das Ding sieht aus wie ein Wappentier – ein Greifvogel. Nur ist der Bursche hier kahl und purpurfarben.«

»Jedenfalls handelt es sich nicht um unser Wappentier«, stellte ich fest, zog Grayswandir und richtete seine Spitze auf den Kopf des Tiers.

Eine gespaltene rote Zunge zuckte aus dem Maul des Geschöpfs. Es hob die Flügel um einige Zoll und ließ sie wieder sinken. Wenn der Kopf nach rechts schwang, bewegte sich der Schwanz nach links, dann schwang der Kopf nach links und der Schwanz nach rechts, immer hin und her – es hatte fast etwas Hypnotisches.

Der Greif schien sich mehr für die Pferde als für uns zu interessieren; er bewegte sich auf die Stelle zu, wo unsere Tiere bebend und stampfend standen. Ich machte mich bereit, dazwischenzugehen.

In diesem Augenblick richtete sich das Monstrum auf.

Die Flügel fuhren hoch und zur Seite. Sie breiteten sich aus wie zwei schlaffe Segel, in denen sich ein plötzlicher Windhauch verfangen hat. Es stand auf den Hinterbeinen hoch über uns und schien plötzlich viermal so groß zu sein wie zuvor. Und dann kreischte es: Sein fürchterlicher Jagdschrei gellte mir in den Ohren. Gleichzeitig schlug es mit den Flügeln und erhob sich in die Luft.

Die Pferde gingen durch. Das Ungeheuer war außer Reichweite. Erst jetzt ging mir auf, was das Klirren und Blitzen bedeutete. Das Geschöpf war an einer langen Kette festgemacht, die in die Höhle führte. Die genaue Länge dieser Kette war nun eine Frage von mehr als akademischem Interesse.

Als der Greif zischend und flatternd über uns dahinsegelte, drehte ich mich um. Zu einem richtigen Flug hatte der Absprung nicht gereicht. Ich sah, dass Star und Feuerdrache zum entgegengesetzten Ende des Ovals flohen. Randoms Pferd Iago war dagegen zum Muster hin ausgerückt.

Das Geschöpf kehrte auf den Boden zurück, drehte sich um, als wolle es Iago verfolgen, schien uns dann aber noch einmal genauer zu betrachten und erstarrte. Es war uns jetzt viel näher als zuvor – knapp vier Meter –, als es den Kopf auf die Seite legte und uns sein rechtes Auge zuwandte. Es öffnete den Schnabel und stieß ein leises Krächzen aus.

»Was meint ihr, wollen wir es angreifen?«, fragte Random.

»Nein. Warte. Das Ding verhält sich irgendwie seltsam.«

Während meiner Worte hatte es den Kopf sinken lassen und die Flügel nach unten gerichtet. Es berührte den Boden dreimal mit dem Schnabel und blickte wieder hoch. Dann faltete es die Flügel halb an den Körper zurück. Der Schwanz zuckte einmal und begann dann, kräftiger hin und her zu schwingen. Das Ungeheuer öffnete den Schnabel und wiederholte das Krächzen.

In diesem Augenblick wurden wir abgelenkt.

Ein gutes Stück neben der geschwärzten Fläche hatte Iago das Muster betreten. Fünf oder sechs Meter vom Rand entfernt, quer über den Linien der Macht stehend, wurde das Pferd in der Nähe eines der Schleier wie ein Insekt an einem Fliegenfänger festgehalten. Es wieherte schrill, als die Funken ringsum aufstiegen und sich seine Mähne senkrecht emporstellte.

Augenblicklich begann sich der Himmel über dem Muster zu verdunkeln. Doch keine Wasserdampfwolke bildete sich dort. Vielmehr handelte es sich um eine vollkommen kreisrunde Formation, rot in der Mitte, zum Rand hin gelb werdend, die sich im Uhrzeigersinn drehte. Töne klangen auf – etwas, das sich wie ein einzelner Glockenschlag anhörte, gefolgt von einem seltsamen Brausen.

