Viertes Buch: April – Windstärke 4

Windstärke 4: mäßige Brise. Hebt Staub und loses Papier, bewegt Zweige und dünnere Äste. Wellen noch klein, werden aber länger, Schaumköpfe überall. Mittlere Windstärke in ca. 10 Meter
Höhe über offenem, flachem Gelände: 20–28 km/h.
Beaufort-Skala

Pünktlich, kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag, bin ich die glücklichste Frau auf der Welt. Der Mann an meiner Seite vergöttert mich und wir wollen gemeinsam eine glückliche Familie gründen. Und mein neuer Boss küsst meine Stiefelspitzen.

April, April! Ich trage fast nie Stiefel, sondern Sneakers, mit denen ich meinem vierjährigen Sohn hinterherflitzen kann. Da er derzeit der einzige Mann an meiner Seite ist, ist es sicher nicht verkehrt, wenn ich mit ihm Schritt halten kann. Und seit ich im Januar meinen Job verloren habe, bin ich arbeitslos. Doch immerhin gab es zwischendurch einen wirklich tollen Mann. Ich meine jetzt einen, der über einen Meter groß ist und sich seine Schnürsenkel selbst zubindet. Doch die meisten Männer, so auch Jonas, stehen nicht so darauf, wenn sie ihre Freundin in inniger Umarmung mit einem anderen Mann vor einer Fruchtbarkeitsklinik antreffen.

Dabei war ein Teil der Geschichte wirklich harmlos und schnell zu erklären. Im Grunde war es wie in den Filmen, in denen sich alles als großes Missverständnis und der andere Mann sich als der Bruder der Hauptdarstellerin entpuppt. Hätte ich danach mal lieber die Klappe gehalten und nicht versucht, auch noch die Sache mit der Klinik zu erklären. Doch weil ich so verliebt war und ich im Grunde meines Herzens wusste, dass tiefe Beziehungen auf Ehrlichkeit basieren sollten, habe ich es ihm am Ende alles gebeichtet. Zuerst konnte Jonas mir nicht folgen, doch nachdem er die Zusammenhänge begriffen hatte, verabschiedete er sich förmlich und wurde nicht mehr gesehen.

Immerhin war er so fürsorglich, mich auch umgehend bei Facebook zu entfreunden, sodass ich gar nicht erst in Versuchung komme, Einträge zu lesen, die auf ein glückliches Leben nach mir hindeuten. Das Schlimmste ist, dass ich überzeugt bin, wir hätten unter anderen Umständen eine echte Chance gehabt. Und dass ich ihm nicht einmal etwas vorwerfen kann. Das, was ich ihm erzählt habe, wäre wohl jedem Mann zu viel gewesen.

Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, meinen Kummer vor meinem Sohn zu verbergen, doch immerhin sehe ich jetzt – rund zwei Wochen nach dem Desaster – nicht mehr beinahe rund um die Uhr verheult aus. Dieser Umstand, und vielleicht die Tatsache, dass mir nicht mehr sofort die Tränen hinunterlaufen, sobald wir auch nur eine harmlose Doku über verliebte Pinguine schauen, ermutigt meinen Mitbewohner Paul schließlich, mein offensichtliches Unglück zu thematisieren.

Am Montagmorgen, als unsere Kinder aus dem Haus sind, steht er plötzlich in meinem Zimmer. Natürlich hat er vorher geklopft. Paul ist sehr gut erzogen. „Sehe ich es richtig, dass du in nächster Zeit keinen Babysitter brauchst?“, fragt er zögernd.

Wäre ich nicht am Boden zerstört, würde ich über seine Bemühungen grinsen, eine höfliche Umschreibung zu finden für: Na, hat er dir den Laufpass gegeben?

Doch obwohl ich weiß, dass er nur aus Freundlichkeit und nicht etwa aus Sensationslust fragt, reagiere ich doch immer noch empfindlich auf dieses Thema. „Sehe ich es richtig, dass du heute nicht zur Arbeit musst?“, erwidere ich ein wenig zickig.

