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„Das Kapital zwingt die Arbeiter hinaus über die notwendige Arbeit zur Surplusarbeit. Nur so verwertet es sich und schafft Surpluswert. Aber andrerseits setzt es die notwendige Arbeit nur, soweit und insofern sie Surplusarbeit ist und diese realisierbar ist als Surpluswert. Es setzt also die Surplusarbeit als Bedingung für die notwendige und den Surpluswert als Grenze für vergegenständlichte Arbeit, Wert überhaupt. Sobald es die erstre nicht setzen kann, setzt es die letztre nicht.“

— Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1858

Martin Seelos

Akkumulation ohne
Kapital

Querarbeit statt Mehrarbeit

2017

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Akkumulation ohne Kapital, © 2017 Martin Seelos

Beiträge zur Kulturgeschichte, Teil 4

Cover-Illustration: Bildbearbeitung: Martin Seelos 2017, unter Verwendung von: Wenzel Jamnitzer, Perspectiva Corporum Regularium, Nürnberg 1568 (dokumentiert von der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, vgl.: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12830/).

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-7345-5264-9 (Paperback)

978-3-7345-5265-6 (Hardcover)

978-3-7345-5266-3 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT UND EINLEITUNG

I. VORAUSSETZUNGEN

KAPITEL 1: ALLGEMEINE VORAUSSETZUNGEN

KAPITEL 2: SPEZIFISCHE VORAUSSETZUNGEN

II. AKKUMULATION OHNE KAPITAL

KAPITEL 3: KONSUM UND PRODUKTION

KAPITEL 4: PRODUKTION UND REPRODUKTION

KAPITEL 5: REPRODUKTION UND ÜBERSCHUSS

KAPITEL 6: ÜBERSCHUSS UND QUERARBEIT

KAPITEL 7: QUERARBEIT UND AKKUMULATION

KAPITEL 8: AKKUMULATION UND PRODUKTIVITÄT

KAPITEL 9: PRODUKTIVITÄT UND QUALITÄT

KAPITEL 10: QUALITÄT UND WERTVERLUST

KAPITEL 11: WERTVERLUST UND KOMMUNISMUS

III. REGULATION

KAPITEL 12: QUERPRODUKT UND FONDS

KAPITEL 13: CLUSTER UND REGULATION

KAPITEL 14: REGULATION UND PROPORTION

KAPITEL 15: AKKUMULATION UND TECHNIK

KAPITEL 16: REGULATION UND KALKÜL

ANHANG

ANMERKUNGEN

Für Marlen

Vorwort und Einleitung

Dieses Buch versucht die Frage zu beantworten, wie Akkumulation ohne Kapitel vonstattengeht. Nicht heute, sondern wenn das Privatkapital überhaupt Geschichte geworden ist.

Dieses Buch beantwortet daher nicht, nach welchen Grundsätzen die Wirtschaft heute zu verbessern und zu humanisieren sei. Die ökonomische Literatur ist entweder offizielle Lehre oder Opposition. Die heutige Opposition zu den gerade gültigen Paradigmen der Nationalökonomie ist zuerst als Reaktion auf die Globalisierung ab den 1990er Jahren aus dem Boden geschossen und dann nach 2009 als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise. Es entstand ein breites Spektrum einer Reformliteratur.1 So subjektiv sympathisch das Motiv einer Humanisierung der Wirtschaft sein mag, so befindet sich die darauf abzielende Reformliteratur in einer strategischen Sackgasse: Sie ist den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft weltfremd, denn diese stehen unter dem Zwang, Kapital eines Eigentümers zu verwerten, auch wenn dies für die Allgemeinheit oder für die Zukunft mit Nachteilen verbunden sein mag. Selbst wenn die Entscheidungsträger im Kapitalismus den „guten Ideen“ aufgeschlossen gegenüberstünden, stehen die guten Ideen einfach nur beziehungslos neben dem Geschäft, sie sind „Aufklärung“, aber sie sind nicht das Geschäft – außer als Nischenproduktion für wenige. Aber als Nische sind sie nicht verallgemeinerbar. Auf der anderen Seite ist die Reformliteratur, indem sie sich auf die Reform der Marktwirtschaft bezieht, in ihrer Utopie wiederum zu beschränkt und zu limitiert, um die tatsächliche Wurzel der Inhumanität zu ziehen: das bürgerliche Eigentum. Die strategische Sackgasse der Reformliteratur ist somit kurzum: zu brav und weltfremd zu sein.

Freilich sagt dies nichts über Sinn und Unsinn einzelner Argumente aus, bloß auf welchen Rahmen sie sich beziehen. Würde man den Zusammenhang zwischen realer Konjunktur und utopischer Reformliteratur weiter untersuchen, ließen sich interessante Zusammenhänge aufdecken: Boom-Jahre der Reformliteratur sind nicht nur Jahre der Wirtschaftskrise, sondern auch Jahre der Erholung bzw. der Ausweitung der kapitalistischen Weltwirtschaft, wie etwa die 1950er Jahre oder die 1990er Jahre. Indes, die nie umgesetzten Reformvorschläge längst vergangener Jahrzehnte lesen sich heute wie ein Kuriosum, und dieses wenig schmeichelhafte Schicksal blüht dereinst vermutlich auch der populären Reformliteratur unserer Tage. Bloß merken wir das noch nicht, werden doch tatsächlich die heute brennenden Fragen angesprochen.

Genug, es dürfte soweit klar sein: Mit der Reform der Wirtschaft hat dieses Buch nichts am Hut, es stellt sich auf die andere Seite, auf die Seite der nüchternen Analyse. Auf dieser Seite haben wir einerseits die offizielle bürgerliche Volkswirtschaftslehre mit ihren unterschiedlichen Schulen, Fraktionen und Richtungen vor uns. Und andererseits die marxistische Analyse, die gegenüber ersterer den Vorzug größerer Trennschärfe und innerer Geschlossenheit hat. Respektive trifft dies auf die Preis- und Werttheorie, die Reproduktions- und Akkumulationstheorie mit den fruchtbaren Einzelbestandteilen „Wertrealisation“, „Organische und technische Zusammensetzung von Kapital“, „Überakkumulation“, „Theorie des Ausgleichs der Profitrate“ und „Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate“ zu. An sich ist die marxistische Wirtschaftstheorie hübsch homogen, allein in der Anwendung auf konkrete Fragen und in der Verarbeitung von empirischen Daten hört sich die Einheitlichkeit bald auf, was aber auch mit den gegenüber der bürgerlichen Wirtschaftsforschung viel geringeren personellen Ressourcen zusammenhängen könnte: Marxistische Ökonomen sind heutzutage hauptsächlich nebenberuflich oder autodidaktisch tätig. Man könnte meinen, wenigstens entscheidet hier allein das bessere Argument und nicht Meinungskartelle oder die Frage, welche Fraktion welche Lehrstühle und Fachzeitschriften besetzen kann. Nun, hoffen wir, dass dem wirklich so ist.