Iago wehrte sich; zuerst bekam er den rechten Vorderhuf frei, musste ihn aber wieder senken, als er den linken hochzerrte. Dabei wieherte er verzweifelt. Die Funken hüllten den Körper des Pferdes fast völlig ein; es schüttelte sie wie Regentropfen von Flanken und Hals und begann dabei, weich und golden zu schimmern.

Das Dröhnen nahm an Lautstärke zu, und kleine Blitze fingen an, in der Mitte des roten Gebildes über uns aufzuzucken. Im gleichen Augenblick erregte ein Klappern meine Aufmerksamkeit, und als ich nach unten blickte, bemerkte ich, dass der purpurne Greif an uns vorbeigeglitten war und zwischen uns und der lärmenden roten Erscheinung Stellung bezogen hatte. Er hockte dort wie ein hässlicher Wasserspeier, von uns abgewandt, und beobachtete das Schauspiel.

Jetzt bekam Iago beide Vorderhufe frei und stieg auf die Hinterhand. Längst wirkte er irgendwie substanzlos; er schimmerte hell, und der Funkenschauer verwischte seine Konturen. Vielleicht wieherte er noch immer, doch das anschwellende Brausen von oben überdeckte nun alle anderen Geräusche.

Ein Trichter ging von der lärmenden Formation aus – hell blitzend, aufheulend und ungeheuer schnell. Die Spitze berührte das sich aufbäumende Pferd, und einen Augenblick lang erweiterten sich seine Konturen ins Ungeheure; gleichzeitig verblassten sie. Im nächsten Augenblick war das Tier verschwunden. Eine Sekunde lang verharrte der Kegel an Ort und Stelle wie ein perfekt ausbalancierter Kreisel. Dann begann der Lärm nachzulassen.

Das Gebilde stieg langsam empor bis zu einem Punkt, der nicht sehr hoch – vielleicht in Mannshöhe – über dem Muster lag. Dann zuckte es so schnell empor, wie es herabgestiegen war.

Das Heulen ließ nach. Das Brausen erstarb. Das Miniaturgewitter innerhalb des Kreises verging. Die ganze Formation begann zu verblassen und zu stocken. Gleich darauf war sie nur noch ein Stück Dunkelheit; eine Sekunde später war sie verschwunden.

Von Iago war nichts mehr zu sehen.

»Du brauchst mich gar nicht erst zu fragen«, sagte ich, als sich Random in meine Richtung wandte. »Ich weiß es auch nicht.«

Er nickte und richtete seine Aufmerksamkeit auf unseren purpurnen Freund, der in diesem Moment mit seiner Kette rasselte.

»Was machen wir mit Charlie?«, fragte er und betastete seine Klinge.

»Ich hatte den Eindruck, dass er uns schützen wollte«, sagte ich und trat vor. »Gib mir Deckung. Ich möchte etwas ausprobieren.«

»Bist du sicher, dass du schnell genug reagieren kannst?«, fragte er. »Mit deiner Wunde …«

»Keine Sorge«, sagte ich ein wenig energischer als nötig und ging weiter.

Seine Bemerkung über meine Verletzung war richtig; die verheilende Messerwunde an meiner linken Seite verursachte noch immer einen dumpfen Schmerz, der jede meiner Bewegungen begleitete. Grayswandir ruhte in meiner rechten Hand, und ich erlebte einen jener Augenblicke, in denen ich großes Vertrauen in meine Instinkte hatte. Schon früher hatte ich mich auf dieses Gefühl verlassen und hatte gut daran getan. Es gibt solche Tage.

Random trat vor und bewegte sich nach rechts. Ich wandte mich zur Seite und streckte die linke Hand aus, als wollte ich mich mit einem fremden Hund bekannt machen: sehr langsam. Unser Wappentier hatte sich aus seiner geduckten Stellung aufgerichtet und drehte sich um.

