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Christiane Hackenberger

Ränkespiel des
Schicksals

Roman

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Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 by edition fischer GmbH

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: © Photo Lill, Shahnaz Taheri

Schriftart: Minion Pro 12pt

Herstellung: ef/bf/1B

ISBN 978-3-86455-141-3 EPUB

Inhalt

Kreise, die sich schließen

Friedrich

Sonja

Kreise, die sich schließen

»Ein gedämpft beleuchteter, großer Raum mit rot tapezierten Wänden, leise Musik spielt im Hintergrund, es ist angenehm warm. In der Mitte steht eine wuchtige, schwarze Ledersitzgruppe, in der sich ein paar Leute unterhalten. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, auch niemanden erkennen. Der Duft von Zigarrenrauch hängt in der Luft. Ich liege zusammengekrümmt in einer Ecke auf dem Parkettboden und habe am ganzen Körper starke Schmerzen. Niemand kümmert sich um mich. Bis ein Mann hereinkommt und fragt: ›Was ist hier los?‹ Jemand aus der Sitzgruppe steht auf, weist auf mich und sagt: ›Die Frau, die getötet wird, weint.‹ Der Mann kommt zu mir, beugt sich über mich, sieht mir eindringlich ins Gesicht und hebt mich hoch. Ich will schreien, da wache ich auf. Ich bekomme kaum Luft, zittere am ganzen Körper, mein Herz rast, aber seltsamerweise habe ich keine Schmerzen. Nur mein Kissen ist nass von Tränen. Das Gesicht dieses Mannes sehe ich immer ganz deutlich vor mir, ich kann es nicht vergessen, diesen ernsten, eindringlichen Blick aus dunklen Augen. Überall würde ich diesen Mann wiedererkennen; ich bin überzeugt, wenn ich ihm im richtigen Leben begegne, ist es mein Ende. Ich weiß nicht, was ich dann tun soll; kann ich weglaufen?« Irene schwieg einen Moment, richtete sich aus ihrer halb liegenden Stellung auf und fragte seufzend: »Was halten Sie nun davon? Bin ich verrückt?«

»Aber nein, ganz und gar nicht.« Die Psychologin schüttelte energisch den Kopf und reichte ihrer Patientin eine Tasse Tee. »Bitte, trinken Sie einen Schluck! Offensichtlich hatten Sie in Ihrer Kindheit ein starkes, traumatisches Erlebnis, das Sie tief beeindruckt hat und das sich nun aus Ihrem Unterbewusstsein nach oben arbeitet. Dazu braucht es allerdings einen Anlass. Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches geschehen? Haben Sie vielleicht einen Film gesehen, in dem sich etwas Ähnliches zugetragen hat, wodurch Ihre Erinnerung geweckt wurde? Seit wann haben Sie diesen Traum?«

»Eigentlich schon seit meiner Kindheit. Damals war es aber nur dieser Mann. Die Umgebung, diesen Raum mit den roten Tapeten habe ich wohl nicht wahrgenommen. Ich sah sein Gesicht und wachte schreiend auf. Dann verlor sich der Traum für viele Jahre. Erst seit meine Mutter tot ist, also seit etwa zwei Jahren, kommt er immer wieder. Sie war herzkrank und ist ganz friedlich eingeschlafen. Es gab da nichts Außergewöhnliches. Auch bei ihren Sachen habe ich nichts gefunden, keinen Brief, kein Foto, das die Hintergründe des Traums aufklären könnte.«

»Wie oft haben Sie diesen Traum? Steht er möglicherweise mit irgendeinem Zustand oder Ereignis aus Ihrem jetzigen Leben in Verbindung, vielleicht, wenn Sie unter besonders starkem Stress stehen?« Irene zuckte die Schultern. »Nein, wie schon gesagt, da fällt mir nichts ein. Mit Stress hat es nichts zu tun. Ich habe wirklich schon viel darüber nachgedacht, aber da gibt es nichts. Mein Leben ist eigentlich ganz in Ordnung. Ich habe sogar schon die Mondphasen beobachtet; aber daraus konnte ich auch keine Zusammenhänge erkennen, ich glaube sowieso nicht daran, dass der Mond Albträume hervorruft. Manchmal träume ich mehrere Nächte hintereinander, dann wieder wochenlang gar nicht. Die Sache beunruhigt mich einfach. Wenn ich nachts dieses Erlebnis habe, fühle ich mich am nächsten Tag halb tot und kann mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Und ich suche unwillkürlich nach diesem einen Gesicht, überall, wo ich bin. Es ist wie ein Zwang, eine fixe Idee.«