Überraschend genug dürfte hingegen die Tatsache sein, dass es bis heute keine zumindest mehrheitlich anerkannte marxistische Theorie der sozialistischen Ökonomie gibt. Die zweifellos noch immer profunde Analyse von Karl Marx und Friedrich Engels bezieht sich thematisch auf den Kapitalismus, nicht auf die nachkapitalistische Ökonomie. Die expliziten Aussagen von Marx und Engels zu diesem Thema lassen sich auf einige Stellen reduzieren, die zusammengetragen vielleicht ein Bändchen hergeben würden. Es geht also auch heute noch immer darum, die allgemeine materialistische Methode und die Logik der politischen Ökonomie auf (gedachte) Zustände ohne Kapital anzuwenden. Der Marxismus ist eine immer wieder inspirierende und fruchtbare Philosophie; zumindest fruchtbar genug, um ein weites Feld und eine große Palette unterschiedlicher Fraktionen und Richtungen hervorzubringen, die sich bis heute aneinander und an Hand einer nie endenden Marx-Lektüre kritisch abarbeiten.

Ich gehe in diesem Buch auf diese große Palette nicht ein. Ja, ich würde nicht einmal behaupten, auch nur die seit einigen Jahrzehnten aufblühende Szene der marxistischen Literatur zur sozialistischen Ökonomie gänzlich überblicken zu können. Aber zumindest so viel traue ich mir zu sagen zu: Ich sehe zumindest nichts ausgearbeitet, das das vorliegende Buch einfach überflüssig machen würde.

Obwohl ursprünglich nüchterne Analyse, wurde auch der Marxismus im Laufe der Zeit als Reformliteratur verwendet. Nur dass sich die Reformvorschläge dann nicht auf den Kapitalismus, sondern auf den Postkapitalismus, den Sozialismus, den Kommunismus oder was auch immer beziehen. So verständlich diese eigentlich widersprüchliche Wendung auf der politischen Ebene auch sein mag, auf der ökonomischen Ebene zog sich die Theorie durch diese Wendung einige Schiefer einer längst überwunden geglaubten Philosophie ein. Von dem hohen Ross des dialektischen Materialismus steigt man ab und geht zu Fuß auf dem Pfad eines „sozialistischen Idealismus“ weiter. Das Ziel war nun die Antwort auf die Frage: Was würden wir machen, wenn wir morgen eine Planwirtschaft gestalten könnten? Diese Frage kann aber nur Antworten aus dem Kopf und nicht aus der materiellen Realität abwerfen. Die fruchtbare Frage wäre hingegen: Welche ökonomischen Formen ergeben sich zwangsläufig aus der Negation des bürgerlichen Eigentums? Das Erstere ist die Frage nach der Wirtschaftspolitik, die, ohne sich einer konkreten Planwirtschaft gegenüberzusehen, ein ganz klein wenig unsinnig ist. Das Letztere ist die Frage nach der ökonomischen Struktur. Antworten auf die letztere Frage helfen freilich nicht, ein konkretes Problem zu lösen, sind somit nicht Reformliteratur. Aber sie helfen zumindest, die nachkapitalistische Ökonomie besser zu verstehen.

Es ist schon lange her, aber in den 1920er und 1930er Jahren gab es zur Strukturfrage eine „zarte Pflanze“ der ökonomischen Literatur, die jedoch bald in der Debatte nach der richtigen oder falschen Wirtschaftspolitik der Sowjetunion erstickte.2 Die wirtschaftspolitischen Fragen können richtig oder falsch gewesen sein … und tatsächlich sind noch immer die Themen „Kollektivierung der Landwirtschaft“ oder „Waren- und Lohnform in der sozialistischen Industrie“, obwohl mittlerweile historische Fragen, spannend. Aber sie beantworten genauso wenig die Frage der ökonomischen Struktur einer postkapitalistischen Ökonomie, wie es die Reformliteratur tat, die in den 1960er Jahren im RGW-Raum sowie in Jugoslawien aufkam und als Theorie des Marktsozialismus die 1970er Jahre und 1980er Jahre dominierte.3 Mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts wurde auch die Reformliteratur, die sich auf jene bezog, obsolet. Im Grunde liegt hier der Hund begraben: die simple Tatsache, dass der „Realsozialismus“ von irgendeinem Sozialismus weit entfernt war und dass daher jede ökonomische Theorie, die sich an der Realität des „Realsozialismus“ abarbeitet, genauso unreif sein muss wie ihr Objekt.

Was ist aber die Alternative zu der Abstraktion einer unvollständigen Realität? Die Abstraktion ist ja in jedem Fall notwendiges Element jeder Wirtschaftswissenschaft.

„Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagenzien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.“4

Nicht die – möglichst weitreichende – Abstraktion ist hier das Problem, sondern die Empirie, die als Stoff abstrahiert wird. Marx etwa nahm den industriellen Kapitalismus vor allem Englands des 19. Jahrhunderts, um aus diesem Stoff die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie zu destillieren. Das heißt, er nahm nicht etwa die unreife, unentwickelte Form, etwa Frankreichs des 17. Jahrhunderts – und wenn doch, dann diente die unreife Form bloß zum Zwecke der Illustration der klassischen Form. Wobei wir uns die Arbeit mit der Empirie nicht analog zu jener den empirischen Sozialwissenschaften vorstellen dürfen – die Empirie diente bei Marx bloß als Material, das mittels einer historischen Methode „auf den Begriff gebracht wird“.5 In jedem Fall geht es darum, dass das Modell, also das Ergebnis der Abstraktion, in seiner reinen Form entwickelt wird.

Welche Anforderungen dürfen wir an ein ökonomisches Modell stellen? Das ist leicht zu beantworten. Das Modell erklärt alle Bewegungen ohne Zuhilfenahme eines Inputs von außerhalb des Modells – auf einen deus ex machina wird verzichtet. Da es hier um Ökonomie geht, muss sich das Modell auf die Ökonomie beschränken, es wäre daher zum Beispiel unsinnig, Akkumulation durch die Zunahme der Bevölkerung oder durch ein politisches Ereignis zu erklären, auch wenn dieser Effekt in der Wirklichkeit auftreten kann bzw. auftreten wird. Die Anforderung an ein Modell ist nicht, dass es in seiner Form realistisch wirkt, sondern dass es in sich widerspruchsfrei ist. Das Modell muss alle Bewegungen erklären und nicht bloß beschreiben können. Diese Anforderung wird indes selten erfüllt. Die ehemals „offiziellen“ Lehrbücher zur Ökonomie des Sozialismus deckten genauso wenig die Quelle der sozialistischen Akkumulation auf, wie die bürgerlichen Ökonomen die Quelle des Profits. Es genügte der stalinistischen Bürokratie, mit dieser Größe zu hantieren und über das Hantieren Lehrbücher zu füllen. Diese Bücher sind entweder pragmatisch, um ein bestimmtes Management-Problem zu lösen, oder ideologisch, um eine Herrschaftspraxis zu legitimieren.