Nun musterte es Ganelon, der links von mir stand. Dann betrachtete es meine Hand. Es senkte den Kopf und wiederholte das Klopfen auf den Boden, wobei es sehr leise krächzte – ein kaum hörbarer gurgelnder Laut. Schließlich hob es den Kopf und streckte ihn langsam in meine Richtung. Es wackelte mit dem großen Schwanz, berührte mit dem Schnabel meine Finger und wiederholte die Bewegung. Vorsichtig legte ich die Hand auf seinen Kopf. Das Wackeln beschleunigte sich; der Kopf bewegte sich nicht. Ich kraulte das Wesen sanft am Hals, und es drehte langsam den Kopf zur Seite, als hätte es Gefallen an der Liebkosung. Ich ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück.

»Ich glaube, wir sind jetzt Freunde«, sagte ich leise. »Versuch du es mal, Random.«

»Du machst Witze.«

»Nein, ich bin sicher, dass du nichts zu befürchten hast. Versuch es.«

»Was tust du, wenn du dich irrst?«

»Ich entschuldige mich.«

»Großartig!«

Er näherte sich dem Wesen und hob die Hand. Das Ungeheuer blieb freundlich.

»Also gut«, sagte er etwa eine halbe Minute später, während seine Hand noch den schuppigen Hals tätschelte. »Was haben wir nun bewiesen?«

»Dass es ein Wachhund ist.«

»Aber was bewacht er?«

»Offenbar doch das Muster.«

Random wich zurück. »Ohne die näheren Umstände zu kennen«, sagte er, »möchte ich dazu bemerken, dass er seine Arbeit wohl nicht besonders gut macht.« Random deutete auf die dunkle Fläche. »Was begreiflich wäre, wenn er jeden, der nicht Hafer frisst und wiehert, freundlich begrüßt.«

»Ich würde sagen, dass er ziemlich selektiv veranlagt ist. Möglich wäre auch, dass er hier erst postiert wurde, als der Schaden schon geschehen war, um weitere unerwünschte Anschläge zu verhindern.«

»Wer soll ihn denn postiert haben?«

»Das wüsste ich selbst gern. Anscheinend jemand aus unserem Lager.«

»Du kannst deine Theorie noch weiter auf die Probe stellen, indem du Ganelon zu ihm schickst.«

Ganelon rührte sich nicht. »Kann ja sein, dass ihr einen Familiengeruch an euch habt«, sagte er schließlich, »und er nur Amberianer mag. Ich verzichte dankend auf den Versuch.«

»Na schön. So wichtig ist es auch nicht. Mit deinen Vermutungen hast du jedenfalls bisher sehr gut gelegen. Wie interpretierst du die Ereignisse?«

»Von den beiden Gruppen, die es auf den Thron abgesehen haben«, begann er, »war die Gruppe, die aus Brand, Fiona und Bleys bestand, nach euren Worten genauer über die Kräfte informiert, die Amber umgeben. Brand hat euch keine Einzelheiten mitgeteilt – es sei denn, ihr habt mir Dinge verschwiegen, von denen er sprach –, doch ich würde vermuten, dass der Schaden, den das Muster hier erlitten hat, die Pforte darstellt, durch die die Verbündeten der Drei Zutritt zu eurem Reich erlangt haben. Ein oder mehrere Mitglieder dieses Kreises führten den Schaden herbei, der die schwarze Straße möglich machte. Wenn dieser Wachhund auf einen Familiengeruch oder andere Identifikationsmerkmale reagiert, die ihr alle besitzt, kann er durchaus schon seit Urzeiten hier sein und keinen Anlass gesehen haben, gegen die Übeltäter vorzugehen.«

»Möglich«, stellte Random fest. »Und wie wurde der Schaden herbeigeführt?«

»Vielleicht lasse ich dich das demonstrieren, wenn du einverstanden bist.«

»Worum geht es?«

»Komm hierher«, sagte Ganelon, machte kehrt und näherte sich dem Rand des Musters. Ich folgte ihm. Random setzte sich ebenfalls in Bewegung. Der Greif schwänzelte neben mir her. Ganelon drehte sich um und streckte die Hand aus.