»Das ist nur allzu verständlich.« Die Ärztin nickte mitfühlend. »Es ist aber auch durchaus möglich, dass sich diese Zusammenhänge, die Sie da sehen, zum Beispiel die Umgebung mit den roten Tapeten, in Ihrem Unterbewusstsein erst allmählich wieder eingefunden haben. Man kann es sich vorstellen wie auf einem beschlagenen Spiegel, der blank geputzt wird und dadurch viele Dinge klarer wiedergibt. Außerdem ist das menschliche Gehirn zu allerhand Täuschungsmanövern in der Lage und zimmert sich manchmal auch seine eigene Logik zurecht.«

»Soll das heißen, ich spinne?!«

»Nein, nein, keineswegs, so etwas ist ganz normal, machen Sie sich keine Sorgen!« Die Ärztin lächelte Irene aufmunternd zu und fuhr fort: »Ich werde Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben. Nehmen Sie eine Tablette vor dem Schlafengehen; es besteht keine Gewöhnungsgefahr. Und kommen Sie unbedingt zu mir in die Praxis, wenn dieser Traum wieder erscheint; kommen Sie einfach, jederzeit, ohne Anmeldung. Wir sollten uns beim nächsten Termin über Ihre Therapie beraten. Eventuell könnte Ihnen auch eine Hypnose helfen, die Vergangenheit klarer zu sehen, aber dazu müssen Sie bereit sein. Sie müssen sich ganz bewusst positiv darauf einlassen, sonst kann diese Methode nicht zum Erfolg führen. Ich kann es Ihnen nur anbieten; wir sollten auch diese Möglichkeit beim nächsten Mal eingehend besprechen.« Die Ärztin rechnete mit einer längeren Behandlungsdauer, es versprach ein interessanter Fall zu werden. Diese Irene Felling erschien ihr eigentlich als eine gefestigte, sehr kontrollierte Persönlichkeit, es würde nicht einfach sein, in ihr Unterbewusstsein vorzudringen. Obwohl sie sich ja offenbar sehr in ihren Traum hineingesteigert hatte. Sie war Pharmareferentin von Beruf, eine gut aussehende, lebensbejahende Frau Anfang dreißig. So ein beunruhigender, unerklärlicher Traum passte natürlich nicht in ihr geordnetes Leben und sie wollte der Sache auf den Grund gehen; eigentlich hätte sie das schon viel früher tun sollen. Aber die Ärztin wusste aus Erfahrung, dass sich viele Menschen davor scheuen, mit einem Psychologen oder Psychiater zu sprechen; sie befürchten Spott aus ihrem unmittelbaren familiären und beruflichen Umfeld oder sogar, dass sie sich selbst in ihrer Persönlichkeit in Frage stellen müssten. Gegen derartige Vorbehalte kann manchmal auch die Zusicherung der ärztlichen Schweigepflicht nicht viel ausrichten. Erstaunlicherweise waren auch die Gruselbilder aus alten Hollywood-Filmen von Behandlungen mit Elektroschocks durch manisch wirkende Ärzte in weißen Kitteln, mit wild zerzaustem Haar und finsterem Gesicht, noch sehr präsent. Dabei zeigten sich gerade die USA ausgesprochen fortschrittlich, was die Schlaf- und Traumforschung betraf. Es gab an einigen namhaften Instituten neue, sehr interessante Studien zu diesem Themenbereich. Sie plante, sich im Internet darüber zu informieren und hoffte auf Erkenntnisse, mit denen sie ihrer Patientin noch besser helfen könnte. Auch sah sie es für sich selbst als großen Vorteil, wenn sie sich auf diesem speziellen wissenschaftlichen Gebiet etwas mehr profilieren würde. Viele ihrer Berufskollegen nahmen die Traumforschung immer noch nicht so recht ernst, wie sie wusste. Einer hatte sie einmal im Rahmen einer Fernsehdiskussion abfällig als ›Blähungen des Gehirns‹ bezeichnet und damit helle Empörung bei seinen Kollegen hervorgerufen. Außerdem hatte er sich danach einer lang anhaltenden, hämischen Pressekampagne ausgeliefert gesehen und musste immer wieder zu seiner unglücklichen Formulierung Stellung nehmen.