„Ich habe mir einen Tag Homeoffice für die Buchhaltung gegönnt. Du willst also nicht darüber reden?“

Man sieht ihm seine Erleichterung förmlich an.

„Sehe ich etwa so aus?“, frage ich genervt.

Er hebt verteidigend die Hände. „Im Ernst? So genau weiß ich bei euch Frauen nie, was ihr wollt! Wie ignorant müsste ich denn sein, um nicht zu bemerken, dass du seit einer Weile verdammt unglücklich aussiehst, dein Handy kaum noch einen Pieps von sich gibt und du seit ungefähr zwei Wochen nicht einmal gefragt hast, ob ich für dich den Babysitter spielen mag.“

Kein Pieps? Mir fällt auf, dass er recht hat. Eigentlich rufen tatsächlich nur meine Mutter, gelegentlich meine Freundin Kessie und in letzter Zeit häufiger mein Bruder Roman bei mir an. Der will sich aber nur ab und zu vergewissern, dass mein Bauch – leihweise – immer noch ihm gehört. Unseren Gesprächen folgt meist eine SMS von seinem Mann Martin, der sich für Romans Betragen entschuldigen möchte und der Vater unseres Kindes sein wird.

Ich habe eben nicht nur keinen Mann, sondern auch kaum noch Freunde – so ist das eben, wenn man ein Kind alleine großzieht, denke ich wehleidig. Und schon kehren die Tränen zurück. Danke, Paul! Fast könnte man meinen, ich wäre schon schwanger und meinen Hormonen wehrlos ausgeliefert, doch es handelt sich wohl eher um den Anflug einer leichten Panik vor einem runden Geburtstag, an dem ich nur das Fazit ziehen kann, dass ich bislang wenig vorzuweisen habe. Dabei lief alles so gut an: ein Meteorologie-Studium mit Spitzennoten abgeschlossen, danach ein spannender Job in der Klimaforschung – und dann leider im vergangenen Winter ein paar Krankheitstage zu viel, weil kleine Kinder nun mal sehr oft erkältet sind. Und in Zeiten der auf gerade mal ein halbes Jahr befristeten Verträge ist man einen Kollegen, der es nicht voll bringt, ratzfatz wieder los. Doch Schluss mit der Jammertour! Denn am Ende zählt doch eines: Wenn ich mich zwischen dem Labor und Max entscheiden müsste, wäre der Sieger doch immer … das Labor. Unsinn! Natürlich kreischt man nicht bei jedem Trotzanfall, Po-Abwischen und Brotboxenpacken vor orgiastischer Entzückung auf. Doch es stimmt schon, was man sagt – Achtung, Kitschalarm –: Ein Lächeln des Kleinen macht glücklicher als jedes Schulterklopfen des Chefs oder die hohe Summe auf dem Gehaltsbogen. Eine Weile war ich dennoch so vermessen gewesen zu glauben, Frauen könnten heutzutage spielend leicht beides haben.

Resigniert zucke ich mit den Achseln. Paul räuspert sich und bleibt in der Tür stehen. „Soll ich jetzt so tun, als hätte ich die Tränen nicht bemerkt, oder soll ich dir vielleicht doch Gesellschaft leisten?“

Er fährt sich wild durch die Haare und seine offensichtliche Hilflosigkeit ist so rührend, dass ich erst so richtig losschluchze. Überfordert von meinem eigenen Gefühlsausbruch lasse ich meinen Kopf vorwärts auf den Tisch fallen, sanft gebremst von meinem Arm, der bereits schlaff dort lag. Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meinem Rücken, die erst liegen bleibt und dann sachte streichelt. Anfangs fühlt sich das befremdlich, weil ungewohnt intim an, doch am Ende tut es einfach nur gut.

„War er gemein zu dir, soll ich ihn hauen?“, fragt Paul sanft.