»Corwin, würdest du mir bitte mal den Dolch geben, den ich eben geholt habe?«

Ich zog den Gegenstand aus meinem Gürtel und übergab ihn.

»Ich frage noch einmal: Worum geht es?«, wollte Random wissen.

»Um das Blut von Amber«, erwiderte Ganelon.

»Ich kann nicht sagen, dass mir der Gedanke gefällt.«

»Wollen doch mal sehen.«

Random sah mich an.

»Was meinst du dazu?«, fragte er.

»Tu es ruhig. Wir wollen es ausprobieren, die Sache interessiert mich.«

Er nickte.

»Also gut.«

Er nahm Ganelon das Messer ab und schnitt sich in die Kuppe seines linken kleinen Fingers. Er drückte zu und hielt den Finger über das Muster. Ein winziger Blutstropfen erschien, wurde größer, zitterte und fiel.

Sofort stieg an der Stelle, wo das Blut auftraf, eine Rauchwolke empor, und ein leises Knistern war zu hören.

»Da soll doch …« Random war fasziniert.

Ein winziger Fleck hatte sich gebildet, ein Fleck, der allmählich zur Größe einer Hand anwuchs.

»Da habt ihr es«, sagte Ganelon. »So wurde das Muster beschädigt.«

Bei dem Fleck handelte es sich in der Tat um ein winziges Gegenstück zu der umfangreichen Verfärbung, die sich weiter rechts erstreckte. Der Greif stieß einen leisen Schrei aus und wich vor uns zurück, wobei er in schneller Folge von einem zum anderen blickte.

»Ruhig, alter Knabe, ganz ruhig«, sagte ich, streckte die Hand aus und tröstete das Wesen.

»Aber was kann einen so großen Fleck …« Random unterbrach sich und nickte langsam.

»Ja, was?«, fragte Ganelon. »An der Stelle, wo dein Pferd vernichtet wurde, sehe ich keine Verfärbungen.«

»Das Blut von Amber«, sagte Random. »Du steckst heute voller großartiger Erkenntnisse, wie?«

»Sag Corwin, er soll dir von Lorraine erzählen, dem Land, in dem ich lange gelebt habe«, erwiderte er, »und in dem der dunkle Kreis wucherte. Ich bin allergisch gegen die Spuren dieser Kräfte, obwohl ich sie damals nur aus der Distanz kennenlernte. Mit jedem neuen Aspekt, den ich von euch erfuhr, sind mir diese Dinge klarer geworden. Nachdem ich nun mehr darüber weiß, habe ich auch neue Erkenntnisse gewonnen. Erkundige dich bei Corwin nach dem Denken seines Generals.«

»Corwin«, sagte Random, »gib mir mal den durchstochenen Trumpf.«

Ich zog die Karte aus der Tasche und glättete sie. Die Blutflecken daran kamen mir plötzlich viel unheilvoller vor. Und noch etwas fiel mir auf. Ich nahm nicht an, dass die Karte von Dworkin gezeichnet worden war, dem Weisen, Lehrer, Magier, Künstler und ehemaligen Mentor der Kinder Oberons. Bis zu diesem Augenblick war mir gar nicht der Gedanke gekommen, dass vielleicht jemand anderes die Fähigkeit besaß, einen Trumpf herzustellen. Der Stil der Zeichnung war mir zwar irgendwie vertraut, doch handelte es sich eindeutig nicht um seine Arbeit. Wo hatte ich diese selbstbewussten Linien schon einmal gesehen, nicht so spontan wie die des Meisters, als wäre jede Bewegung in allen Einzelheiten durchdacht worden, ehe der Stift das Papier berührte. Und noch etwas stimmte daran nicht – die Darstellung war anders als auf unseren eigenen Trümpfen, als habe der Künstler nicht nach dem lebendigen Objekt arbeiten können, sondern nur nach alten Erinnerungen, kurzen Blicken auf die Person oder sogar nur Beschreibungen.