Was bedeutet es, dass ein Modell erklären und nicht nur beschreiben kann? Es muss die Konsequenzen einer Bewegung für andere Bewegungen nachspielen. Dabei werden die Interdependenzen, Gegensätze, Widersprüche, ja Konflikte sichtbar. Die offiziellen Lehrbücher zur Ökonomie des Sozialismus unterließen dies, vermutlich aus ideologischen Gründen. Stattdessen sind die typischen Formulierungen: „Durch den ständig verbesserten Prozess … “, „die gemeinsamen Anstrengungen … “, „entwickelt sich immer weiter … “.6 Deswegen sind diese Lehrbücher der 1950er, 1960er, 1970er und 1980er Jahre so bleiern, ermüdend und sinnlos. Es liegt eine ganze Welt zwischen solchen Büchern und jenen von Marx und Engels, die immer alles schonungslos auf den springenden Punkt brachten!

Das Modell beschreibt die Ökonomie nicht mittels eines Mehr-oder-wenigers, sondern als Zuspitzung. Erst in dieser Form der Zuspitzung kann seine Aussage als Substrat in allen nichtzugespitzten empirischen Verhältnissen wahrgenommen; nein, noch besser: nachgewiesen werden. Etwa so wie die DNA auf einem Corpus Delicti das Verbrechen nachweist. Auf dem Gebiet der Kultur wie eben auch der Ökonomie findet sich das Substrat der Klassik auch in den unreifen, vorklassischen und auch in den überreifen, postklassischen Formen. Ja, mehr noch: Nur durch diese reine Substanz kann sich das Unreife oder Überreife definieren. Die Herkunft des Modells als Abstraktion einer bestimmten Empirie spiegelt sich in der Gültigkeit des Modells nicht mehr wider. Hat man einmal die Grundgesetze der kapitalistischen Ökonomie ausgearbeitet, dann kann man sie im Merkantilismus genauso nachweisen wie im globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, im Protektionismus wie im Freihandel, in kapitalreichen Ländern wie in den kapitalarmen. So müsste es auch mit einem Modell der sozialistischen Akkumulation vonstattengehen. Sein Substrat wäre etwa auch in einer unreifen Übergangsgesellschaft vorzufinden.

Aber es wäre empirisch nicht immer sichtbar und nicht aus der Empirie zu erklären. Ja, es müsste sogar – in faktischer Ermangelung einer klassischen Form des Sozialismus – von den ökonomischen Kategorien des Kapitalismus erarbeitet werden. Dabei müssen wir jeweils prüfen, was nach der Auflösung des Eigentums von diesen Kategorien übrigbleibt bzw. worin sie sich wandeln.7 Haben wir diese Schwierigkeiten einmal gelöst, stellt die Abarbeitung eines Modells vom Konsum über die Reproduktion zur Akkumulation kein großes Thema mehr dar. Die Schwierigkeit der Interpolation ökonomischer Formen des Kapitalismus zum Postkapitalismus bleibt immer im Hintergrund bestehen. Man muss auch einmal ganz offen sagen, dass Marx vor dieser Schwierigkeit nicht stand. Er nahm ja nicht die ökonomischen Formen des Feudalismus als fertiges Abstraktum und untersuchte dann, inwieweit sich diese Formen bei der Auflösung der Leibeigenschaft wandeln. Stattdessen konnte Marx bereits die im konkreten Geschehen lebendigen Kategorien des Kapitalismus nehmen und diese modellieren.

Genau das können wir in Bezug auf die ökonomischen Kategorien einer eigentumslosen Gesellschaft nicht unternehmen. Wir haben diese nicht im konkreten Geschehen vor uns. Wir müssen daher einen anderen Weg einschlagen. Nun könnte eingewendet werden, Marx hätte nicht mit den Kategorien einer spezifisch kapitalistischen Produktionsweise gearbeitet, sondern mit ahistorischen Kategorien wie „Arbeit“. Bloß fragt sich dann, woher die enormen Schwierigkeiten fast aller Ökonomen kommen, sich „Arbeit“ von der Lohnform losgelöst auch nur vorzustellen.8 Selbst wenn zum Beispiel dem Geld keine Rolle in der Planwirtschaft zugebilligt wird, so wird dennoch so getan, als bestünde eine Art geheime Verbindung zwischen der Arbeitszeit eines Arbeiters und seiner Vergütung mittels Konsumgüter. Eine Verbindung zwischen Leistung und Genuss. Aber weshalb eigentlich? Der Arbeiter muss nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel seine Arbeitskraft ja nicht mehr verkaufen – erstens, weil es kein Gegenüber, also kein Kapital mehr gibt; zweitens, weil ihm als Gemeinschaft das gesamte Produktionsarsenal kollektiv „gehört“. Aber bereits in diesem Satz zeigt sich die terminologische Schwierigkeit, die mit der Interpolation der für uns gewohnten Kategorien einhergeht. Denn wenn allen alles gehört, gehört niemandem nichts. Der Begriff „gehören“ ist bereits in diesem Zusammenhang unpassend und obsolet. Erst recht ist dies bei dem Begriff „Arbeiter“ der Fall, denn dieser Begriff lebt ja geradezu von seinem Gegenüber, dem Kapital. Von der Problematik der Begriffe „Wert“ oder „Akkumulation“ gar nicht erst zu reden!

Und so geht es in einem fort. Jede Kategorie des Kapitalismus, die wir hier weiterverwenden – und das tun wir in Ermangelung von Passenderem –, ist zuerst einmal suspekt. Es ist so, als gingen wir hier auf Krücken spazieren und erst irgendwann einmal, wenn der Sozialismus zu einer so allumfassenden Realität geworden sein wird, wie es heute mit dem Kapitalismus der Fall ist, erst dann werden wir aus dieser Praxis andere Sichtweisen, andere Begriff und andere Kategorien erlernen. Und sollte es sich dabei um ein Wort handeln, das wir bereits heute in einem anderen Zusammenhang verwenden, dann wird sein Bedeutungsinhalt aktualisiert und die alte Sprache verblasst sein.

