Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Sommerwind und Hufgetrappel

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Sie kommen!

Alles ist still. Nur unter dem Dach knuspert und raschelt es heimlich. Es klingt, als würden winzige Füßchen über die Schindeln huschen. Wahrscheinlich ist es ein Siebenschläfer oder ein kleiner Vogel.

Doch das Geknusper macht die Stille irgendwie noch deutlicher. Ich liege im Bett und denke: Heute kommen sie! Juhu, Juppiduppidu! Und mein Herz hüpft wie ein Springfrosch im Frühling.

Jetzt halte ich es im Bett nicht mehr aus. Ich schleudere die Decke zurück. Milly, eine von unseren zwei Katzen, streckt die Pfötchen in die Luft und gähnt. Sie liegt neben mir und hätte gern noch ihre Ruhe.

„Sorry, Millymaus“, sage ich. „Ich kann nicht mehr schlafen.“

Auf Zehenspitzen schleiche ich die Treppe hinunter. Die Stellen, wo die Stufen knarren, vermeide ich. Wieder einmal kommt mir unser altes Schwarzwaldhaus wie eine warme, dunkle Bärenfellmütze vor, unter der wir gemütlich und geborgen leben. Vor allem im Winter, wenn es draußen kalt ist, wenn der Sturm ums Haus heult und der Schnee sich bis zu den Fensterbrettern auftürmt.

Natürlich schlafen sie noch alle. Ich bin meistens die erste, die aufsteht. Emma, meine achtjährige Schwester, liegt immer am längsten in den Federn. An manchen Tagen muß sie förmlich aus dem Bett gezerrt werden, damit sie den Schulbus rechtzeitig erwischt.

Dani ist auch nicht gerade ein Frühaufsteher. Dani ist der älteste von uns drei Geschwistern; er ist vierzehn. Obwohl er fast zwei Jahre älter ist als ich, kommt es mir vor, als wären wir Zwillinge. Das hat wohl damit zu tun, dass wir uns so oft ohne Worte verstehen. Wir stellen auch immer wieder fest, dass wir das Gleiche denken. Es kann vorkommen, dass ich den Mund aufmache, um etwas zu sagen, und noch ehe es heraus ist, hat Dani es schon ausgesprochen. Oder umgekehrt.

Ich bin echt froh, dass es Dani gibt. Ohne ihn wäre das Leben nur halb so schön. Dass wir uns auch ab und zu mal fetzen, ändert daran überhaupt nichts.

So leise ich kann, öffne ich die Haustür. Sie ist sehr alt und ächzt immer ein bisschen. Barfuß gehe ich über den Kies und dann durch das Gras des Obstgartens. Es ist feucht vom Tau und fühlt sich so weich an wie Millys Fell.

Obwohl es schon hell ist, steht der Mond noch über dem Bärentalwald. Amseln, Drosseln und Stare staksen durch die Wiesen und suchen nach Futter für ihre Jungen. Es riecht nach Bohnenkraut und Schnittlauch aus dem Gemüsegarten und nach den aprikosenfarbenen Rosen, die an der Hauswand blühen.

Das neue Dach des Wagenschuppens, aus dem bald ein Stall werden soll, glänzt im Morgenlicht. Eigentlich ist es schade, morgens lange im Bett zu liegen, denke ich. Man versäumt so viel, weil es dann besonders schön draußen ist. Alles strahlt und funkelt irgendwie, als würde man die Welt durch einen Bergkristall betrachten.

Mir fällt ein, dass Lady in drei Tagen von der Tierklinik nach Hause kommt. Und dass bald Sommerferien sind. Und dass schon heute Abend zwei Ponys auf unserer Koppel grasen werden.

Da funkelt es um mich herum noch heftiger. Unsere Wiesen mit den Blumen, die Obstbäume, die Stare mit ihren schillernden Federn, der Wald und der helle Morgenhimmel, das alles kommt mir vor wie Aladins Höhle, in der es vor kostbarem Geschmeide nur so glänzt und glitzert. Ich fange an zu laufen. Irgendwie muss ich mich jetzt ganz schnell bewegen, damit ich nicht platze. Ich düse über die Wiese, rudere mit den Armen und singe irgendetwas; es ist keine bestimmte Melodie. Dann werfe ich mich ins Gras und presse das Gesicht in die Halme und Kräuter.

Das Gras ist feucht und die Erde kühl und alles riecht total gut. Ich schließe die Augen. Die Vögel singen wie verrückt. Ich breite die Arme aus. Es fühlt sich an, als wäre die Erde ein Bauch, der atmet und mich hält und trägt, und unter seiner Haut raschelt und nagt und wispert es von all den kleinen Tieren, die da in ihren verborgenen Gängen und Höhlen hausen.

Ich bin so froh, dass ich lebe. Mann, bin ich froh, dass ich lebe!

Nur mal ausnahmsweise

Die Mittagszeit ist vorbei.

Emmas Gesicht taucht zwischen den Jasminsträuchern auf.