Irene verließ die Praxis der Psychologin im Frankfurter Westend und fuhr nach Hause. In Gedanken schüttelte sie den Kopf. Wie stellte es sich die Ärztin vor, dass sie jederzeit sofort zu ihr kommen sollte; etwa auch mitten in der Nacht, wenn sie vollkommen in ihrem Traum gefangen war? Nein, das ist keine Lösung, dachte sie; ich setze mich damit nur selbst unter Druck. Sie ganz allein musste versuchen herauszufinden, was da irgendwann in der Vergangenheit geschehen war, welchen Grund ihr Traum hatte. Einen Anlass musste es doch gegeben haben, denn das Gesicht dieses Mannes hatte ja auch in ihrer Kindheit schon Angst bei ihr hervorgerufen. Die Kraft des Traumfängers aus weißen und hellblauen Federn, den ihre Mutter ans Fenster ihres Kinderzimmers gehängt hatte, reichte nicht aus, um die Spukbilder verschwinden zu lassen. Es war schon damals immer dasselbe ernste Gesicht dieses Mannes gewesen, dieser forschende Blick. Nur an die Umgebung, den Raum mit den roten Tapeten, konnte sie sich früher wohl nicht erinnern. Oder hatte sie ihn einfach nicht beachtet? Und es gab auch niemanden, den sie hätte fragen können, was es mit alldem auf sich hatte. Die einzige Person, die Licht ins Dunkel hätte bringen können, wäre ihre Mutter; aber sie war tot. Oder vielleicht noch die alte Gret, eine Tante ihrer Mutter; aber auch sie war schon lange tot. Trotzdem — es hatte ihr auf jeden Fall gut getan, mit einer unvoreingenommenen Person über ihren Traum zu sprechen; auszusprechen, was sie so sehr ängstigte und vor allem bestätigt zu bekommen, dass sie kein Fall für die Psychiatrie war. Die ruhige, freundliche Atmosphäre in der Praxis hatte auch viel dazu beigetragen. Irene fühlte sich schon etwas getröstet. Lange hatte sie gezögert, vielleicht zu lange, sich wegen ihres Traums an diese Ärztin zu wenden. Ob sie ihre Sprechstunde noch einmal besuchen würde, hatte sie allerdings noch nicht entschieden; vielleicht eher nicht. Aber die Tabletten würde sie keinesfalls schlucken, dieser Entschluss stand fest. Eigentlich hatte sie ja keine Schlafprobleme; normalerweise streckte sie sich auf ihrem Bett aus und schlief ein. Wie sollte denn auch ein Medikament ihre Träume beeinflussen? Im Vorhinein bestand ja kein Grund zur Beruhigung, die Pillen würden nur dämpfend wirken. Und wenn der Traum erst einmal da war, nutzten sie auch nichts mehr. Also warum überhaupt das Rezept einlösen?

Es war später Freitagnachmittag, regnerisches, kühles Wetter, alles andere als der ersehnte Sommer, der für Ende Juni normal gewesen wäre; man brauchte nach wie vor warme Kleidung. Wie immer am Freitag herrschte dichter Straßenverkehr; auch der Supermarkt war voller Menschen, die sich für das Wochenende versorgten. Irene kaufte etwas Gemüse und Obst, ein mageres Hähnchenbrustfilet und ein kleines Brot. Dann fuhr sie nach Hause, kochte eine Kanne Tee, fand noch ein paar Mandelkekse und machte es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem. Endlich Wochenende, dachte sie und streckte sich wohlig aus. Sie konzentrierte sich auf die Liebeskomödie im Fernsehen, die zwar sehr lustig, in ihrer Handlung allerdings sehr an den Haaren herbeigezogen war. Aber es waren gute Schauspieler, die der Geschichte mit offensichtlicher Spielfreude Leben verliehen. Und Irene dachte nicht mehr an ihren bösen Traum.