Diesen Wandel können wir nicht „am grünen Tisch“ vorwegnehmen. Aber das bedeutet andererseits wiederum nicht, dass wir nichts Sinnvolles mittels unserem heutigen Instrumentarium über eine Akkumulation ohne Kapital sagen können. In diesem Buch habe ich die geläufigen Kategorien verwendet, aber dabei immer wieder versucht, deutlich zu machen, was sich mit dem Inhalt durch die Negation des Eigentums ändert. Nur in zwei Fällen habe ich komplett neue Begriffe eingeführt, um die Änderung auch begrifflich auf den Punkt zu bringen: Querproduktion bzw. Querarbeit einerseits und den Begriff der historischen Arbeit im Gegensatz zu der wertübertragenden (toten und lebendigen) Arbeit bei Marx.

***

Das Kapitel 11, „Wertverlust und Kommunismus“, ist entnommen aus: Martin Seelos, Negation des Eigentums, 2017, Kapitel 7, „Was ist Sozialismus?“.

I. VORAUSSETZUNGEN

Allgemeine Voraussetzungen

Akkumulation im Kapitalismus ist Akkumulation von Kapital. Ganz elementar und plastisch dargestellt: Der Unternehmer hat genügend Geld, um am Warenmarkt seine sieben Sachen zusammenzustellen; der Arbeiter hat zumindest dieses Geld nicht und verkauft am Arbeitsmarkt dem Unternehmer seine Arbeitskraft. Nun findet der eigentliche Produktionsprozess statt. Die Arbeit setzt die Dinge so zusammen, dass am Ende ein Produkt herausschaut, das der Unternehmer wiederum am Warenmarkt verkauft. Die Produkte werden in der Regel mit einem Gewinn verkauft, weil die Arbeitskraft länger arbeiten kann, als ihre eigene Reproduktion – dem entspricht der Arbeitslohn – kostet. So macht der Unternehmer Profit, sodass er für den nächsten Produktionszyklus mehr Waren einkaufen und mehr Arbeiter beschäftigen kann. Das Kapital wächst, es akkumuliert.

Unser Unternehmer kann natürlich auch einen Teil des Profits in Geldkapital ansparen, an der Börse spekulieren, einen größeren Teil des Profits mit dem Handelskapital teilen oder Warenlager anlegen. Auch das alles bedeutet Akkumulation. Denn das Kapital kann unterschiedliche „Aggregatzustände“ annehmen. Nur eines darf der Unternehmer nicht: den gesamten Profit „aufessen“ d.h., wie die Ökonomen sagen, als Revenue verwenden. Dann würde er nicht akkumulieren, aber stattdessen jene Branche, die Luxusgüter herstellt, umso mehr Geschäft machen und akkumulieren. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt indes, dass gerade der kapitalistische Unternehmer insgesamt vorwiegend reinvestiert und – selbst wenn sich seine persönliche Lebenshaltung immer mehr vom Durchschnitt der Arbeiter entfernt – einen immer größeren Anteil des Gewinns reinvestiert, umso größer die Masse des Profits ist. Die Konkurrenz zwingt zur Investition. Die Tauschwertproduktion ist verallgemeinert. Ja, gerade das, die Investition, macht das Wesen des Kapitalismus gegenüber früheren Produktionsweisen aus. Im Feudalismus zum Beispiel wurde der Großteil der den Bauern abgepressten Mehrarbeit durch die Feudalgesellschaft verkonsumiert. Und über die europäische Antike sagte Marx:

„Wir finden bei den Alten nie eine Untersuchung, welche Form des Grundeigentums etc. die produktivste, den größten Reichtum schafft? Der Reichtum erscheint nicht als Zweck der Produktion, obgleich sehr wohl Cato untersuchen kann, welche Bestellung des Feldes die einträglichste, oder gar Brutus sein Geld zu den besten Zinsen ausborgen kann. Die Untersuchung ist immer, welche Weise des Eigentums die besten Staatsbürger schafft.“9

Der antike römische Staatsbürger ist noch Grundbesitzer und dort, wo er dies als Individuum nicht mehr ist, etwa als Teil der städtischen Plebs, ist er zumindest ehemaliger Bauer und hängt noch irgendwie an der Erde, am Grund und Boden. Reichtum ist in der Antike nicht durch freie Lohnarbeit produziert, während hingegen das Kapital unserer Zeit das Ergebnis der Arbeit eigentumsloser Arbeiter ist. Das überschüssige Geld, das unser Unternehmer hat, um am Warenmarkt seine sieben Sachen für die Produktion einzukaufen, kam nicht von irgendwo her, sondern ist selbst wiederum das Ergebnis der Mehrarbeit, also der ehemaligen Arbeit der Lohnarbeiter. Akkumulation ist somit das Ergebnis der Lohnarbeit.

Der Gebrauchswert im Produktionsprozess

Hier werden Werte als Tauschwerte akkumuliert und die Elemente, die im Produktionsprozess aufeinandertreffen, können nur gekauft werden, weil sie Tauschwerte haben: Lohnarbeit und sachliche Produktionsmittel. Aber nebenbei haben sie auch einen Gebrauchswert: die Arbeit als spezifische, nützliche Tätigkeit mit einer bestimmten Qualifikation, die technisch zu den sachlichen Produktionsmitteln und zu den Produktionsverfahren passt. Tauschwert und Gebrauchswert sind im Produktionsprozess verwoben wie in einem Stück Textil die unterschiedlichen Fasern und Fäden, sozusagen zwei glatt, zwei verkehrt.

„Sie (… die Arbeit …) erhält den Nutzen der Baumwolle als Garn, indem sie das Garn verwebt. (… ) In bezug auf den Gebrauchswert besitzt die Arbeit diese Eigenschaft, daß sie dadurch den vorhandnen Gebrauchswert erhält, daß sie ihn erhöht, und sie erhöht ihn, indem sie ihn zum Gegenstand einer neuen durch den Endzweck bestimmten Arbeit macht (… ) Dasselbe gilt vom Instrument. Eine Spindel erhält sich nur als Gebrauchswert, indem sie zum Spinnen vernutzt wird. Sonst wäre durch die bestimmte Form, die hier am Eisen und Holz gesetzt wird, sowohl die Arbeit, die sie setzte, als der Stoff, an dem sie sie setzte, verdorben zum Gebrauch. Nur indem sie als Mittel der lebendigen Arbeit, als ein gegenständliches Daseinsmoment ihrer Lebendigkeit gesetzt wird, wird der Gebrauchswert von Holz und Eisen ganz ebenso wie ihre Form erhalten. Aufgenutzt zu werden, ist ihre Bestimmung als Arbeitsinstrument, aber im Spinnprozeß aufgenutzt zu werden.“10

