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Dagmar Meyer

Schwarze Spinne

Weiße Schlange

Roman

Impressum

Text: Dagmar Meyer
Titelbild: Jürgen Zloch

Copyright: Dagmar Meyer 2017

ISBN 978-3-7439-5678-0 (Paperback)

ISBN 978-3-7439-5679-7 (e-Book)

Verlag, tredition GmbH, Hamburg

Nicht in die ferne Zeit verliere dich!

Den Augenblick ergreife!

Der ist Dein.

Friedrich Schiller

Für Günther

1

Schatten im Flur, geschmeidig, geduckt, schwarz an weißen Wänden, als wolle er unter den Geräuschen hinwegtauchen, die ihn aus Räumen hinter Türen anspringen. Die gleichförmige Stimme eines Lehrers, die zornige eines anderen, die fragende eines dritten, Gelächter einer ganzen Klasse, der zittrige Vortrag eines ängstlichen Mädchens; nichts kann den schwarzen Schatten aufhalten, er hat ein Ziel.

Hannes atmet heftiger, die Augäpfel flattern unter unruhigen Lidern, der Mund ist leicht geöffnet, auf der Stirn stehen Schweißtropfen, die Hände irren über die Bettdecke, krampfen sich in den Bezug, als suchten sie einen Halt, nach einer Möglichkeit, den schwarzen Schatten aufzuhalten in seinem Tun.

Jetzt hat er sein Ziel erreicht, die letzte Tür auf der rechten Seite, eine Tür wie alle anderen, dunkelblau gestrichen, und doch bestimmt als Pforte zum schaurigen Ort. Schon entsichert der Mörder seine Pistole, hebt sie auf Augenhöhe, zielt. Fast jede Nacht hört Hannes dieses Klicken, den Höhepunkt des brutalen Spuks. Gleich wird der Unbekannte die Tür aufreißen und sein tödliches Werk beginnen. In diesen Sekunden zwischen Leben und Tod die Stimmen eines Lehrers und Schülers im Wechselgespräch, vertraute Stimmen. Mathematik bei Herrn Hauser. Roland muss an der Tafel vorrechnen, die Mitschüler schreiben in ihre Hefte. Hannes weiß, dass Roland die Aufgabe mühelos lösen könnte, denn Roland ist gut in Mathe, aber er weiß auch, dass der Rechenkünstler nicht mehr dazu kommen wird, ein Ergebnis an die Tafel zu schreiben …

Tische und Stühle knallen auf den Boden, Türen springen auf, Schritte auf dem Flur, die Schreie der Fliehenden. Sirenen von Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen rasen durch seinen Kopf.

Mit einem Ruck setzt sich Hannes auf, noch gefangen im Traum, stoßweise atmend mit weit aufgerissenen Augen, will schreien, Roland, Herrn Hauser, die arbeitenden Schüler warnen. Doch kein Ton kommt aus seinem Mund, nur röchelnder Atem.

Nein, Hannes wird nicht zum Lebensretter, zum Helden, den Schulleitung und Kollegium, Mitschüler und Presse feiern; stattdessen explodieren Schüsse und Schreie in seinem Kopf wie in jeder Nacht, wenn Hannes diesen Traum durchleidet. Und das geschieht oft.

Hannes ließ sich auf das Kopfkissen zurückfallen, versuchte ruhig zu atmen. Fahles Licht fiel durch die Lamellen der Jalousie. Gleich würde der Radiowecker anspringen, nicht mit einem grässlichen, rasselnden Schnarren, nicht mit stampfender Musik, nicht mit der Stimme eines verschlafenen Nachrichtensprechers, sondern mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“. Der Vater hatte den Wecker mit dem CD-Player gekoppelt. Hannes liebte Mozart über alles. Nur die vertrauten Töne brachten Ordnung in seinen Kopf und Ruhe in sein Herz, so weit, dass er aufstehen, sich für den Gang in die Küche zum Frühstück fertig machen und den prüfenden Blicken seiner Mutter standhalten konnte. Mozarts Musik war der Sauerstoff seines Lebens.

Sich aufrichten, Füße auf den Boden setzen. Den Blick schweifen lassen. An der langen Wand dem Bett gegenüber befand sich ein Schrank mit Türen und einigen offenen Regalen, auf denen Bücher ordentlich aufgereiht waren. Zwischen Schrank und Fenster drängte sich ein schmaler Computertisch mit Laptop, darunter ein Drucker. Auf beiden Geräten lag eine dünne Staubschicht, die Hannes nie wegwischte. Nur, wenn es für die Schule nötig war, benutzte er beide Geräte. Deren Funktionen interessierten ihn kaum. Viel lieber lag er auf dem Bett und hörte Musik.