»Corwin, bitte! Der Trumpf!«, sagte Random.

Der Tonfall seiner Worte ließ mich zögern. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mir in einer wichtigen Sache einen Schritt voraus war – ein Gefühl, das ich ganz und gar nicht mochte.

»Ich habe unseren hässlichen Freund für dich gestreichelt und für unsere Sache einen Blutstropfen geopfert, Corwin. Jetzt gib mir die Karte!«

Ich reichte sie ihm, und mein Unbehagen wuchs, als er das Bild in der Hand hielt und stirnrunzelnd betrachtete. Warum kam ich mir plötzlich wie ein Dummkopf vor? Lähmte eine Nacht in Tir-na Nog’th das Denken? Warum …

In diesem Augenblick begann Random zu fluchen. Er stieß eine Reihe von Kraftausdrücken hervor, wie ich sie in meiner langen militärischen Laufbahn noch nicht gehört hatte.

»Was ist denn?«, fragte ich schließlich. »Ich verstehe dich nicht.«

»Das Blut von Amber«, sagte er schließlich. »Wer immer das getan hat, ist zuerst durch das Muster geschritten, verstehst du? Dann stand er hier in der Mitte und setzte sich durch seinen Trumpf mit ihm in Verbindung. Als er antwortete und den festen Kontakt einging, wurde er erdolcht. Sein Blut strömte auf das Muster und löschte einen Teil der Linien aus, so wie hier mein Blut.«

Er schwieg und atmete mehrmals tief ein.

»Hört sich nach einem Ritual an«, bemerkte ich.

»Zur Hölle mit Ritualen!«, rief er. »Zur Hölle mit ihnen allen. Einer von ihnen wird sterben, Corwin. Ich werde ihn – oder sie – töten.«

»Ich begreife immer noch …«

»Wie dumm von mir, es nicht gleich zu merken! Schau doch! Sieh dir das Bild einmal genau an!«

Mit einem Ruck hielt er mir den durchstochenen Trumpf hin. Ich riss die Augen auf. Noch immer begriff ich nichts.

»Jetzt schau mich an«, forderte er. »Sieh mir ins Gesicht!«

Ich gehorchte. Dann starrte ich wieder auf die Karte.

Endlich wurde mir klar, was er meinte.

»Für ihn war ich nie mehr als ein Hauch des Lebens in der Dunkelheit. Aber sie haben meinen Sohn dafür missbraucht«, fuhr er fort. »Das muss ein Bild von Martin sein.«

2.

Neben dem defekten Muster stehend, ein Bild des Mannes betrachtend, der vielleicht Randoms Sohn war und vielleicht an einer Messerwunde gestorben war, die er an einem Punkt innerhalb des Musters erhalten hatte, drehte ich mich um und versetzte mich in Gedanken in die Vergangenheit. Noch einmal überdachte ich die Ereignisse, die mich an diesen Ort unheimlicher Enthüllungen geführt hatten. Ich hatte in der letzten Zeit so viel Neues erfahren, in dessen Licht die Vorgänge der letzten Jahre eine ganz andere Geschichte zu ergeben schienen als im Augenblick des Erlebens. Die eben entdeckte neue Möglichkeit und die daraus folgenden Weiterungen hatten wieder einmal zu einer Verschiebung meiner Perspektiven geführt.