Es geht also nicht um den Produktionsprozess als Abstraktum, sondern um einen bestimmten, einen, der zu einer Branche mit einem spezifischen technischen Standard passt. Bereits hier ist deutlich, dass der Gebrauchswert auch der kapitalistischen Produktion eine Bedingung sowohl der Wertübertragung als auch der Wertrealisation am Markt ist. Der Gebrauchswert ist somit auch Bedingung der Akkumulation überhaupt. Karl Marx weiter in den „Grundrissen“:

„Die größere Produktivität, die sie der Arbeit verleiht, schafft mehr Gebrauchswerte und ersetzt so den in der Konsumtion des Instruments aufgezehrten Gebrauchswert. Am klarsten erscheint dies in der Agrikultur, da [ihr Produkt] unmittelbar als Lebensmittel und Gebrauchswert am leichtesten, weil am ursprünglichsten, in seinem Unterschied vom Tauschwert – als Gebrauchswert erscheint. Wenn die Hacke dem Landbauer doppelt soviel Korn verschafft, als er sonst erhalten könnte, so braucht er weniger Zeit auf die Produktion der Hacke selbst anzuwenden; er hat Proviant genug, um eine neue Hacke zu machen.“11

In diesem Fall musste die Arbeitszeit dazu verwendet werden, gerade eine Hacke zu produzieren, die dem Landbauer wiederum hilft, Zeit bei der Produktion des Korns zu sparen. Es ist dies ein doppelseitiges Verhältnis: die Zeit für die Produktion des Korns und die Zeit für die Produktion der Hacke, um bei diesem einfachen Beispiel zu bleiben. Und zwischen beiden Zeiten besteht eine Verbindung. Wird in die Entwicklung des Produktionsmittels Zeit investiert, spart dies bei der Produktion und es kann „doppelt so viel Korn“ geschaffen werden. Aber bereits hier ist klar, dass es um etwas Bestimmtes geht. Die Investition hat einen konkreten Gegenstand und eine bestimmte Technik zum Inhalt und nicht irgendeine.

Ein bestimmtes Quantum an Arbeit – die Arbeitszeit ist hier Maß der Arbeit an sich, Marx bezeichnete dies als abstrakte Arbeit – ist im Produktionsprozess notwendig, um nach einem gegebenen technischen Standard das Optimum an Output zu schaffen. Wir sehen bereits hier die Verflechtung von Quantität und Qualität, nicht irgendeiner, sondern einer bestimmten. Wenn sich in der kapitalistischen Produktion diese Tatsache als Verflechtung von Tauschwert und Gebrauchswert äußert, dann in jeder Produktionsweise als Verflechtung von Quantität und Qualität. Die Voraussetzung jeglicher Akkumulation, nicht nur der kapitalistischen, sondern etwa auch der sozialistischen, ist, dass die Investition eines bestimmten Quantums, etwa an Arbeitszeit, ein Produkt in einer bestimmten Qualität herstellt. Wir haben somit das Adjektiv „bestimmt“ in beiden Dimensionen, der Quantität und der Qualität, und dies entspricht einem technischen Standard. Der technische Standard ist aber nicht voraussetzungslos, sondern gleichzeitig das Produkt einer vergangenen Produktion und Investition. Also wiederum eines Einsatzes einer bestimmten Quantität, um eben diese bestimmte Qualität zu erschaffen.

In der vorliegenden Darstellung der Akkumulation ohne Kapital betrachten wir die Zusammenhänge in einem Modell, wie es unterschiedliche Ökonomen in der Vergangenheit oft verwendet hatten. Das Modell hat unter anderem zur Prämisse, dass eine bestimmte Quantität im Produktionsprozess eine entsprechende Qualität schafft. Dass aber irgendeine Quantitätssteigerung irgendeine Auswirkung auf das Endprodukt hat, lehrt bereits der Augenschein bzw. die Methode Versuch und Irrtum. Würde es hingegen überhaupt keine Auswirkung geben, handelte es sich offensichtlich um nutzlose Arbeit auf Seiten der zusätzlichen Quantität. In dieser Hinsicht ist die Prämisse nicht, dass es irgendeinen Zusammenhang unbestimmten Ausmaßes gibt, sondern dass dieser in einem bestimmten Verhältnis stattfindet, etwa 1 : 1. Das bedeutet zum Beispiel als elementarstes Beispiel, das sich durch mathematische Operationen variieren lässt: Eine Verdoppelung des Inputs des Produktionsprozesses bringt eine Verdoppelung des Outputs mit sich.

In dieser Darstellung unterstellen wir bei der Analyse des Akkumulationsprozesses, dass zum Beispiel eine Verdoppelung der Ressourcen bei der Herstellung eines Produktionsmittels bewirkt, dass dieses Produktionsmittel auch tatsächlich doppelt so viel bei seiner Nutzung im Produktionsprozess vermag. Erstens. Und zweitens unterstellen wir immer, dass jede Arbeit gerade die spezifisch nützliche, die technisch notwendige ist und dass es somit – zumindest aus diesem Grunde – keine Verschwendung gibt. Würden wir etwa die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit verdoppeln, aber die Verdoppelung wäre nur zur Hälfte spezifisch nützliche Arbeit, die Auswirkung im Produktionsprozess wäre keineswegs eine Verdoppelung, nicht einmal ein Anstieg um 50 %, da ja die nicht nützliche Arbeit bereits ökonomische Kosten verursacht, auch wenn sie keinen Nutzen hat.

Wir bezeichnen die beiden Unterstellungen – es kommt nur spezifisch nützliche Arbeit zum Einsatz und die Relation zwischen Qualität und Quantität sei 1 : 1 – als Randbedingungen der Akkumulation. Damit wollen wir zum Ausdruck bringen: Diese Bedingungen erklären nicht den Vorgang der Akkumulation selbst, deswegen „Rand“, aber sie sind unterstellte und notwendige „Bedingungen“ … daher Randbedingungen.

Randbedingungen der Akkumulation

Jede Darstellung einer ökonomischen Gesetzmäßigkeit beruht auf einem Modell. Alles andere ist einfach eine Nacherzählung. Hingegen hat das Modell den Anspruch, einen Zusammenhang zu erklären, der zumindest öfter als einmal vorkommt und bzw. oder allgemein gültig ist: eine Gesetzmäßigkeit. Wir stellen diese Modelle gerade deswegen auf, weil sie in der konkreten Totalität nicht sichtbar sind. Das Modell abstrahiert von schier unzähligen Ereignissen auf einige wenige Faktoren. Auch die bürgerliche Volkswirtschafts- und die Betriebswirtschaftslehre leben von der Abstraktion.