Wenn die Winterabende lang wurden, bastelte er Kriegsschiffe aus großen Modellbögen, die in einer Ecke des Zimmers auf dem Fußboden lagen. Auf einem breiten Regal war schon eine ganze Flotte in Schlachtordnung aufgefahren. Und Musik hören konnte er dabei auch. Dann stellte er sich vor, dass er die Kanonenrohre auf Frank und seine Freunde richtete, die an der Reling des feindlichen Schiffes standen, hämisch grinsten und freche Sprüche herüber riefen. Mitsamt seinen Peinigern ging es dann in einem Feuersturm unter. Hannes stützte den Kopf in die Hände; er wusste, es waren doch nur Träume.

Vor dem Fenster stand ein breiter Schreibtisch, auf dem einige Bücher und Stifte und ein Smartphone lagen. Die linke Tischseite nahm ein Vogelkäfig ein.

Die Sonnenstrahlen des frühen Septembermorgens erreichten das Fenster, schlichen über Tisch und Käfig. Drinnen raschelte es.

„Jussi, bist du wach?“

Vorsichtig zog Hannes das Tuch herunter, ließ es aufs Bett fallen. Der blaugelbe Wellensittich flatterte aufgeregt.

„Ein bisschen Mozart zum Frühstück gefällig?“

Hannes füllte Körnerfutter in den leeren Napf und holte frisches Wasser aus dem Bad. Die Geräusche aus der Küche zeigten an, dass die Mutter ihm das Frühstück richtete. Auf dem Nachttisch stand der CD-Player, den sein Vater ihm zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte, ein hochwertiges, silbern glänzendes Gerät, dazu eine CD-Box mit klassischer Musik, alles neue Aufnahmen hochkarätiger Orchester unter weltberühmten Dirigenten. Ludwig van Beethoven, Joseph Haydn, Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, doch am liebsten hörte Hannes die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart.

Die „Zauberflöte“ hatte es ihm am meisten angetan. Jedes Mal wartete er auf die Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ und dachte dann an Tina aus seiner Klasse. Tina mit den langen, blonden Haaren und den lustigen, blauen Augen, die ihn immer so nett anlächelte. Alle mochten sie, auch die Lehrer.

Thomas Friedmann, Hannes‘ Vater, fand die Liebe seines Sohnes zu klassischer Musik ganz in Ordnung, entsprach sie zwar nicht dem Geschmack der meisten Gleichaltrigen, so doch seiner eigenen Neigung. Seit fünf Jahren wohnte und arbeitete er in München als Filialleiter einer Gartencenterkette. Der Junge hatte sich daran gewöhnt. „Sie würden nun getrennt leben“, hatte Frau Friedmann ihrem Sohn erklärt. Hannes gab sich damit zufrieden. Was sollte er auch sagen? Zu jedem Geburtstag besuchte Herr Friedmann seinen Sohn und verreiste mit ihm in den Sommerferien. Hannes liebte seinen Vater.

Nur widerwillig stellte Hannes die Musik aus, warf Jussi noch einen liebevollen Blick zu und ging hinüber in die Küche. Wenn er am Nachmittag aus der Schule kam, würde er wie immer den CD-Player anstellen und sich vor den Vogelkäfig setzen, bis das Essen fertig war. Jussi konnte er alles erzählen. Der kleine Vogel legte dann das Köpfchen schief, und es schien, als ob er geduldig zuhörte, wenn Hannes sein Herz ausschüttete; dann wurden die Quälereien Franks und der anderen Jungen etwas weniger schlimm, die Missachtung von Lehrern und Mitschülern tat nicht so weh. Und für seine Liebe zu Tina hatte Jussi vollstes Verständnis.

In wenigen Minuten würde die Mutter ihn zum Frühstück rufen. Für ein paar Zeilen reichte es gerade noch. Hannes griff in seinem Schrank unter den Stapel mit Unterhosen und zog sein Tagebuch hervor, einen schmalen Band mit dunkelblauem Bezug, an dem ein Kugelschreiber befestigt war. Das Buch hatte ihm sein Vater geschenkt, der wohl ahnte, dass es seinem Sohn, in Ermangelung eines Freundeskreises, ein nützlicher Vertrauter sein könnte.