„Sie kommen!“ schreit sie. „Ich hab sie gesehen! Gleich sind sie da!“

„Wird aber auch Zeit“, brummt Dani. „Du nervst einen total mit deiner Hopserei und dem Geschnatter.“

„Sie wollten um zwei kommen. Und jetzt ist es schon zehn nach“, sagt Emma, als würde das erklären, warum sie schon seit einer Stunde wie ein angestochener Floh herumspringt.

„Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“ krächzt Kukirol, unser Papagei. Er sitzt auf dem Fensterbrett und trippelt von einem Bein aufs andere. Emma hat ihn mit ihrer Aufregung angesteckt. Ich bin heute auch nicht gerade die Ruhe in Person.

Von der Remise hört man Hämmern und das durchdringende Geräusch eines Bohrers. „Sssiii-ssiii-rrumm, rrumm“, macht es. Jetzt mischt sich das Getrappel von Pferdehufen in den Lärm, leicht und melodisch. In meinen Ohren klingt es wie Musik, nur schöner.

Wir stehen auf der kiesbestreuten Zufahrt: Dani, Emma und ich; ich heiße Nelly. Unser Schäferhund August ist auch dabei. Ich halte ihn am Halsband fest. Schon sehe ich das größere der beiden Ponys auftauchen, die Norwegerstute Sammeli mit Jenny auf dem Rücken. Dann folgt Franzi, das Shetlandpony. Franzi ist fast so klein wie Jonas, der ihn reitet.

Meine Augen suchen Mick. Er kommt mit dem Rad hinterhergefahren. Nur Frau Pflaumer ist nicht dabei, die Mutter von Mick, Jenny und Jonas.

August wedelt mit dem Schwanz. Ich lasse ihn los. Er macht einen Bogen um die Ponys, die ihm wohl noch ein bisschen unheimlich sind, und begrüßt Mick. Mick hat einen Draht zu Hunden, das merkt man gleich. Und natürlich zu Pferden.

Kukirol flattert in die Küche. Pferde mag er nicht. Wahrscheinlich ist es ihr Geruch, der ihm gefährlich vorkommt. Das Fell der Ponys glänzt. Sammeli ist sandfarben, mit semmelblonder Mähne. Franzi ist braun, mit einem kräftigen Kopf und einer kleinen Blesse. Sie sehen wohlgenährt und gepflegt aus.

Sacht streiche ich mit der Hand über Sammelis runden Bauch und denke an das Fohlen, das sie im Herbst zur Welt bringen soll. Sie hat so eine weiche Nase, fast so samtweich wie Lady, und eine strubbelige, rauhe Mähne.

Sammeli schnuppert an meiner linken Jeanstasche, in der Haferkekse stecken. Ich gebe ihr zwei davon. Gleich drängt sich auch Franzi vor, schiebt sein Maul mit den silbrigen Tasthaaren neben das von Sammeli und bekommt die restlichen beiden Plätzchen.

Emma hat natürlich Zuckerstücke dabei, obwohl Großvater immer sagt, dass Zucker nicht gut für Pferde ist.

„Du, das dürfen sie nicht haben!“ erklärt Jenny auch sofort, aber Sammeli hat den Zucker schon verschluckt. „Hast du nicht ein paar Karotten oder einen Apfel?“

„Ausnahmsweise“, sagt Emma und gibt Franzi blitzschnell das zweite Zuckerstück. „Bloß heute, nur mal ganz ausnahmsweise.“ Das ist typisch Emma. „Ausnahmsweise“ ist eines ihrer Lieblingsworte.

Wir sehen zu, wie Mick, Jenny und Jonas die Sattelgurte lösen und den Ponys die Sättel abnehmen. Man merkt den Sätteln an, dass sie schon älter sind, aber sie sind gepflegt und sauber. Wir legen sie auf die Hausbank.

„Ihr könnt sie vorerst im Fahrradschuppen unterbringen“, sagt Dani, „bis die Remise fertig ausgebaut ist.“

„Großvater lässt beim Umbau auch einen kleinen Raum als Sattelkammer abteilen“, füge ich hinzu. „Dann haben wir Platz für Pferdedecken und Putzzeug und alles, was wir so brauchen.“

August läuft hinter uns drein, als wir die Ponys auf die Weide bringen. Das Gras ist hoch und dicht; die Stellen, die Lady abgeweidet hat, sind schon kaum mehr zu sehen. Um diese Jahreszeit wächst das Gras wie verrückt, man kann fast beim Sprießen Zusehen.

Sammeli und Franzi bleiben ein paar Minuten lang dort stehen, wo wir sie hingebracht haben. Dann düsen sie plötzlich los. Zuerst Franzi. Er rast über die Wiese, kreuz und quer, macht komische Bocksprünge, wirft den Kopf hoch und buckelt und springt mit allen vier Hufen gleichzeitig in die Luft.

Sammeli folgt ihm etwas langsamer. Dann kommt auch sie richtig in Fahrt: Sie flitzt zwischen den Obstbäumen durch, dass Grasbüschel um ihre Ohren fliegen, mit hoch erhobenem Schweif. Wir sehen zu und lachen und lachen.