Das Modell wird aus diesem Grunde nicht dadurch widerlegt, dass es die Totalität der Wirklichkeit nicht völlig wiedergibt. Die Frage an das Modell ist eher „Abstrahierst Du richtig?“ und nicht „Abstrahierst Du überhaupt?“. Auch die in der sozialistischen Literatur implizit beliebte Frage „Ist das Modell praktikabel?“ ist unsinnig. Nur ein Modell der Wirtschaftspolitik kann sich diese Frage, neben anderen Fragen, stellen lassen. Ein Modell, das aber vorgibt, die ökonomische Struktur und nicht die konkrete Wirtschaftspolitik zu erklären, kann auf die Frage „Bist Du praktikabel?“ nur mit einem unverständlichen „Rauschen“ antworten. Das wäre so, also würden die Unternehmer das Buch „Das Kapital“ aufschlagen, um darin eine Antwort zu finden, ob für ihr Kapital gerade der Protektionismus oder der Handelsliberalismus vorteilhafter wäre. Es ist die falsche Frage. Sozialisten, die heute – ohne Praxis einer Planwirtschaft – ihr Modell am Markt der Ideen als praktikabel anpreisen, müssen sich zwangsläufig einen Schiefer Idealismus einfangen. Ihre Frage heißt übersetzt: „Wie stelle ich mir die beste Planwirtschaft vor?“.

Die einzig sinnvolle Frage an ein Modell zur Planwirtschaft ist daher: „Kannst Du dessen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten erklären: Ja oder nein?“. Jede andere Frage begibt sich auf das Terrain des philosophischen Idealismus: Nur das, was ich erkenne, existiert als das, was ich will. Diese Methode ist auf dem Gebiet der Ökonomie leider weit verbreitet. Die sinnvollen Fragen an ein Modell beginnen immer jenseits dieser Linie.

Gehen wir nun einen Schritt weiter: Das Modell kann richtig sein, also richtig abstrahieren. Aber die Abstraktion kann so tief angelegt sein, dass bereits relevante Sachverhalte nicht mehr abgebildet werden können. Das ist tatsächlich die größte Gefahr einer ambitionierten Theorie zur Planwirtschaft. Und nicht nur der Planwirtschaft. Hier kann eine Spur Vorsicht nicht schaden und deswegen beschäftigen wir uns in diesem Buch neben der Modulation des Modells auch mit den Randbedingungen für das Modell. Zuerst aber müssen wir auf dem Gebiet der Erforschung der Akkumulation immer von Randbedingungen abstrahieren. Denn wir sagen im Grunde: Ökonomische Ressourcen, die in die Akkumulation und nicht in die Reproduktion und nicht in den Konsum fließen, bewirken einen analogen Qualitätsschub der Produktivkräfte. Diese können nun mit weniger lebendiger Arbeit als zuvor das gleiche Output erzeugen bzw. ein größeres Output mit unveränderter Arbeitszeit. Das ist das Grundaxiom jedes Akkumulationsmodells. Aber beschreibt es immer die Wirklichkeit?

Zuerst einmal findet in diesem Axiom ein switch von Quantität zu Qualität statt: Wir stecken mehr an Geld oder mehr an Arbeitszeit in die Ausrüstungsindustrie – hier bewegen wir uns auf der Ebene der Quantität. Dann haben wir eine neue, bessere Technik in der Ausrüstung – hier bewegen wir uns auf der Ebene der Qualität. Dass grundsätzlich Quantität ab einer bestimmten Größe in eine neue Qualität umschlägt, ist dialektisch plausibel. Aber die Plausibilität holen wir uns aus der Empirie, nicht aus der Richtigkeit der Abstraktion. Oder anders gesagt: Der switch ist nicht zu beweisen, nur zu beschreiben.

Es existieren zwei Möglichkeiten: Erstens, dass nicht jedes Mehr an Quantität in Mehr an Qualität umschlägt. Zweitens, dass nicht jedes Mehr an Qualität durch ein Mehr an Quantität generiert wird. Wie bezeichnen dies als Umwandlungsproblem. Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dieses Problem stellt sich in Theorie und Praxis jeder Produktionsweise und nicht nur der kapitalistischen oder sozialistischen. Es ist also kein spezifisches Problem der Theorie und Praxis des Kapitalismus oder der Planwirtschaft. Freilich ist es alleine deswegen nicht weniger bedeutsam. Davon sollen die nächsten Seiten handeln. Nicht deswegen, weil das Umwandlungsproblem unser Modell bestätigt oder widerlegt. Sondern weil es sich um eine für die Ökonomie interessante Frage handelt. Wir können den springenden Punkt auch anders formulieren. Wir haben im Modell immerhin die tatsächliche Quelle der sozialistischen Akkumulation festgemacht: Die Querarbeit und das Querprodukt. Aber genauso wie es in der Geographie relevant ist, die Quelle eines Gewässers zu kennen, reicht dies nicht aus, um den weiteren Verlauf des Gewässers zu verstehen oder zu prognostizieren. Dazu müssen wir das ganze Areal kennen, die Bodenbeschaffenheit, die Topographie, die Verdunstungs- und Versickerungsrate, die Windungen des Laufes und die Hindernisse, die sich ihm dabei in den Weg stellen. Kurzum: Randbedingungen.

Unser Untersuchungsdesign in dem Mittelteil des vorliegenden Buches ist es ja, das Modell möglichst knapp zu halten, also möglichst wenige Randbedingungen ins Modell zu integrieren und dafür die Quelle der Akkumulation exakt zu bestimmen. Allein das ist schon ein Fortschritt, aber gleichzeitig eben nur ein erster Schritt, da eben viel Relevantes außen vor bleibt. Dieses Relevante können wir hier nur andeuten.

Jenseits der Hecke

Die bürgerliche Wirtschaftstheorie ist heterogen. Wenn wir von der einen Seite der „Gartenhecke“ einen Blick auf die andere Seite werfen, dann beachten wir dabei, dass auch unser Garten der marxistischen Theorie nicht gänzlich homogen ist. Die Grenze zwischen beiden Strängen bildet die Frage, ob der Mehrwert die Quelle des Profits sei und ob die Quelle des Mehrwerts der nicht entlohnte Teil der Arbeitszeit sei. Wer diese Frage bejaht, ist auf der marxistischen Seite, wer sie verneint, auf der bürgerlichen Seite. Diese Feststellung ist nicht moralisch misszuverstehen, sondern sachlich. Und erst recht bedeutet es nicht, dass alles andere auf der marxistischen Seite richtig sei – deswegen sprechen wir die Heterogenität an. Den Profit zu verstehen ist wichtig, aber er allein ist doch sehr elementar. Wer „seinen Marx“ gelesen hat und mittels der Mehrwert-Theorie eine bürgerliche Aussage widerlegen kann, kann sich im Gefühl des – eigentlich recht leisen – Triumphes wiegen und die weiterführenden Fragen ignorieren. Aber das wäre intellektuell unergiebig.