Ich frage mich, warum ich so was träume, mit Mord und Totschlag. Vielleicht, weil Fritz immer davon redet, der hat nichts anderes im Kopf, schaut sich auch im Fernsehen nur solche Sachen an. Auch die anderen Jungen reden viel von Videos mit Toten und so. Aber deren Hirne sind sowieso kaum größer als Jussis, da ist für Mozart kein Platz. Aber ich habe anspruchsvollere Hobbys, leider interessiert das keinen, wahrscheinlich mögen sie mich deshalb auch nicht, sondern nur die mit den gleichen Spatzenhirnen wie ihre eigenen. Ich wünschte, Papa wäre da und ich könnte mit ihm darüber reden, Mutter jammert doch nur rum. Sie ruft. Wenn man vom Teufel redet, …

Schnell schob er das Tagebuch in sein Versteck zurück und vergewisserte sich, dass es gut abgedeckt war.

Heißer Tee und zwei Scheiben Toast mit Honig und Marmelade erwarteten ihn an seinem Platz am Küchentisch. Hannes schob sich auf seinen Stuhl und rückte Teller und Tasse zurecht, baute sich ein Schutzschild gegen die aufmerksamen Blicke seiner Mutter.

Frau Friedmann gab sich gar keine Mühe, ihren kritischen Blick auf den Sohn zu verbergen. Dass er vor vier Wochen sechzehn Jahre alt geworden war, ging kaum in ihren Kopf. Unter den Gleichaltrigen gehörte er zu den Kleinsten und Schmalsten, mit zarten, feingliedrigen Händen, die zum Fangen und Werfen harter Bälle nicht geeignet waren. Mit fahlen Wangen saß er da, und es dauerte eine Weile, bis das heiße Getränk die blasse Gesichtshaut rosa färbte. Die hellblauen Augen unter glatten, dunkelblonden Haaren starrten auf den Teller mit dem Toast. Augen und Haare, auch die zierliche Figur hatte Johannes von seiner Mutter geerbt.

Nicht zum ersten Mal beschlich Frau Friedmann das Gefühl, dass Hannes seine Umgebung gar nicht wahrnahm, dass er nach innen schaute, dass er Dinge sah und hörte in einer Welt, die ihr verschlossen war. Und wie immer griff dann die sorgenvolle Frage nach ihr, wie er in einer Umgebung bestehen sollte, die von nach innen gerichteten Blicken nichts wissen wollte, sondern nach solchen verlangte, die das Leben außen sondierten und verstanden; die tiefsinnige Gedanken und Gefühle nur als nette Beigabe anerkannte und Analyse und Handeln forderte.

So wie die Schule.

Frau Friedmann wusste, dass Hannes äußerst ungern in die Schule ging, dass er kaum Kontakt zu Mitschülern hatte, ihn auch nicht wollte. Nur der Name Fritz Bauer fiel bei Hannes des Öfteren; auch dass ihr Sohn sich gegen verbale und physische Grobheiten nicht wehren konnte, hatte ihr mütterlicher Instinkt längst erfasst. Gegen Selbstverteidigungskurse in einem Verein, die ihm die Klassenlehrerin empfohlen hatte, wehrte er sich vehement. Alles Gewalttätige war ihm ein Gräuel.

Schon im Kindergarten war sein Verhalten auffällig gewesen. Hannes saß in einer Ecke, stundenlang versunken in das Spiel mit einem Gegenstand, den er nur unter eindringlichstem Zureden der Kindergärtnerin wieder hergab. Von einer leichten Form von Autismus sprach die Leiterin der Einrichtung. Frau Friedmann hatte daraufhin im Internet gesucht und gefunden, dass Autismus eine Entwicklungsstörung sei, die man nicht heilen könne. Auffallend seien Schwächen in sozialer Kommunikation und Interaktion. Manchmal hätten autistische Kinder besondere Begabungen und eine hohe Intelligenz. Doch von beiden hatte die Mutter bei ihrem Sohn bisher nichts gemerkt. Sie war fest entschlossen, nach der Abschlussprüfung mit ihm in ihre Heimat Österreich zurückzukehren, nach Wien, wo es nach ihrer Einschätzung bessere Ärzte als in Deutschland gab. Sie würden Hannes helfen.

Der Junge stieß seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Hast du deine Sachen alle zusammen?“

Er nickte nur, zog seine Jacke an und griff nach dem Schulrucksack. Der Bus wartete nicht.

Frau Friedmann nahm seinen Kopf in beide Hände und drücke ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Hannes zog seinen Kopf weg, er hasste solche Gefühlsbezeigungen, auch bei seiner Mutter.