Ich kannte nicht einmal meinen Namen, als ich in Greenwood erwachte, einem Privatkrankenhaus im Norden des Staates New York, wo ich nach meinem Unfall zwei ereignislose Wochen ohne Erinnerungen verbracht hatte. Erst kürzlich hatte man mir erzählt, dass der Unfall von meinem Bruder Bleys arrangiert worden war, unmittelbar nach meiner Flucht aus dem Porter-Sanatorium in Albany. Dies erfuhr ich von meinem Bruder Brand, der mich auf der Basis gefälschter psychiatrischer Unterlagen überhaupt erst in die Porter-Klinik eingeliefert hatte. Dort hatte man mich mehrere Tage lang einer Elektroschocktherapie unterworfen, die keine klaren Ergebnisse brachte, vermutlich aber ein paar Erinnerungen zurückholte.

Offenbar hatte dies Bleys veranlasst, nach meiner Flucht den überhasteten Mordversuch zu unternehmen; in einer Kurve über einem See hatte er mir zwei Reifen zerschossen. Der Unfall hätte mich zweifellos das Leben gekostet, wäre Brand nicht unmittelbar hinter Bleys aufgetaucht, bestrebt, seine Rückversicherung – mich – zu schützen. Er hatte mir erzählt, er habe die Polizei verständigt, mich aus dem See gezogen und mir Erste Hilfe geleistet, bis die Helfer eintrafen. Kurze Zeit später wurde er von seinen früheren Partnern – Bleys und unsere Schwester Fiona – gefangen genommen, die ihn an einem fernen Schatten-Ort in einen gut bewachten Turm verbannten.

Es hatte zwei Interessengruppen gegeben, die auf den Thron aus waren und die in erbittertem Wettbewerb miteinander standen, die einander bedrängt, bekämpft und sich gegenseitig behindert hatten, wo und wie es nach der jeweiligen Lage möglich war. Unser Bruder Eric, unterstützt durch die Brüder Julian und Caine, hatte Anstalten gemacht, den Thron zu besteigen, der seit dem rätselhaften Verschwinden unseres Vaters Oberon lange Zeit verwaist gewesen war. Das Verschwinden Oberons war aber nur für Eric, Julian und Caine rätselhaft gewesen. Die andere Gruppe, die aus Bleys, Fiona und – am Anfang – Brand bestand, wusste durchaus über die Abwesenheit unseres Vaters Bescheid, war sie doch dafür verantwortlich. Die Drei hatten alles arrangiert, um Bleys den Weg zum Thron zu ebnen.

Dabei hatte Brand aber einen taktischen Fehler begangen und versucht, Caines Unterstützung zu gewinnen; Caine aber überlegte, dass er sich besser stellte, wenn er für Eric eintrat. Dies führte dazu, dass Brand genau beobachtet wurde, der sich aber Mühe gab, die Identität seiner Partner geheim zu halten. Etwa um diese Zeit beschlossen Bleys und Fiona, ihre geheimen Verbündeten gegen Eric einzusetzen. Brand war damit nicht einverstanden, denn er fürchtete die Macht dieser Wesen; in der Folge wurde er von Bleys und Fiona verstoßen.

Nachdem auf diese Weise jedermann hinter ihm her war, hatte er das Gleichgewicht der Kräfte völlig durcheinanderzubringen versucht, indem er jene Schatten-Erde aufsuchte, auf der Eric mich einige Jahrhunderte zuvor als Todkranken ausgesetzt hatte. Erst später hatte Eric erfahren, dass ich nicht gestorben war, sondern an einer totalen Amnesie litt, die für ihn ebenso vorteilhaft war. Er hatte Schwester Flora beauftragt, über mein Exil zu wachen, und gehofft, mich auf diese Weise endgültig los zu sein. Brand erzählte mir später, er habe mich in das Porter-Sanatorium eingeliefert in dem verzweifelten Versuch, mein Gedächtnis zurückzuholen, damit ich anschließend nach Amber zurückkehren konnte.