Bei der Vorstellung, der bodenständige Paul könnte jemanden verprügeln, muss ich allem Unglück zum Trotz grinsen. Ich hebe mein Gesicht und bin froh, dass wir bloß Mitbewohner sind, denn sonst müsste ich mein verrotztes Antlitz weiter in der Armbeuge verbergen und würde vermutlich an all dem Schnodder ersticken. Leider gehöre ich nicht zu den Frauen, die weinend so entzückend aussehen, dass jeder sofort den Ritter geben will. Ich bin in solchen Situationen eher ein aufgedunsenes, unappetitliches Etwas im Stile von Cate Blanchett in „Blue Jasmine“, nur dass mir niemand einen Oscar dafür verleihen würde.

„Hast du ein Taschentuch?“, frage ich mit tapferem Lächeln.

„Wohl kaum“, entgegnet er. „Schon auf dem Spielplatz musste ich Sophie den Rotz immer mit dem Ärmel abwischen. Was meinst du, wie mitleidig die Mütter geguckt haben. Aber wenn du magst, würde ich auch dir meinen Ärmel anbieten.“

„Ach Paul“, rufe ich und erwidere gequält sein Lächeln. „Du bist wirklich ein Idiot.“ Ich fahre mit meinem eigenen Ärmel über Augen und Nase. Auch ich habe mir leider nie angewöhnt, eine Packung Taschentücher parat zu haben, obwohl ich doch jetzt Mutter bin und eigentlich immer einen ganzen Erste-Hilfe-Koffer im Handgepäck haben müsste. Das Einzige, was ich nie vergesse, ist Mäxchens kleines Notfall-Set. Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass uns Anfang April auch nur eine einzige Wespe begegnet, die dessen Einsatz notwendig machen würde, um einen anaphylaktischen Schock zu verhindern. Dennoch trage ich es dauernd bei mir, seit Max einmal gestochen wurde und fast erstickt wäre – im Januar! Verdammter Klimawandel!

Paul bleibt trotz der Beleidigung ganz gelassen. „Und ich dachte, ich bin ein Retter in der Not – wobei, das reimt sich sogar auf ‚Idiot‘, oder?“

Ich knuffe ihm in die Seite.

„Jetzt mal im Ernst, Lisa, du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder? Weißt du noch, damals, als Tine mir gesagt hat, ich solle Leon nicht mehr so oft besuchen, weil das irgendwelche psychologischen Nachteile hätte? Damals war ich ein Wrack.“

Leon ist sein Sohn, den Tine nach ihrer Trennung mit nach München genommen hat, während die gemeinsame Tochter Sophie bei Paul bleiben durfte. Tine bevorzugt Söhne. Zumindest war das so, bis sich herausstellte, dass Leon einen Tic hat. Da hat sie ihn kurzerhand verpackt und in den Zug gesteckt, sodass er im Januar plötzlich als dreizehn Jahre altes Neujahrsgeschenk frierend vor unserer Tür stand.

„Du hast damals aber nicht geflennt, außerdem ist es wohl etwas anderes, fast sein Kind zu verlieren, als von einem Mann abgeschossen zu werden, mit dem einen ein paar Wochen voll loser Dates verbinden.“ Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich damit recht habe. Nun schäme ich mich richtig für meinen Ausbruch.

Paul setzt sich auf das Bett und zuckt die Achseln. „Du kennst dich mit Mathe besser aus, aber ich glaube, Kummer darf man nicht so einfach aufwiegen. Es ist Quatsch zu sagen, das Kind dürfe nicht über die Leber auf seinem Teller murren, solange irgendwo Menschen verhungern.“

Irritiert schaue ich ihn an. „Was ist das denn für ein verschrobener Vergleich?“, frage ich. „Und wieso sollte ich mich besser fühlen, wenn ich in dieser Gleichung das verwöhnte Kind und du der Hungernde bist?“

„Na gut, vielleicht war das Beispiel nicht sehr gelungen. Was ich sagen wollte: Wenn du traurig bist, hast du jedes Recht dazu.“

Nachdenklich wische ich mir die Tränen ab. „Weißt du was? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich gerade wirklich wegen Jonas geweint habe. Wir kannten uns im Grunde kaum, ich hatte mir nur alles Mögliche ausgemalt … irgendwie ist gerade alles so verfahren und aussichtslos.“