Moreover, und das ist hier der springende Punkt, hat die bürgerliche Wirtschaftstheorie für unsere Fragestellung interessante Seiten. Sie hat nämlich, ganz pauschal gesagt, wesentlich mehr Erfahrung und Übung mit dem Umgang mit Randbedingungen als die marxistische, die sich auf die Anforderung, die große Theorie systematisch auf die Empirie anzuwenden, meist gar nicht einlässt.

Jedenfalls sehen wir im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb zumindest drei Stränge, die wertvolle Inputs für das Verständnis der Randbedingungen bieten. Es sind dies die Wirtschaftsund Technikgeschichte, die sich mit Perioden der technischen Innovation beschäftigen. Als Beispiel wollen wir Landes‘ Beschäftigung mit dem Prozess der industriellen Revolution anführen.12 Zweitens die langfristig angelegte Produktivitätsstatistik. Hier sei als Beispiel die Datenaufbereitung von The Conference Board und des Maddison Projects genannt.13 Und drittens die langfristig angelegte Akkumulationstheorie – etwa jene Joan Robinsons.14 Selbstverständlich muss bei diesen Beispielen berücksichtigt werden, dass sie sich alle auf die Usancen der Warengesellschaft beziehen. Das versteht sich von selbst, aber bestimmte Phänomene einer langfristigen Entwicklung haben einen überhistorischen Charakter. Diese liefern für das Verständnis der Randbedingungen der Akkumulation, auch der sozialistischen Akkumulation, weit mehr Hinweise als die Akkumulationstheorie der sowjetischen Schule, die das Umwandlungsproblem in der ökonomischen Literatur schlicht ignoriert.

Wir können in diesem Kapitel nur erste Anregungen bieten, aber keine systematische Aufarbeitung, wie die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft das Problem bislang anging. Wir umreißen hier bloß das Thema.

Kommen wir zuerst zu dem Input der Produktivitätsstatistik. Die bürgerliche Wirtschaftsstatistik verwendet unter anderem den Term „Totale Faktor Produktivität“ (TFP). Damit wird der Fortschritt der Produktivität subsumiert, der nicht durch die Input-Änderung von Kapital und Arbeit gemessen werden kann. Die Kapital- bzw. die Arbeitsproduktivität kann zum Zeitpunkt i gemessen werden, etwa als Output durch Kapitalstock oder als Output durch Arbeitszeit, Beschäftigungsanzahl oder Lohnsumme. Diese Messung ergibt zum Zeitpunkt ii ein anderes Messergebnis. Zwischen beiden Messwerten i und ii wird die Differenz gebildet. Teils wird diese Differenz durch neu geschaffenes Kapital oder durch Veränderung des Faktors Arbeitskraft erklärt. Aber es bleibt post factum ein Rest, der nicht metrisch erklärt werden kann.15 Dieser wird als „Totale Faktor Produktivität“ zusammengefasst. Vom Standpunkt des Marxismus könnte man sich erheitern, dass die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft ihre Produktionsweise nicht gänzlich erklären kann und den unerklärbaren Rest einfach in einem Index zusammenpackt. Aber die Erheiterung ist in diesem Fall gänzlich unangebracht, denn auch der Marxismus kann das Umwandlungsproblem nicht fassen, ja, schlimmer noch, er hat sich diesem bislang kaum gewidmet.

Wie auch immer, wichtig ist nur, dass die Messung eigentlich auf keine ökonomische Erklärung hindeutet, sondern nur auf eine Beschreibung. Zwischen einer Erklärung und einer Beschreibung besteht ein großer Unterschied. Aber deswegen wird nicht falsch gemessen und deswegen ist der Index TFP auch nicht völlig unsinnig. Immerhin deutet er auf das, was nicht metrisch erklärt werden kann, weil im Hintergrund eine Umwandlung von der Ebene des Tauschwertes auf die Ebene des Gebrauchswertes und von dieser Ebene wieder zurück auf die Ebene des Tauschwertes stattfand. Also: Zuerst haben wir ein metrisch fassbares Ausmaß an zusätzlichem Kapital, dann die daraus folgende neue Technik und neue technische Zusammensetzung – hier finden wir uns plötzlich auf der Ebene der Gebrauchswerte, der konkret-nützlichen Arbeit wider. Und nach einer Änderung der technischen Zusammensetzung haben wir wieder deren Auswirkung im Output, einer metrischen Ebene der Tauschwerte.

Kurzum: Es geht hier genau um das auch für die Planwirtschaft relevante Thema des switches von Quantität zu Qualität. Gäbe es aber keine Empirie der Warengesellschaft – es gäbe auch keine Berechnung der TFP, da diese nicht durch eine Abstraktion, sondern durch eine Empirie abgeleitet wird. Eine TFP der Planwirtschaft wäre daher erst dann ein Index, wenn es eine konkrete Planwirtschaft gäbe und wenn diese alle hierfür relevanten Zahlen auch erhöbe. Bis dahin tun wir so, als ob genau eine Einheit Quantität eine Einheit Qualität mit sich brächte.

Wenden wir uns nun kurz dem Beitrag Joan Robinsons zu dem Umwandlungsproblem zu. Zuerst wollen wir uns aber einen ersten Eindruck verschaffen, was es mit ihrer grundlegenden Arbeit „Die Akkumulation des Kapitals“ (1958) auf sich hat.

Joan Robinson

Die britische Ökonomin Joan Robinson (1903–1983) stellt darin ein Modell vor, das langfristige Akkumulation von Kapital verstehen helfen soll. An sich war der methodische Zugang zu den Anforderungen an ein Modell ganz ähnlich wie in der vorliegenden Darstellung.16 Robinsons Modell selbst spiegelt aber die Prämissen der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft wider und nicht die Wert- bzw. Mehrwerttheorie von Marx, obgleich die britische Ökonomin einige Zeit lang auch Marx studierte. Joan Robinson gehörte zu den interessanten bürgerlichen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, weil sie methodisches Modelldenken mit der Annahme unterschiedlicher Klassen verband, während es zumindest im deutschen Sprachraum unter Ökonomen lange Zeit verpönt war, auch nur die Begriffe „Kapitalismus“ oder „Arbeiterklasse“ zu verwenden. In dieser Hinsicht hatte Robinson so wenige Barrieren wie etwa David Ricardo hundert Jahre zuvor, der ja auch die Revenuen unterschiedlicher Klassen (Arbeiter, Kapitalist und Grundeigentümer) untersuchte, ja, dies zum eigentlichen Inhalt seiner politischen Ökonomie machte. In der Preis- und Werttheorie blieb Joan Robinson allerdings hinter dem Potential ihrer Zeit zurück. Sie konnte nicht angeben, worin der Wert eines Produktes bestehe, aber sie konnte etwas zu den Preis-Veränderungen sagen, wie etwa zu dem Unterschied zwischen real und nominal. Das ist so, als könne man auf einem Schiff angeben, wie groß der Abstand zwischen Backbord und Steuerbord ist, aber nicht, wie viele Seemeilen das Schiff auf dem Wasser zurückgelegt hat. Die Preisveränderungen sind messbar und sagen etwas aus, aber nicht, auf welcher Grundlage der Ausgangspunkt definiert ist. Alles ist relativ, nichts absolut. Obwohl, so ganz stimmt das nicht. Einen absoluten Punkt in der Preisfrage fand Robinson sehr wohl:

