Aphoristisches, Nachdenkliches, Alltägliches
und ganz Persönliches:
von Abenteuer bis Distanz
© 2017 Heike Jacobsen
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-7439-5693-3 |
Hardcover: | 978-3-7439-5694-0 |
e-Book: | 978-3-7439-5695-7 |
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Gedanken zum Wert Abenteuer
Sich auf etwas Unbekanntes einzulassen erfordert Neugierde und Mut. Der Beginn von etwas Neuem fasziniert mich immer wieder. Ein Umzug in eine neue Wohnung, ein neuer Job oder Auftrag in einem anderen Land, eine Begegnung mit einem Fremden: Noch ist nichts vertraut, alles ist offen, lädt ein zu Entdeckung und allmählichem Miteinander-Bekanntwerden.
Diese Aufbruchsstimmung habe ich gerne in meinem Leben und genieße es, ab und zu in etwas ganz Neues einzutauchen wie in ein anderes Element.
Abenteuerlust bedeutet für mich, meinem inneren Antrieb zur Entdeckung zu folgen. In diesem Sinne liebe ich Abenteuer. Ein bisschen Gefahr ist auch immer dabei.
Oft bringt mich dieser Antrieb dazu zu reisen, fremde Sprachen, Gerüche, Klänge und Bilder in mich aufzunehmen und mich selbst darin ganz anders zu erleben, mich darin neu handeln zu sehen und neue Seiten an mir zu entdecken. Auch wenn sich mitunter unerwartet Seiten zeigen, die bisher im Verborgenen geblieben sind ...
Kleines Abenteuer in Alexandria
Als ich vor vielen Jahren mit meinem damaligen Mann in seiner Heimat, Ägypten, zu Besuch war, blieben wir für einige Tage in Alexandria und durften die Sommerwohnung seines Schwagers nutzen. Im Fahrstuhl zum siebten Stock hingen lose Kabel. Eine Ratte huschte über den Hof. In der Wohnung Kitsch, Goldrahmen, Prunksessel. An einem Abend wollte mein Mann noch spazieren gehen, ich war zu müde. Um mich zu beschützen, schloss er in Gedanken versunken die Tür hinter sich ab.
Kaum hatte er den Schlüssel abgezogen, wurde mir heiß. Mein Herz klopfte, und ich hörte das Blut in den Ohren rauschen. Ich befand mich in Alexandria in einer Wohnung im Dachgeschoss. Die Adresse kannte ich nicht, hatte kein Geld, keinen Schlüssel, kein Telefon. Wen hätte ich hier auch anrufen sollen? Die alte Wanduhr tickte laut. Vom Balkon aus sah ich auf die Menschenmenge unten, bei dem Verkehr hätte mich niemand gehört. Ein Mann verprügelte seinen Esel, Autos fuhren mit wenigen Zentimetern Abstand laut hupend bei Rot langsam weiter, während ein Polizist, ausgestattet mit bedeutungsvoll blinkenden Lämpchen auf seiner Weste, einen Fußgänger zurückpfiff. Eine Familie machte mitten auf der Straße ein Picknick, ein Teeverkäufer rannte zwischen den Autos hindurch, und vom Ende der Straße näherte sich eine Hochzeitsgesellschaft mit Musikanten, ein lärmendes Spektakel.
Sicher kommt er gleich zurück, dachte ich. Und wenn er überfahren wird? Niemand weiß, wo ich bin. Auf der anderen Seite der Wohnung blickte ich auf unmittelbar angrenzende Häuser mit Flachdächern voller Müll. Offensichtlich hatte jeder Bewohner eine eigene Satellitenschüssel oder wenigstens eine Antenne hier aufgestellt und mehr oder weniger provisorisch befestigt.
Wenn er in zwei Stunden nicht zurück ist, werde ich auf das nächste Dach springen und diese Antennen verbiegen, abknicken, umdrehen. Unten wird jemand die Störung bemerken und aufs Dach steigen, hoffte ich. Wenn jemand zu Hause ist. Danach könnte ich anfangen, kleinere Möbel wie Beistelltischchen, Hocker und Lampen aus dem Fenster zu werfen, sodass jemand vielleicht zu mir hochsehen und die Polizei rufen würde.