In der nächsten Woche würde sie von Mittwoch bis Freitag in Hannover sein. Sie musste noch ihre Bahnfahrkarte und ein Hotelzimmer buchen. Das Konzept für das Seminar in einer Heilpraktikerschule hatte sie schon entwickelt und von Herrn Siem, ihrem Chef, absegnen lassen, es fehlten nur noch einige Fotos zur Darstellung der entsprechenden Produkte und der Musterkoffer. Den würde sie am Montag zusammenstellen. An diesem Wochenende fand sie ausreichend Schlaf und wurde nicht von ihrem Albtraum gepeinigt. Die neue Woche konnte kommen.

Irene arbeitete als Pharmareferentin bei der Firma Siem Naturgesund in Frankfurt. Sie war viel unterwegs, besuchte Apotheker und Heilpraktiker, überzeugte sie von der hohen Qualität und der nachgewiesenen Wirksamkeit der Produkte ihrer Firma und nahm dann erfreut und sehr zufrieden die Bestellungen auf. Die Arbeit machte ihr Spaß, sie mochte den Kontakt zu ihren Kunden und verstand zu überzeugen. Die Firma Siem Naturgesund befand sich in dritter Generation in Familienbesitz und hatte sich seit jeher der Naturheilkunde verschrieben. Alle Produkte wurden unter bestmöglichen Bedingungen aus extra für die Firma gezogenen, besonders wirksamen Pflanzen hergestellt und in ausgewogenen, den Organismus nicht belastenden Rezepturen verarbeitet. Wenn Irene gelegentlich in den Fabrikräumen zu tun hatte, war sie immer sehr beeindruckt von all den großen Tanks, gefüllt mit Extrakten, Ölen, Kräutern, aus denen dann Tabletten, Tinkturen, Tees oder Salben enstanden. Konrad Siem, der Firmenchef, war sehr zufrieden mit Irene. Sie hatte als Studentin ein Praktikum in seinem Betrieb gemacht und war zu der Erkenntnis gelangt, dass es doch nicht so recht ihren Vorstellungen entsprach, in einer Apotheke zu arbeiten und ihren Kunden Pillen und Tropfen zu verkaufen. Also hatte ihr Herr Siem vorgeschlagen, nach dem Studium in seiner Firma zu bleiben und das Team im Vertrieb zu unterstützen. Sie hatte eine sehr sympathische, offene Art, auf Menschen zuzugehen und besaß große Überzeugungskraft. Außerdem dachte sie mit, was er außerordentlich begrüßte. Sie war es, die angeregt hatte, kleine Seminare bei ihren Kunden durchzuführen, um ihnen die Vorzüge der Naturmedizin nahezubringen. Die Verkaufszahlen waren dadurch beträchtlich nach oben geklettert. Herr Siem plante, Irene Felling mit größeren organisatorischen Aufgaben zu betrauen; Leute mit so umfassenden Kenntnissen und so großem Elan musste man unbedingt fördern. Der einzige Nachteil dabei war allerdings, dass sie die neuen Aufgaben hauptsächlich am Schreibtisch halten würden. Für den Außendienst müsste sie dann eine ihrer Kolleginnen fit machen; aber auch das würde sie sicher mit Bravour meistern. Er hielt große Stücke auf seine Mitarbeiterin, wie auch ihre Kolleginnen und Kollegen; Irene war sehr beliebt, alle arbeiteten gern mit ihr zusammen. Das Betriebsklima bei Siem Naturgesund konnte überhaupt als ausgesprochen gut, fast familiär bezeichnet werden. Das fand man durchaus nicht in jedem Unternehmen.

Thomas Brander eilte durch den Hannoverschen Hauptbahnhof, ignorierte die Rolltreppe und lief die Stufen zum Bahnsteig vier hinauf. Dieses Wochenende wollte er wieder zu Hause in Fulda verbringen. Die ganze Woche war er meist bis spät im Labor gewesen, nun musste er einfach für sich sein, um aufzutanken. Er hatte sich Fachliteratur mitgenommen, die er in Ruhe studieren wollte, und am Sonntag würde er einen ausgedehnten Spaziergang unternehmen. In letzter Zeit war es zudem öfter zu Differenzen zwischen ihm und seiner Freundin und Kollegin Sabine gekommen, auch davon brauchte er etwas Abstand. Sie verhielt sich neuerdings regelrecht besitzergreifend, wollte das tägliche Abendprogramm bestimmen, lud dauernd Leute zum Essen ein und mischte sich immer stärker in seine Angelegenheiten. Das ertrug er nicht; sie führte sich schon beinahe wie eine Ehefrau auf. Außerdem wollte sie ihre Zweierwohngemeinschaft in eine partnerschaftliche Wohnung umgestalten. Es sollte nicht mehr jeder sein eigenes Zimmer haben, sondern es würde ein gemeinsames Schlafzimmer und ein gemeinsames Wohn- und Arbeitszimmer nach ihren Vorstellungen eingerichtet werden. Auch das passte ihm gar nicht; die geplanten Änderungen musste er unbedingt verhindern oder sich notfalls eine neue Wohnung suchen. Er brauchte einen Rückzugsort für sich, an dem er nicht behelligt wurde. Mehr Nähe als bisher ertrug er nicht, das musste Sabine wohl oder übel einsehen. Aber jetzt wollte er einfach nur nach Hause und über das Wochenende ausspannen.