„Mach’s gut, mein Junge.“

Hannes nickte wieder, schloss die Tür hinter sich und eilte zur Straße, wo der Bus gerade um die Ecke bog. Was sollte er gut machen und vor allem wie?, ging ihm dann jedes Mal durch den Kopf. Auch am Nachmittag und Abend, wenn die Mutter ihm nach der Schule einen Tee kochte und Mozarts heilige Hallen ihn schützend aufnahmen. Doch draußen in der rauen Schulwelt waren die Hallen unheilig, die feindlichen Armeen nicht aus Papier, sondern gut aufgestellt; sie gingen zum Angriff über, sobald das Pausenzeichen ertönte und der Lehrer das Klassenzimmer verlassen hatte. Ihnen voran Frank Reichert, der mächtige Frank, der die Klasse wiederholen musste, der fast alle Lehrer schon gegen sich aufgebracht hatte, der laut war und in einer Sprache redete, von der Hannes kein einziges Wort in den Mund nehmen würde. Die anderen Jungen duckten sich hinter dem breiten Rücken ihres Generals, des coolen Frank, wo für Hannes, der Schutz so nötig hätte, kein Platz war.

Er hatte nur Mozart.

2

Die Verkehrsdichte am Autobahndreieck hatte es in sich. In drei Reihen standen die Fahrzeuge im morgendlichen Stau und quälten sich im Stopand-go-Verkehr vorwärts. Die aufgehende Sonne glitzerte auf manchen Karosserien und blendete die Autofahrer. Frau Kampmann wusste aus langjähriger Fahrerfahrung, dass es in ein paar Minuten wieder flüssiger vorangehen und, nach einem kurzen Blick auf die Uhr, sie rechtzeitig zur Realschule kommen würde. Wie seit zehn Jahren schon. Nur ein- oder zweimal in jedem Winter kam sie zu spät, weil Schnee oder Glatteis die Straße zu einer gefährlichen Rutschbahn machten und zahlreiche Autofahrer mit der ungewohnten Situation nicht umgehen konnten.

Drei Jahre noch die Autobahn, montags bis freitags, Woche für Woche, bei Sturm und Regen, Eiseskälte oder Hitze. Es sei denn, es waren Ferien. Während der Schulwochen stand nicht selten eine Extrafahrt an, wenn Elternabende, Aufführungen oder Schulfeste angesetzt waren. In drei Jahren wäre sie fünfundsechzig und würde in den Ruhestand gehen. Ihr Mann Friedrich hatte das Pensionsalter vor zwei Jahren erreicht und genoss das neue Leben außerhalb des Rathauses, wo sein Arbeitsplatz gewesen war. Die beiden Kinder, Martina und Jan, waren erwachsen, lebten in einiger Entfernung und kamen nur noch zu besonderen Anlässen nach Hause. Drei Jahre noch, dann könnten Friedrich und sie jeden Morgen so lange frühstücken und Zeitung lesen, wie sie wollten; sie könnten in die Berge gehen oder Fahrrad fahren, wann immer ihnen danach war. Keine stundenlangen Korrekturen mehr von Aufsätzen und Diktaten, keine ätzenden Stundenvorbereitungen, kein tagelanges Kopfzerbrechen über Noten oder Elterngespräche. Welche Aussichten!

Die zwanzigminütige Autofahrt jeden Morgen von ihrem Zuhause zur Schule gab ihr die Gelegenheit, sich die Anforderungen des Tages durch den Kopf gehen zu lassen.

Anstehende Probleme mit Schülern sollten auf mögliche Lösungen durchdacht, Gespräche mit Kollegen im Geiste konzipiert und der Stundenplan des Tages im Kopf durchgegangen werden. Außerdem sprang sie unterwegs hin und wieder die Sorge an, ob sie alle notwendigen Bücher, Hefte und Materialien dabei hatte für Deutsch, Geographie und Ethik. Das waren ihre Fächer, wobei letzteres ihr Lieblingsfach war, gab es ihr doch die zusätzliche Möglichkeit, so manche Schülerkonflikte anzusprechen. Auch tagesaktuelle gesellschaftliche und kulturelle Themen nutzte sie, sooft es ging, für ihren Unterricht.

Außerdem war im kommenden Frühjahr noch eine Klassenfahrt nach Berlin geplant. Der Termin stand schon fest, am Programm musste noch gefeilt werden. Auch zu ihrem zuständigen Bundestagabgeordneten hatte sie Kontakt aufgenommen, damit er die Klasse im Abgeordnetenhaus empfangen und den Schülern Rede und Antwort stehen würde.

Klassenreisen hatte sie schon eine ganze Reihe im Laufe ihres Lehrerlebens durchgeführt.