Ich tigerte durch die Wohnung und hob prüfend ein kleines Tischchen hoch, als sich der Schlüssel im Schloss umdrehte. Mein Mann hatte nur eine Tüte Pistazien vom Straßenhändler geholt. Als ich meinem Schwager Tage später davon erzählte, antwortete er nur gelassen: „Dann hätte ich eben neue Möbel gekauft, Inschallah“, was so viel heißt wie „so Gott will“.
Vielleicht liegen die wirklichen Abenteuer in uns selbst. Wann haben Sie zuletzt ganz neue Seiten an sich entdeckt?
Gedanken zum Wert Abhängigkeit
Sich in vielfältigen Abhängigkeiten zu erkennen und sich zumindest zeitweise von den Geschicken anderer, von äußeren Einflüssen oder inneren Befindlichkeiten bestimmt zu erleben steht dem Bedürfnis nach Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit entgegen.
Und doch sind wir jeden Tag von vielen Faktoren in uns und im näheren und weiteren Umfeld abhängig. Gerade Hochsensible werden schnell von Reizen überflutet und leiden oft darunter, sich als abhängig von äußeren Einflüssen aus ihrer Umgebung zu empfinden: Beim Aufwachen merkt man schon, dass die niedrig hängende Wolkendecke heute Kopfschmerzen verursacht. Der Kaffee schmeckt sauer und die Fahrt zur Arbeit lässt einen bereits müde ankommen. Das Gebäude ist hässlich, der Job zehrt an den Reserven, die Geräuschkulisse von technischen Geräten unterbricht jeden konzentrierten Gedanken, in Meetings wird durcheinandergeredet, die Atmosphäre im Raum ist spürbar aufgeheizt, dauernd müssen Probleme gelöst werden, zwischendurch möchte jemand sein Herz ausschütten.
Nach der Arbeit: Stau, Lärm, Abgase, Radio, wieder Diskussionen, Rotwein, einen Krimi zum Abschalten und morgen weiter so? Und wann findet Leben statt?
Selbst wenn die Arbeit erfüllend ist, wächst allmählich die Sehnsucht nach Natur, Weite, Stille, Zeit für sich selbst, für Muße und gute Gespräche. Zeit für eine Auszeit.
Jedes Wort zählt
Wenn ich am Meer stehe und einen weiten Horizont vor Augen habe, erlebe ich unmittelbar, dass auch in der Natur alles miteinander in Beziehung steht, in Wechselwirkungen voneinander abhängt. Voller Weisheit und Fülle. Gott sei Dank. Und ich richte mich auf. Mitten im Leben.
Was nährt die Seele? Natur, Musik, Literatur? Das Wahre, Schöne, Gute? Vielleicht ist es all das und die Gewissheit, dass wir aus einem größeren Bezug stammen und immer Teil von ihm sind, dass diese Ebene uns trägt, auch wenn wir den Mut zu verlieren drohen. Diese Ebene, in der eins vom anderen abhängt, alles aufeinander wirkt, ist immer um uns und in uns und wir haben Anteil an ihr, als Gestaltete und Gestalter.
„Die wahre Spiritualität besteht auch darin,
sich der Tatsache bewusst zu sein, dass dann,
wenn uns eine Beziehung der gegenseitigen Abhängigkeit
mit jedem Ding
und jedem Wesen verbindet,
der einfachste Gedanke,
das kleinste Wort
oder die winzigste Tat
wirkliche Rückwirkung auf den gesamten Kosmos hat.”
(Sogyal Rinpoche)
Gedanken zum Wert Abhärtung
„Stell dich nicht so an.” Diesen Satz kennen Hochsensible oft seit ihrer Kindheit.
Ein Beispiel unter vielen ist das Thema Schlaf: Zum Schlafen muss die Tür angelehnt bleiben, allerdings darf nicht zu viel Licht ins Zimmer scheinen, vor allem muss es ruhig sein, aber mit Ohrstöpseln zu schlafen ist nur möglich, wenn sie sich angenehm anfühlen, nicht völlig abdichten, sodass der eigene Herzschlag zu laut klingt ... Frische Luft kommt am besten aus dem Nebenzimmer, denn bei offenem Fenster zu liegen ist zu kalt. Neben jemandem zu schlafen fällt nicht immer leicht und wird ganz ausgeschlossen, wenn der Partner schnarcht.