Auf dem Bahnsteig angekommen, stellte er fest, dass die Eile gar nicht nötig gewesen wäre — der Zug hatte fünf Minuten Verspätung, wie meistens; aber das wusste man ja vorher nie. Also konnte Thomas zuerst einmal durchatmen. Als er sich der Bahnsteigkante näherte, wich eine Frau in einem roten Mantel mit einem gellenden Aufschrei vor ihm zurück, stolperte und wäre rückwärts auf die Gleise gestürzt, wenn er sie nicht geistesgegenwärtig am Arm gepackt und festgehalten hätte. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen und mit offenem Mund voller Entsetzen an, zitterte am ganzen Körper und konnte kaum ihren Atemrhythmus wiederfinden. Thomas führte sie von der Bahnsteigkante weg in den Wartebereich und bat sie, sich zu setzen. Sie war leichenblass und zitterte nach wie vor. »Aber was machen Sie denn, was hat Sie denn so erschreckt?«, fragte er mitfühlend. Sie versuchte zu antworten, keuchte immer noch und stammelte: »Ich habe — Sie sehen jemandem ähnlich — ich hatte Angst.« Thomas musste fast lachen. Dass er auf Frauen furchteinflößend wirken sollte, war ihm neu. Aber sie hatte sichtlich Angst. Geduldig fragte er weiter: »Was hat Ihnen dieser Mann, dem ich so ähnlich sehe, denn getan?« Bevor sie antworten konnte, eilte ein Bahnbediensteter herbei und fragte, ob er einen Arzt rufen solle. Die Frau verneinte, Thomas dankte dem Mann und meinte, es sei alles in Ordnung. In der Zwischenzeit war allerdings ihr Zug in den Bahnhof eingefahren und hatte ihn auch wieder verlassen. Die Frau war den Tränen nahe. »Jetzt haben Sie meinetwegen Ihren Zug versäumt!«, jammerte sie verzweifelt. »Halb so schlimm, wir nehmen den nächsten«, beruhigte er sie. »Kommen Sie, wir gehen einen Kaffee trinken und Sie erzählen mir, warum Sie Angst hatten. Eigentlich erschrecken Frauen nicht vor mir.« Seltsamerweise fühlte er eine Art Verantwortung für diese offenbar leicht verwirrte Frau. Sie sah sehr gut aus, hatte faszinierende, helle Augen mit einem blauen Rand um die Iris, die im Moment allerdings etwas ratlos blickten. Ihre dichten, dunkelblonden Locken wurden durch einen Haarreif aus rotem Samt gebändigt. Sie fanden eine ruhige Ecke im Hofcafé. »Ich heiße Irene Felling«, stellte sich die Frau vor. »Ich muss mich wirklich bei Ihnen entschuldigen, Sie müssen mich ja für vollkommen hysterisch halten.«

»Ich bin Thomas Brander«, gab er lächelnd zurück; sie reichten sich über den Tisch hinweg die Hand. »Ich glaube nicht, dass Sie hysterisch sind, Sie sind nur furchtbar vor mir erschrocken. Aber warum? Wem sehe ich denn nun so ähnlich, dem Leibhaftigen?«

»Einem Mann, von dem ich immer wieder träume, erst letzte Nacht im Hotel. Heute früh war ich wie gerädert und habe mich gar nicht zurechtgefunden. Sie sehen haargenau so aus wie dieser Mann. Und ich habe in meinem Traum wahnsinnige Angst vor ihm; er will mich umbringen. Warum weiß ich allerdings nicht.«