An die Fahrt ins Emsland erinnerte sie sich besonders gerne.

Später würde sie nicht mehr sagen können, in welchem Katalog sie dieses Jugenddorf entdeckt hatte; eine Anlage mit vielen kleinen Häuschen, in denen jeweils eine Schülergruppe wohnte, die es nicht nur in Ordnung halten, sondern sich auch selbst versorgen musste. Da lernte Frau Kampmann einige Schüler von einer ganz neuen Seite kennen. Sie und ihre Kollegen wurden so manches Mal abends von den Schülern in ihr Häuschen zum Essen eingeladen und entdeckten bei ihnen ungeahnte kulinarische Fähigkeiten.

Zu dem Jugenddorf gehörte ein Ponyhof, auf dem sich die Kinder ein Pferd holen und auf dem Gelände reiten durften. So konnte es passieren, dass ein Schüler, zur Lehrerin einbestellt, mit seinem Pferd zum Termin ritt, es in Cowboymanier am Geländer ihres Häuschens festband, klopfte und eintrat. Wildwest in Ostfriesland.

An einem Tag machte die Klasse einen Busausflug nach Amsterdam. Für das Geburtshaus der Anne Frank interessierten sich einige, mehr aber für die Straße mit den leicht bekleideten Damen in den Fenstern und die Möglichkeit, an Drogen zu kommen. Amsterdam wurde als Ausflugsziel gestrichen.

Der zusätzliche Arbeitsaufwand einer Klassenreise war riesig, von den vielen Unwägbarkeiten, Aufregungen und unvermittelt auftretenden Gefahren unterwegs ganz zu schweigen.

Mit Schaudern dachte sie an den Aufenthalt am Titisee zurück, als die Schüler in der achten Klasse waren. Die meisten Kinder befanden sich nach dem Abendessen schon auf den Zimmern, saßen auf den Betten, hörten Musik und schwatzten. Frau Kampmann und Kollege Timm saßen zusammen und genossen den seltenen, ruhigen Moment. Plötzlich gab es einen lauten Knall, dann Geschrei auf dem Flur, im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, eine junge Frau vom Küchenpersonal zeigte mit dem Finger nach draußen, die Augen vor Schreck geweitet, das Entsetzen hatte ihr die Sprache verschlagen. Der Kollege und sie eilten auf den Flur, wo Schüler in Panik durcheinanderliefen. Durch die offen stehende Tür der Jugendherberge konnte man ein Auto auf dem Dach liegen sehen, das von der Straße abgekommen und über die Böschung bis vor das Gebäude katapultiert worden war.

Frau Kampmann stürzte ins Büro und ans Telefon, während Schülerinnen und Schüler in Panik auf den Fluren herumliefen. In strengem Ton scheuchte der Kollege alle Kinder auf ihre Zimmer mit der Auflage, sie auf keinen Fall zu verlassen. Dann rannten beide Lehrer hinaus zum verunglückten Wagen, aus dem stöhnende Laute zu hören waren. Sie knieten sich rechts und links neben die zertrümmerten Fensterscheiben und erkannten zwei junge Männer, die kopfüber in den Gurten hingen und in einer fremden Sprache jammerten. Nach kurzer Zeit waren in der Ferne Martinshörner zu hören; sobald die Rettungsfahrzeuge hielten und Sanitäter die Böschung herabrannten, verließen die Lehrer ihre Plätze und eilten zu den Schülern. Frau Kampmann bot sich ein erbarmungswürdiges Bild, als sie die Tür zu einem Mädchenzimmer öffnete. Da saßen alle zusammengekauert auf zwei Betten, starrten sie angstvoll an und wären am liebsten gleich nach Hause gefahren. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Mädchen sich soweit beruhigt hatten, dass sie in ihren Betten bleiben und gemeinsam Musik hören konnten. Die Lehrer zogen sich wieder zurück, saßen ebenfalls zusammen und wagten sich nicht vorzustellen, was hätte passieren können, wenn die Schüler noch draußen vor dem Haus gewesen wären.

Am nächsten Morgen erschienen zwei Polizisten, um die Lehrer zu befragen und mitzuteilen, dass die beiden Männer im Krankenhaus seien und es ihnen verhältnismäßig gutgehe. Sie seien Skispringer aus Skandinavien, die ein Sommerskispringen in der Nähe gewonnen, anschließend mit zu viel Alkohol gefeiert und auf der kurvenreichen Strecke bei zu hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über den Wagen verloren hätten.

Doch so spektakulär waren Ereignisse auf Klassenreisen eher selten.