Ganz abgesehen von äußeren Störfaktoren finden Hochsensible oft keine Ruhe aufgrund von inneren Belastungen. Sorgen, Kränkungen und Enttäuschungen wirken lange nach, werden oft später in Gedanken noch mal nachvollzogen und halten wach. Meist fällt einem dann leider erst nachträglich die passende Antwort in einer Auseinandersetzung oder die wünschenswerte Haltung zu einem Thema ein. Und man ärgert sich noch mehr, am meisten über sich selbst.
Sanfte Stärke
Mancher Hochsensible wünscht sich ein dickeres Fell, so, als könnten wir uns gegen alles um uns herum wappnen und stählen. Ich glaube allerdings trotzdem, Abhärtung im Wahrnehmen und Fühlen ist weder möglich noch hilfreich und auch nicht wirklich erstrebenswert. Wie gelingt es also, die Härten im Leben zu meistern, ohne hart zu werden? Was tun, wenn uns im vermeintlich unpassendsten Moment die Tränen kommen, wenn Zweifel, Angst und Sorge uns den Schlaf rauben, wenn die nächste Herausforderung uns auf den Magen schlägt?
Ich gönne mir mitten im Geschehen eine kurze Pause. Wir haben immer die Möglichkeit, wenigstens kurz innezuhalten. Auszuatmen, bis zur Antwort etwas Zeit vergehen zu lassen, die Situation zu verlassen. Bewusst langsamer zu gehen. Beunruhigenden Gedanken eine bestimmte Zeit zuzuweisen, in der wir uns mit ihnen beschäftigen. In Ruhe zu essen. Den Morgenhimmel zu beobachten. Musik zu genießen. Das Handy abzuschalten. Stille herzustellen. Und je turbulenter eine Situation sich entwickelt, umso ruhiger werde ich.
Ich richte den Fokus meiner Aufmerksamkeit wie einen Scheinwerfer bewusst auf etwas anderes. Der Beobachter in mir ist geistesgegenwärtig. Ich öffne mich der Welt.
Sensible Wege
„Sensibel
ist die erde über den quellen: kein baum darf
gefällt, keine wurzel
gerodet werden
Die quellen könnten
versiegen
Wie viele bäume werden
gefällt, wie viele wurzeln
gerodet
in uns” (Reiner Kunze)
Wie gehen Sie mit Ihrer Sensibilität um?
Gedanken zum Wert Abschied
Die Bereitschaft, uns von etwas oder jemandem zu verabschieden und zu lösen, wird uns vom Leben immer wieder abverlangt. Manche Abschiede fallen leichter, wenn eine Veränderung und der Beginn von etwas Neuem schon im Blick sind. Viele Abschiede sind mit Schmerz verbunden, weil wir uns von dem, was uns wertvoll und lieb geworden ist, trennen wollen oder müssen.
Abschiede vom Elternhaus und von Freundeskreisen, von Städten und Ländern, Jobs und Karrieren, von Zielen und Plänen, von Geliebten, Partnern, Kindern, Tieren, von Jugend und Gesundheit und vielem mehr durchziehen unser Leben bis zum letzten großen Abschied.
Manche können sich nicht verabschieden. Sie lassen es nicht zu oder sie haben keine Gelegenheit mehr dazu.
Als mein Vater starb, erhielt ich morgens einen Anruf von meiner Mutter, die ihn tot im Bett gefunden hatte, als sie ihn zum Frühstück holen wollte. Meine erste Reaktion: Schock und Ungläubigkeit. Er war erst 65, und ich dachte, wir hätten noch 20 Jahre Zeit, uns zu unterhalten und irgendwann allmählich voneinander zu verabschieden.
In größter Eile, als wenn ich ihn noch lebend antreffen könnte, fuhr ich nach Hause. Er lag friedlich in seinem Zimmer, umgeben von all seinen Büchern, die wie ein Panorama seiner vielfältigen Interessen waren. Von Anfang an hatte ich zwei Haltungen, zwischen denen ich innerlich hin und her gehen konnte: Wenn ich auf mich sah, war ich unendlich traurig über meinen großen Verlust, darüber, dass wir uns nie mehr sehen, hören, sprechen, umarmen könnten. Wenn ich auf ihn sah, sah ich, dass dieser Körper leer war und zerfallen würde, dass mein Vater wie plötzlich ausgestiegen und unsichtbar geworden und aus Raum und Zeit herausgetreten war. Und ich konnte akzeptieren, dass seine Biografie hier zu Ende war und sein unsterbliches Inneres in der Geistigen Welt aufgewacht ist.