»Was?!« Thomas war entsetzt. »Aber dafür muss es doch einen Grund geben? Haben Sie ihm vielleicht etwas angetan, auch ohne Absicht, sind Sie in sein Auto reingefahren? Oder haben Sie ihm etwas weggenommen? Möglicherweise haben Sie ihn abgewiesen und er will sich rächen?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, ich kenne ihn ja nicht.« Irene hob hilflos die Schultern. »Es muss wohl jemand sein, den ich irgendwann in der Vergangenheit einmal gesehen habe, als Kind, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wann das war und was damals geschehen ist. Ich habe auch bei den Sachen meiner verstorbenen Mutter nichts gefunden, kein Foto, auf dem dieser Mann zu sehen wäre. Es ist immer nur dieser Traum, dieses Gesicht; es ist Ihr Gesicht, ganz nahe vor mir. Ich wache in heller Panik auf und am Morgen bin ich dann fix und fertig.« Sie sah ihn an und lächelte unsicher. Thomas seufzte mitfühlend. »Tja; das klingt alles sehr mysteriös, nur werden wir das Rätsel hier und jetzt wohl nicht lösen können. Wir sollten nun aber gehen, damit wir den nächsten Zug erreichen. Ich muss nach Fulda; wohin fahren Sie denn?«

»Nach Frankfurt.«

»Wie schön, dann haben wir ja noch ein wenig Zeit zum Plaudern.« Irenes Nervosität hatte sich schon fast gelegt. Die Gegenwart dieses Mannes, vor dem sie sich eigentlich so sehr gefürchtet hatte, wirkte nun seltsamerweise eher beruhigend und vertrauenserweckend auf sie. Im Zug hatten sie Glück und fanden zwei freie Plätze nebeneinander. Irgendjemand hatte wohl seine Reservierung nicht wahrgenommen. Irene erzählte Thomas, dass sie für ein Unternehmen arbeitete, das Naturmedizin herstellte. Sie reise viel, besuche Apotheker, Heilpraktiker und Ärzte, die sich auf alternative Heilmethoden spezialisiert hätten und bringe ihnen die Vorzüge der Produkte ihrer Firma nahe, durchaus nicht immer mit Erfolg. »Manche Leute, hauptsächlich ältere Apotheker, sind doch noch sehr voreingenommen gegen Naturmedizin. Sie glauben nicht, dass pflanzliche Produkte ebenso gut oder noch besser wirken können und verlassen sich lieber auf Chemie, weil sich damit meist schneller Erfolge zeigen und wahrscheinlich auch, weil sich alles problemlos über Rezepte abwickeln lässt. Bei pflanzlichen Mitteln ist das ja nicht immer möglich. Aber wenn man sich ausschließlich auf Chemie verlässt, verschiebt man ja das Problem häufig nur und gibt dem Organismus nicht die Chance, sich gründlich zu regenerieren.« Thomas stimmte ihr zu. »Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Dann steht die nächste Erkältung praktisch schon vor der Tür. Ich bin übrigens Chemiker an der Tiermedizinischen Hochschule in Hannover und beschäftige mich dort mit schonender Medizin für Kühe und Pferde, wenn die mal niesen müssen.« Irene lachte. »Tatsächlich? Dann sind wir ja fast Kollegen und könnten sehr ausgiebig fachsimpeln, schon über die Dosierungen!« Die Zugdurchsage meldete die Ankunft in Fulda, in wenigen Minuten. »Jetzt muss ich leider aussteigen«, sagte Thomas bedauernd. »Es war schön, mit Ihnen zu plaudern. Hier ist meine Karte; rufen Sie mich doch einmal an, wenn Sie mögen; ich würde mich freuen. Sie haben nun keine Angst mehr vor mir?« Sie lächelte. »Aber nein; ich danke Ihnen sehr und es tut mir wirklich Leid, dass ich Ihnen so viele Umstände gemacht habe.« Ehe er antworten konnte, meldete sich noch einmal die Zugdurchsage: »Meine Damen und Herren, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Aus betriebstechnischen Gründen endet dieser Zug heute in Fulda. Reisende nach Frankfurt und Stuttgart haben leider erst um einundzwanzig Uhr achtundfünfzig die Möglichkeit, mit einem Regionalexpress weiterzufahren. Wir bedauern …«

»Ach du lieber Himmel!«, rief Irene aus. »Da sitze ich ja fast drei Stunden auf dem Fuldaer Bahnhof fest und komme erst mitten in der Nacht nach Hause! Und das alles nur, weil ich …«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach sie Thomas. »Sie kommen mit mir, bekommen eine leckere Pizza, ein Glas Wein und ein Bett. Und morgen früh sehen wir weiter. Es ist ja auch noch gar nicht sicher, dass dieser späte Zug dann tatsächlich fährt. Wir kennen doch die Bahn!«

»Aber ich mache Ihnen doch nur noch mehr Umstän - de!«, wehrte Irene ab.