„Wirklich? Alles? Aber wir haben doch uns, liebste Lisa!“ Mit dramatischer Geste greift er sich an sein Herz und formt danach noch eines mit beiden Händen, das er in meine Richtung hält. Diesmal lache ich laut und kann am Ende leider der Versuchung nicht widerstehen, ihm mein eigenes Herz auszuschütten. Aber immerhin wohnen wir seit über zwei Jahren hier zusammen. Wir haben einiges miteinander erlebt ganz so wie eine dieser modernen Großstadt-Wahl-Familien. Das kann einen schon dazu verleiten, einander mehr anzuvertrauen, als man sollte. Seine Augen werden größer, als ich ihm von der Begegnung vor der Klinik erzähle.

„Das war aber nur mein Bruder“, erkläre ich schnell.

„Ist das nicht die Stelle im Liebesroman, wo das Paar sich begeistert in den Armen liegt, weil alle Missverständnisse überwunden sind?“

Ich hüstele ein paar Mal. „Schön wär’s. Aber dafür hätte ich ihm wohl verschweigen müssen, dass ich beabsichtige, vom Mann meines Bruders schwanger zu werden, damit die beiden den Traum von einem gemeinsamen Kind verwirklichen können.“

Paul starrt mich an. Dann hustet er ein paar Mal so laut, dass ich ihm auf den Rücken klopfe. „Habe ich das gerade richtig verstanden? Du willst für deinen Bruder ein Kind austragen? So richtig mit neunmonatiger Schwangerschaft und so?“

„Das ist meistens die Voraussetzung dafür, ein Kind auf die Welt zu bringen“, erkläre ich trocken.

„Klar“, entgegnet Paul zögernd. „Wie lange probiert ihr das denn schon?“ Es ist rührend, ihn dabei zu beobachten, wie er sich bemüht, nicht allzu schockiert zu wirken.

„Nicht sehr lange“, flüstere ich verlegen. „Es war erst das zweite Mal. Und nun haben wir entschieden, zwei Monate Pause zu machen.“

„O Gott“, sagt er. „Entschuldigung, ich meine, ich finde das echt großartig von dir, dass du neun Monate lang deinen Körper hergeben willst, damit dein Bruder seinen Traum verwirklichen kann, das würde nicht jede Schwester tun. Aber die Vorstellung ist schon irgendwie sehr … ungewöhnlich.“

Bei ihm klingt es fast so, als sei ich zur Mutter Teresa der Regenbogen-Familien geworden. Mir gefällt diese Sichtweise. Man muss es mit der Ehrlichkeit ja auch nicht übertreiben. Warum sollte ich ihm erzählen, dass neben meinem Mitgefühl ein Haufen Geld das Zünglein an der Waage war, wo das Ergebnis doch das gleiche ist! Aber leider fehlt mir ein ganzer Batzen Kohle, während mein Bruder mit seiner Computerspielfirma reichlich davon gescheffelt hat.

Paul sieht nachdenklich drein. „Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann“, sagt er dann. „Spätestens, wenn du … sagen wir mal … ein wenig an Umfang zunimmst, nehme ich dir gerne die Einkäufe ab und solche Dinge. Wissen eure Eltern Bescheid und unterstützen sie euch?“

Ich nicke matt.

„Dass ihr solche Dinge gemeinsam durchzieht, das ist wirklich fantastisch.“ Paul seufzt. „Ihr seid eine tolle Familie.“

Träum weiter, Paul. So konservativ wie deine müssten sie ja nicht gleich sein, aber ein wenig konventioneller wäre mir manchmal sehr lieb. Doch ich schweige, schließlich will ich ihm nicht seine Illusionen rauben. Doch eine kleine Spitze kann ich mir nicht verkneifen. „Doch, doch, wir ziehen alles gemeinsam durch. Zum Beispiel die Erneuerung des Ehegelübdes meiner Eltern auf Bali – ganz in Rot, ob mein Vater will oder nicht.“