Mit Liebe begleiten
Ganz spontan hatte ich fast den Eindruck, meinem Vater erklären zu müssen, was ihm passiert ist. Ich nahm eines seiner Bücher zur Hand, einen Vortragsband von Rudolf Steiner: Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Und ich setzte mich neben ihn und las ihm daraus vor. Dieses Ritual habe ich ungefähr ein Jahr lang fortgesetzt. Jedes Wochenende habe ich mich auf die Liebe zwischen meinem Vater und mir besonnen und ihm innerlich vorgelesen, was uns auch im Leben verbunden hat.
Vielleicht ist dort in unserer Herzenssprache die tiefste Verbindung zwischen uns und unseren Verstorbenen, die Brücke von uns hier zu ihnen dort. Sicher war es für mich ein nachträglicher Abschied. Und vielleicht hat auch für meinen Vater auf der anderen Seite des Lebens etwas aufgeleuchtet, so wie für uns hier etwas aufleuchtet, wenn wir zum Sternenhimmel aufschauen.
ICH BIN NICHT ICH.
„Ich bin nicht ich.
Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.”
(Juan Ramón Jiménez)
Wie bewahren Sie Ihre Erinnerung an Ihre Lieben vor dem Vergessen?
Gedanken zum Wert Absolutheit
Wenn wir zuweilen nach allem streben, was jenseits menschlicher oder sachlicher Unzulänglichkeiten liegt, dann laufen wir Gefahr, ein unmenschliches Ideal von Perfektion und künstlicher Vollkommenheit zu verfolgen.
Manche streben nach dem perfekten Körperbild und versagen sich jeglichen Genuss, manche nach Fehlerfreiheit in allem, was sie tun. Perfekt sein zu wollen verursacht oft enorme Blockaden, mit Dingen überhaupt zu beginnen. Man bleibt im Stadium des ewigen Schülers, der noch nicht so weit ist, der sich noch vorbereiten muss, der noch nicht gut genug ist.
Manche Erwachsenen richten ihr Leben danach aus, die Anerkennung ihrer ersten Vorbilder zu gewinnen. Unter Umständen verbringt jemand sein ganzes Leben im falschen Beruf, wird Banker statt Schriftsteller, um einmal von seinen Eltern diesen Satz zu hören: „Ich hab dich lieb und ich bin stolz auf dich”. Und hat doch das Gefühl, nicht zu genügen.
Andererseits orientieren wir uns in die Zukunft hinein an unseren Werten, am Ideal, am Erstrebenswerten, vielleicht am Absoluten, was auch immer jeder darunter fassen kann.
Apollinisches und Dionysisches
Zwischen beiden Polen bewegen wir uns innerlich hin und her. Gerade Menschen mit vielfältigen Begabungen und hohen Ansprüchen an andere und vor allem an sich selbst sind selbst oft ihre schärfsten Kritiker. Als würden sie sich innerlich an einer apollinischen Kraft von Struktur, Klarheit und Ordnung messen.
Das Apollinische braucht jedoch das Mitreißende, Schöpferische des Dionysischen als Ergänzung. Die größten Kunstwerke der Menschheit beruhen auf dem alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang in Verbundenheit mit gestaltenden Ordnungsprinzipien.
Vielleicht liegt darin die Kraft der menschlichen Mitte: auszuhalten zwischen Chaos und Ordnung, zwischen abbauenden und aufbauenden Kräften zu leben und wirksam zu sein. Im Kleinen wie im Großen.
Was verdient in Ihrem Leben Umgestaltung und was möchten Sie bewahren? Welche Erinnerungen möchten Sie verewigen?
Gedanken zum Wert Abwechslung
Wenn wir nach Abwechslung Ausschau halten, liegt es zumindest zeitweise in unserem Naturell, gerne neue Impulse aktiv zu suchen oder aufzugreifen.