Bei älteren Schülerinnen konnte es schon vorkommen, dass die Lehrerin gleich nach der Ankunft mit der Frage überrascht wurde, wo man denn die vergessene Anti-Baby-Pille besorgen könne. So geschehen in London. Frau Kampmann musste passen, nur Mitschülerin Emma wusste Rat: „Versuch’s mal mit Renni, räumt nicht nur den Magen auf!“

Was machte man mit Jungen, die im heimatlichen Revier ständig den ganz Coolen raushingen, im Ausland aber keinen Schritt alleine zu gehen wagten und am Rockzipfel der begleitenden Lehrerinnen hingen? Da half nur, sie mit Befehl in eine andere Richtung zu schicken. Was tun mit Mädchen, die spät abends, wenn Nachtruhe gefordert war, äußerst spärlich bekleidet durch die Flure des Jugendhotels wandelten, angeblich nur zur Toilette gingen, dies aber in der schlecht verborgenen Hoffnung, dass die Tür eines Jungenzimmers aufging? In manchen Nächten gab es ziemlich viele blasenschwache Schülerinnen.

Problematischer war es mit einzelnen Jungen, die sich in Schränken und unter Betten in Mädchenzimmern versteckten, wenn die Lehrerkontrolle nahte. Unter großem Gejohle wurden die Übeltäter herausgezogen und hinausgeschickt. Dabei beließ man es meistens. Nur unbelehrbare Wiederholungstäter wurden mit Strafen belegt, etwa mit zusätzlichem Küchendienst. Das wirkte abschreckend.

Nicht einfach war es mit dem Jungen umzugehen, der nachts partout nicht in sein Zimmer wollte, auf den Fluren spazieren ging und sich schließlich mit dem begleitenden Lehrer anlegte. Als der richtig böse wurde, machte der Sechzehnjährige einen Rückzieher, der dem Lehrer die Sprache verschlug: „Ach, Herr Hauser, Sie wissen ja gar nicht, was ich für eine schreckliche Kindheit gehabt habe!“

Das Konzentrationslager Dachau aufzusuchen, gehörte zum Pflichtprogramm jeder Oberstufenklasse. Die Ausstellungsräume und der große Platz mit den Baracken machten nachhaltigen Eindruck auf die Jugendlichen. Während Schüler und Lehrer über das Gelände gingen, ergab sich so manches Gespräch über Befehl und Gehorsam, Schuld und Sühne und die Frage, wie Menschen Menschen so etwas antun konnten. Viele Monate später, während der Berlinreise, würden sich die Schüler wieder an diesen Ort des Grauens erinnern: Als sie im Innenhof des Bendlerblocks an dem Ehrenmal standen, das an die hingerichteten Offiziere des Hitler-Attentats erinnerte; ein eindrucksvoller Ort.

Keine Klassenfahrt ohne Aufreger.

München war immer eine Reise wert. Man besuchte das Deutsche Museum, die Bavaria Filmstudios, den Viktualienmarkt. Am Abend waren alle Schüler vollzählig wieder im Zug, und Frau Kampmann atmete erleichtert auf. Kurz vor der Abfahrt dann eine Durchsage, der Zug sei defekt, alle Reisenden müssten umsteigen in den Ersatzzug auf Gleis soundso. Die Schüler hatten sich wegen Platzmangels auf mehrere Wagen verteilen müssen, auf den reservierten Plätzen saßen zu ihrem allergrößten Ärger Fremde. Sie war einem Herzinfarkt nahe in der Sorge, ob alle Schülerinnen und Schüler die Durchsage gehört und den richtigen Zug gefunden hatten. Zum Glück war niemand verloren gegangen. Wieder einmal dachte sie daran, dass Lehrer bei jeder Schülerreise mehr als einen Schutzengel bräuchten und oft mit einem Fuß im Gefängnis stünden.

Jetzt also noch einmal Berlin, und dann war endgültig Schluss mit Schülerreisen.

Edith Kampmann fand, dass sie eine verhältnismäßig gut organisierte Frau war. Auf ihren Joggingläufen im Wald entstanden so manche Stundenkonzepte im Kopf, die sie später zu Hause nur aufzuschreiben brauchte. Ein Stapel Hefte ging in allen Ferien mit auf Reisen. Unterwegs in den Urlaub arbeitete sie auf einer Knie-Tisch-Konstruktion aus Hartpappe, während ihr Mann das Auto fuhr. Gab es auf der Fahrt in den Winterurlaub dann noch einen längeren Stau, war so manches Diktat am Ende der Reise fertig korrigiert. Kollegen und Schüler staunten nicht schlecht.