„Das auf lange Sicht wichtige Preisniveau ist das in Arbeitszeit ausgedrückte Niveau, denn in ihm kommt (… ) die Aufteilung des gesamtgesellschaftlichen Produktionserfolges auf Arbeit und Besitz zum Ausdruck.“17

Leider war dies Endpunkt und nicht Startpunkt der Analyse von Wert, Preis und Ware bei Robinson. Ansonsten nämlich bestimmt in ihrem Verständnis der Preis den Wert und nicht umgekehrt der Wert den Preis, wie sich implizit hier zeigt:

„Die Kaufsumme für eine Maschine, die von einem darauf spezialisierten Produzenten erworben wird, übersteigt deren Lohnkosten und erbringt damit eine Quasi-Rente für den Investitionssektor. Die Kapitalgüter, die ein Produzent für den eigenen Gebrauch herstellt, werden zu einem Preis bewertet, der die Lohnkosten um eine fiktive Gewinnmarke übersteigt. Daher übersteigt der Gesamtgewinn eines Jahres die Quasi-Rente im Konsumsektor (abzüglich Amortisation) um denselben Betrag wie der Wert des Kapitalgüterzuwachses den Gewinn im Konsumsektor. Der Betrag, um den der Wert der jährlichen Kapitalgüterproduktion den jährlichen Verschleiß übersteigt, ist gleich der Differenz zwischen der gesamten Quasi-Rente und der Amortisation, also gleich dem Jahresgewinn.“18

In diesem Passus spiegelt sich die Marx-Lektüre von Joan Robinson wider, soweit die Beziehung der beiden Abteilungen I und II bei Marx, also der Investitionsgüterindustrie und der Konsumgüterindustrie, gemeint ist. Aber Robinson kombiniert dieses Ergebnis mit ihrer bürgerlichen Wert-Theorie, die besagt, dass der Preis vom Unternehmer kalkuliert ist, um Gewinn zu machen, und nicht, dass der Wert der Waren Gewinn ermöglicht, weil in ihnen unbezahlte Arbeitszeit steckt. Der springende Punkt ist hier durchaus die Frage nach dem Mehrwert.

Robinson analysiert die Akkumulation im Kapitalismus mit dem Instrumentarium der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft; wir hingegen beschäftigen uns in diesem Buch mit der sozialistischen Akkumulation mit dem Instrumentarium der marxistischen Wirtschaftswissenschaft. Deswegen musste sich Robinson mit ganz anderen Fragen beschäftigen. Interessant sind aber jene Punkte, in denen eine Überschneidung existiert. So beginnt sie das Modell der langfristigen Akkumulation unter der Annahme, dass es keinen technischen Fortschritt gebe und ergänzt das Ergebnis sodann um den Effekt des technischen Fortschritts. Das ist ganz vernünftig vorgegangen. Bei dem ersten Modell, also ohne technischen Fortschritt, kommt sie unter der Modell-Prämisse, dass die Gewinne nicht als Revenue der Unternehmer dienen, sondern zur Gänze reinvestiert werden, zu folgendem Ergebnis:

„Die Beziehung zwischen Gewinn und Akkumulation hat zwei Seiten. Damit überhaupt ein Gewinn erzielt werden kann, muß die Produktion pro Beschäftigten einen Überschuß über jene Menge hinaus ergeben, die notwendig ist, um die Familie des Arbeiters und damit des Arbeitskräftepotentials zu erhalten. Aber die technische Möglichkeit eines solchen Überschusses ist keine hinreichende Bedingung für die Realisation von Gewinnen. Die Unternehmer müssen dazu auch investieren. Der Satz, dass die Profitrate gleich der Akkumulationsrate ist (wenn aus Gewinnen nicht konsumiert wird), wirkt nach beiden Richtungen. Wenn die Unternehmer keinen Gewinn erzielen, können sie nicht akkumulieren und wenn sie nicht akkumulieren, erzielen sie keinen Gewinn.“19

Hier sehen wir zwei Seiten eines Problems: Erstens könnte nach dem Modell Robinsons langfristige Akkumulation ohne technischen Fortschritt stattfinden, indem die Gewinne reinvestiert werden. Wir vertauschen zwar in der vorliegenden Darstellung die Usancen der Warenwirtschaft durch jene der Planwirtschaft, aber das ist in diesem Zusammenhang nebensächlich. Jedenfalls, wenn das kurz vorweggenommen werden darf, wird im Mittelteil des vorliegenden Buches bewiesen, dass langfristige Akkumulation eine Änderung der technischen Zusammensetzung und damit technischen Fortschritt mit sich bringen muss. Der technische Fortschritt erleichtert dann wiederum die nächste Runde der Akkumulation. Vielleicht kam Robinson nicht zu diesem Punkt, weil sie in ihrem Modell das Angebot der Arbeitskräfte als unbegrenzt voraussetzte, was nebenbei erwähnt auch im Widerspruch zu ihrer Prämisse einer geschlossenen Volkswirtschaft stand. Die zweite Seite des Problems ist der Satz:

„(… ) und wenn sie nicht akkumulieren, erzielen sie keinen Gewinn.“20

Dieser Halbsatz ist offensichtlich falsch. Das Kapital kann auch unter den Annahmen von Robinsons Modell Gewinn machen, ohne zu akkumulieren. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis darin, dass Robinson die Wertübertragung im Zuge der Reproduktion nicht wie Marx verstand. Der Hintergrund: Statt eines Mehrwerts gibt es bei Joan Robinson die „Quasi-Rente“, die der Lohnsumme entgegengesetzt ist. Die Quasi-Rente besteht aus den Verkaufserlösen, von denen die Löhne bereits abgezogen sind. Gemäß der Betrachtungsweise nach dem Einkommen ist die Quasi-Rente Eigentum des Industriellen, von der aber – deswegen „quasi“ – Rente und Zins abgezogen werden. Das ist ja auch nach Marx beim Mehrwert der Fall: Vom Mehrwert wird die Rente abgezogen und bildet somit den Profit, vom Profit wird der Zins abgezogen und bildet somit den Unternehmensgewinn. Und Löhne kann der Mehrwert ja so oder so nicht beinhalten, da jene ja die notwendige Arbeit abbilden.