»Nein, überhaupt nicht; kommen Sie einfach mit. Ich kenne ja Ihren Traum auch noch gar nicht richtig. Sie müssen mir alles erzählen.« Die Aussicht, Stunden in dem unpersönlichen, von Düften nach Bratwurst und Frittierfett durchzogenen Wartebereich des Bahnhofs zu verbringen, ließ sie schaudern; also verdrängte sie ihre Bedenken, nahm die Einladung an und verließ zusammen mit ihrem Retter den Bahnhof. Keine zehn Minuten später standen sie vor Thomas’ Haus am Rande der Innenstadt, einem schönen Haus aus der Gründerzeit, wie Irene sehen konnte, weiß verputzt, mit zwei Erkern im ersten Stock und einer soliden Haustür aus dunklem Holz. Es gab auch einen Garten und Bäume, die leise im Wind rauschten; eine ideale Umgebung für eine Familie, die hier sicher gut leben konnte.

Im Haus roch es nach Holzpolitur. »Ich stelle gleich die Heizung an, es ist doch etwas kühl, nicht gerade sommerlich«, sagte Thomas und begab sich zur Kellertür. »Sehen Sie sich inzwischen ruhig um!« Es war still, offenbar befand sich niemand sonst im Haus. Irene fand sich in einer gepflegten, gutbürgerlichen Atmosphäre wieder. Sie stand in einer geräumigen Diele; eine geschwungene Holztreppe mit geschnitztem Geländer führte hinauf in die obere Etage. Etwas scheu trat sie einige Schritte in das große Wohnzimmer und blickte auf edle Möbel aus poliertem, dunklen Holz, die aber keinesfalls wuchtig wirkten, bequem aussehende Sessel und Sofas auf einem modernen, hellen Teppich bildeten eine behagliche Insel. Es gab auch einen Kamin. An den Wänden hingen geschmackvolle Gemälde, Stillleben und Landschaftsdarstellungen in dezent vergoldeten Holzrahmen, die den Bildern nicht ihre Geltung nahmen. Die Küche war geräumig und sehr modern eingerichtet. »Leben Sie hier ganz allein?«, fragte Irene verwundert. »Ja; ich bin meist nur am Wochenende hier und nutze das Haus als Rückzugsort, ansonsten lebe und arbeite ich in Hannover.« Sie sah Thomas zu, wie er mit sehr routinierten Griffen einen Pizzakarton öffnete, die Folie um das tiefgefrorene Etwas löste, es in den Backofen schob und diesen einschaltete. Er meinte lächelnd: »Ich zeige Ihnen zuerst einmal das Gästezimmer und das Bad, damit Sie sich frisch machen können.« Sie stiegen die Treppe hinauf und betraten einen freundlichen kleinen Raum mit einem bunt bezogenen Bett und einem zweitürigen Schrank. Ein kleiner Tisch und ein bequemer Sessel vervollständigten die Einrichtung. Geblümte Gardinen hingen vor dem Fenster. »Das Bad ist gleich nebenan«, sagte Thomas und wollte das Zimmer verlassen.

»Nein!!«

Irenes Aufschrei hielt ihn zurück und ließ ihn umkehren. Was ist denn jetzt schon wieder, dachte er; eine Spinne? War es am Ende doch ein zu voreiliger Entschluss gewesen, diese fremde Frau zu sich nach Hause einzuladen? Vielleicht hatte sie ja tatsächlich irgendein psychisches Problem? Irene starrte mit weit aufgerissenen Augen auf ein etwas verblasstes, gerahmtes Foto an der Wand und fragte stockend, fast tonlos: »Wieso haben Sie hier ein Bild von meiner Mutter?! Und neben ihr, das ist der Mann, von dem ich immer träume! Wer ist das?!«