Die Autos rührten sich noch nicht von der Stelle. Ob es weiter vorne einen Unfall gegeben hatte? Ihre Gedanken schweiften zu den Schülern der Klasse 10b, in der sie Klassenlehrerin war.

Dass Frank Reichert, das enfant terrible der gesamten Schule, sitzen geblieben und ausgerechnet ihrer Klasse zugeteilt worden war, hätte vielleicht auch nicht gerade sein müssen.

„Sie schaffen das schon“, hatte Schulleiter Ossowsky aufmunternd gesagt. „Wer, wenn nicht Sie.“

Doch Vorschusslorbeeren halfen ihr nicht wirklich weiter.

Ausgerechnet Frank. Groß und kräftig gebaut, hatte er sehr schnell die Führungsrolle bei den Jungen übernommen. Sie folgten ihm bedingungslos. Was blieb ihnen auch anderes übrig, wollten sie nicht auf der Looserseite landen, so wie Hannes? Seine schwachen Schulleistungen suchte Frank mit kompromissloser Herrschsucht vergessen zu machen, zumindest bei den Mitschülern. Solche, die sich nicht wehren konnten, triezte er erbarmungslos. So viele Anrufe empörter Eltern wegen eines Schülers innerhalb so weniger Wochen hatte Edith Kampmann noch nie bekommen.

Besonders der kleine, sanftmütige Hannes war seit Schuljahrsbeginn zu Franks Hauptopfer geworden. Sie wusste, dass sie energisch und möglichst bald eingreifen musste, damit der Konflikt nicht aus dem Ruder lief. Während Hannes‘ Mutter in der Sorge um ihren Sohn mehr als einmal in der Woche bei Frau Kampmann anrief, war kein Kontakt zu Franks Eltern herzustellen. Sie musste mit der Schulleitung reden.

„Da hat man dir ja eine böse Laus in den Pelz gesetzt.“

Auch die Kollegen, die in der Klasse unterrichteten, hatten Mitleid mit ihr und waren schlecht auf Frank zu sprechen. Nicht nur, dass er faul war und schlechte Leistungen brachte, er störte auch den Unterricht erheblich durch unverschämtes Benehmen und ordinäre Sprache. Seinetwegen hatte es schon eine Klassenkonferenz gegeben, obwohl das neue Schuljahr gerade erst begonnen hatte. Edith Kampmann ahnte, dass noch mehr als eine folgen würden.

Auch Fritz Bauer machte der Klassenlehrerin Sorgen. Er war ein Einzelgänger, schlug um Frank und seine Gang stets einen großen Bogen. Still saß er im Klassenzimmer, verfolgte den Unterricht meistens aufmerksam, meldete sich jedoch so gut wie nie zu Wort. Manchmal saß er geistesabwesend da, und Frau Kampmann ahnte, dass er mit den Gedanken bei seinem schwerkranken Vater war. Frau Bauer hatte ihr als Klassenlehrerin von der Krebserkrankung ihres Mannes und finanziellen Sorgen erzählt und um Nachsicht für ihren empfindsamen Sohn in dieser schweren Zeit gebeten. Fritz würde allen Kummer in sich hineinfressen und sich Mühe geben, ihr im Haushalt so viel als möglich zu helfen. Er sei ein gutmütiger Junge, der nur selten einmal ausraste, woran Frau Kampmann nicht zweifelte. Dass Fritz und Hannes oft die Pausen miteinander verbrachten, hatte sie während ihrer Aufsichten schon beobachtet. Da hatten sich zwei zusammengefunden, die anders waren als die große Schülermeute und an Lärm und protzigem Gehabe keinen Gefallen fanden. Sie hoffte, dass sich die beiden Jungen gegenseitig gut taten.