Während sich Fiona und Bleys mit Brand beschäftigten, hatte Eric mit Flora in Verbindung gestanden. Sie hatte dafür gesorgt, dass ich aus der Klinik, in die mich die Polizei gebracht hatte, nach Greenwood verlegt wurde, wo ich im Betäubungsschlaf gehalten werden sollte, während Eric in Amber seine Krönung vorzubereiten begann. Kurz darauf wurde das idyllische Leben unseres Bruders Random in Texorami gestört, als es Brand gelang, ihm eine Botschaft außerhalb der üblichen Familienkanäle – damit meine ich die Trümpfe – zuzuleiten und seine Befreiung zu erflehen.

Während Random, der ansonsten an dem Machtkampf denkbar desinteressiert war, sich dieses Problems annahm, gelang mir die Flucht aus Greenwood; allerdings stand es mit meinem Erinnerungsvermögen noch immer nicht zum Besten. Nachdem ich mir von dem erschrockenen Direktor der Klinik Floras Anschrift verschafft hatte, begab ich mich in ihr Haus in Westchester und tischte ihr eine komplizierte Geschichte auf. Sie ließ sich bluffen, und ich quartierte mich als Hausgast ein.

Random hatte unterdessen mit seinem Rettungsversuch für Brand keinen Erfolg gehabt. Es war ihm zwar gelungen, den Schlangenwächter des Turms zu töten, anschließend musste er jedoch vor den inneren Wächtern fliehen, wobei er sich einen der seltsamen kreisenden Felsen jener Gegend zunutze machte. Die Wächter, eine ausdauernde Truppe annähernd menschlicher Gestalten, hatten ihn jedoch durch die Schatten verfolgen können, eine Leistung, die Nicht-Amberianern normalerweise nicht möglich ist. Daraufhin war Random auf die Schatten-Erde geflohen, auf der ich damit beschäftigt war, Flora in ein Labyrinth der Missverständnisse zu führen, während ich gleichzeitig den richtigen Weg zur Erkenntnis über mein wahres Ich suchte.

Random glaubte meiner Zusicherung, dass ich ihn schützen würde, und überquerte den Kontinent in der irrigen Annahme, seine Verfolger wären meine Geschöpfe. Als ich dann bei ihrer Vernichtung mitwirkte, war er verwirrt, wollte die Angelegenheit aber nicht zur Sprache bringen, solange ich offenbar private Pläne in Sachen Thronanwartschaft verfolgte. In der Tat ließ er sich schnell dazu verleiten, mich durch die Schatten nach Amber zurückzuführen.

Dieses Unternehmen erwies sich in mancher Hinsicht als vorteilhaft, während es in anderer Beziehung weniger zufriedenstellend verlief. Als ich schließlich den wahren Zustand meines Gedächtnisses offenbarte, führten mich Random und unsere Schwester Deirdre, die wir unterwegs getroffen hatten, in Ambers Spiegelstadt unter dem Meer – Rebma. Dort durchschritt ich das Muster und erhielt daraufhin den größten Teil meiner Erinnerungen zurück – womit sich zugleich die Frage klärte, ob ich nun der wirkliche Corwin war oder lediglich einer seiner Schatten. Aus Rebma kehrte ich direkt nach Amber zurück, wobei ich mir die Macht des Musters zunutze machte und eine sofortige Versetzung bewirkte. Nach einem ergebnislosen Duell mit Eric floh ich durch die Trümpfe zu meinem geliebten Bruder und Möchtegern-Mörder Bleys.

Ich half Bleys bei einem Angriff auf Amber, einer schlecht organisierten Angelegenheit, mit der wir einen Fehlschlag erlitten. Während der letzten Auseinandersetzung verschwand Bleys unter Umständen, die seinen Tod vermuten ließen, die aber – je mehr ich später erfuhr und darüber nachdachte – vielleicht doch nicht dazu geführt hatten. Jedenfalls wurde ich nun Erics Gefangener und unfreiwilliger Zeuge seiner Krönung, wonach er mich blenden und einkerkern ließ. Nach einigen Jahren in den amberianischen Verliesen hatten sich meine Augen regeneriert, doch ich war hilflos dem seelischen Verfall ausgeliefert. Erst das zufällige Auftauchen von Dworkin, Vaters altem Berater, der geistig noch schlechter dran war als ich, bot mir eine Chance zur Flucht.