Im Vergleich mit dem Konflikt zwischen Frank und Hannes waren die Spannungen zwischen der Klassengemeinschaft und den fünf russischen Mädchen keine große Sache. Svetlana, Anna, Katharina, Russja und Mascha waren mit der letzten Aussiedlerwelle deutschstämmiger Russen nach Deutschland gekommen. Sie waren fleißig, bei Lehrern beliebt und zeichneten sich durch hervorragende Kenntnisse in Mathematik und künstlerische Begabung aus. Dass sie sich in den Pausen oft absonderten und untereinander fast ausschließlich Russisch sprachen, verunsicherte die Klassenkameraden. Sie beklagten sich bei der Klassenlehrerin. Es konnte doch sein, dass sie über den einen oder anderen Jungen oder manches Mädchen Schlechtes redeten, nicht wahr? Die Schüler bestanden darauf, dass sowohl im Unterricht als auch in den Pausen nur Deutsch gesprochen werden sollte; zu Recht, meinte auch Frau Kampmann und führte mit den Mädchen immer wieder ein ermahnendes Gespräch in der Hoffnung, dass ihnen die Kommunikation in deutscher Sprache bald selbstverständlich sein und sich damit ihr Sozialverhalten verbessern würde. Wahrscheinlich gab es auch auf ihrer Seite eine große Portion Unsicherheit, was das Miteinander und die Abläufe in einer deutschen Schule betraf. Und die Sehnsucht nach Freundinnen, die man in Russland zurücklassen musste, nach der vertrauten Wohnung in der fernen, heimatlichen Stadt dürfte auch eine Rolle in ihrem Verhalten spielen. Aber im Grunde waren sie gutwillig.

Es schien so, als ob sich die Blechkolonne wieder in Bewegung setzen würde. Edith Kampmann warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und war durchaus mit sich zufrieden. Gestern war sie beim Friseur gewesen, hatte sich ihre grauen Haare mit silbrigen Strähnchen aufpeppen und einen flotten Kurzhaarschnitt verpassen lassen. Natürlich würde ihre neue Frisur von den modebewussten Mädchen ihrer Klasse kritisch beäugt werden. Desgleichen ihre Garderobe von Kopf bis Fuß. Doch daran hatte sie sich längst gewöhnt.

Auf dem zur Schule gehörenden Parkplatz war zum Glück noch eine Lücke frei, so dass sie nicht wieder ausfahren und irgendwo am Straßenrand parken musste. Sie zog den Mantel an, griff nach ihren Taschen und machte sich auf den Weg über den Schulhof zum Haupteingang. Zahlreiche Schüler waren schon da, obwohl es noch fast zwanzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn dauerte. Sie standen in Grüppchen beisammen, schwatzten und warteten darauf, dass der Hausmeister die beiden Türflügel öffnete.

Edith Kampmann liebte es, früh im Lehrerzimmer zu sein, ihre Sachen auf dem Tisch zu ordnen und durchzusehen, was die Schulsekretärin ihr zur Bearbeitung und zur Kenntnisnahme hingelegt hatte. Für die Fächer Deutsch und Ethik war sie verantwortlich, und so landeten alle entsprechenden Vorgänge auf ihrem Tisch.

Referendar Arno Schütt erreichte den Eingang gleichzeitig mit seiner älteren Kollegin und hielt ihr eilfertig die Tür auf. Er selbst hatte seinen Rucksack lässig über eine Schulter geworfen.

Aus dem Lehrerzimmer war Stimmengemurmel zu hören, aus dem rechten Nebenzimmer das Surren des Kopierers, Rascheln von Papier und die Unterhaltung von Lehrern, die warten mussten, bis sie noch schnell Unterrichtsmaterial kopieren konnten. Morgens vor der ersten Stunde war hier meistens starker Betrieb. Deshalb hatte Frau Kampmann es sich angewöhnt, Kopien für den nächsten Tag mittags zu machen, bevor sie die Schule verließ, auch wenn sie noch so erschöpft war. Meistens war sie dann allein im Kopierraum und konnte in Ruhe arbeiten.

Der junge Referendar öffnete für seine beladene Kollegin auch die Tür zum Lehrerzimmer. Während er zu seinem eigenen Platz weiterging, legte sie Taschen und Hefte auf ihren Tisch und ließ sich erleichtert auf den Stuhl fallen.

„Guten Morgen.“

Der Kollege am Tisch neben ihrem blickte nur kurz hoch, „Guten Morgen“ murmelnd, während er fahrig in dem Chaos auf seinem Tisch herumsuchte, das Unterste zuoberst kehrend.

„Sag mal, Edith, kannst du mir für die erste Stunde die Deutsche Grammatik Klasse 10 leihen? Ich finde meine gerade nicht.“

Kein Wunder, dachte Frau Kampmann, in diesen Haufen auf deinem Tisch würde ich auch nichts finden. Wortlos schob sie ihm das gewünschte Buch hin. Am Tisch gegenüber stierte ein junger Kollege müde vor sich hin.

„Na, wie viele Kilometer bist du denn gestern Nachmittag noch geradelt?“ Ein gequältes Lächeln statt einer Antwort.

Der Schulalltag hatte begonnen.

3

Zur ersten Stunde waren längst noch nicht alle, aber doch schon zahlreiche Kolleginnen und Kollegen anwesend.