Dann erholte ich mich gründlich und nahm mir vor, das nächste Mal umsichtiger gegen Eric vorzugehen. Ich reiste durch die Schatten einem alten Land entgegen, in dem ich einmal geherrscht hatte – Avalon –, um mir dort eine Substanz zu verschaffen, von deren Existenz ich als einziger Amberianer wusste – die einzige Chemikalie, die in Amber explosive Eigenschaften entwickelt. Unterwegs kam ich durch das Land Lorraine und stieß dort auf meinen alten exilierten avalonischen General Ganelon – oder jemanden, der ihm sehr ähnlich war.

Ich verweilte hier – wegen eines verwundeten Ritters, eines Mädchens und einer dort auftretenden Gefahr, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Phänomen aufwies, das sich auch in der Nähe Ambers bemerkbar machte: ein wachsender dunkler Kreis, der irgendwie mit jener schwarzen Straße zu tun hatte, auf der sich unsere Feinde bewegten, eine Erscheinung, an der ich mir selbst einen Teil der Schuld gab, hatte ich doch nach meiner Blendung einen Fluch gegen Amber ausgesprochen. Ich siegte in der Schlacht, verlor das Mädchen und reiste in Begleitung Ganelons nach Avalon.

Das Avalon, das wir schließlich erreichten, so erfuhren wir bald, stand unter dem Schutz meines Bruders Benedict, der hier eigene Probleme mit Erscheinungen hatte, welche möglicherweise mit den Gefahren des dunklen Kreises und der schwarzen Straße ursächlich zusammenhingen. Im Entscheidungskampf gegen die Höllenmaiden hatte Benedict den linken Arm verloren, die Schlacht aber gewonnen. Er forderte mich auf, im Hinblick auf Amber und Eric Zurückhaltung zu üben, und gewährte mir schließlich die Gastfreundschaft seines Hauses, während er noch einige Tage im Felde blieb. In seinem Hause lernte ich Dara kennen.

Dara erzählte mir, sie sei Benedicts Urenkelin, deren Existenz vor Amber geheim gehalten worden sei. Sie bemühte sich, mich über Amber, das Muster, die Trümpfe und unsere Fähigkeit des Schattenwanderns auszuhorchen. Sie war übrigens eine sehr geschickte Fechterin.

Nachdem ich von einem Höllenritt an einen Ort zurückgekehrt war, der mir ausreichend Rohdiamanten geliefert hatte, um die Dinge zu bezahlen, die ich für meinen Angriff auf Amber brauchte, zeigte sich Dara nicht abgeneigt, und wir schliefen miteinander. Am folgenden Tag luden Ganelon und ich die erforderlichen Mengen der Chemikalie auf einen Wagen und fuhren zur Schatten-Erde ab, auf der ich mein Exil verbracht hatte. Hier wollten wir automatische Waffen und speziell nach meinen Wünschen gefertigte Munition abholen.

Unterwegs hatten wir Schwierigkeiten an der schwarzen Straße, die ihren Einfluss inzwischen offenbar auch auf die Schattenwelten ausgedehnt hatte. Mit dem Ärgernis der Straße wurden wir fertig, doch dann wäre ich bei einem Duell mit Benedict fast umgekommen, der uns erbittert und voll Hass verfolgt hatte. Zu aufgebracht, um mit mir zu diskutieren, hatte er mich mit dem Schwert durch ein kleines Wäldchen gejagt – ein besserer Kämpfer als ich, obwohl er die Klinge jetzt mit der Linken führen musste. Besiegt hatte ich ihn schließlich mit einem Trick, indem ich die besondere Eigenart der schwarzen Straße ausnutzte, die er nicht kannte.