Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Das Haus der Stimmen

SAGA Egmont




1

Der Brief kam an einem Freitag. Die krakelige Schrift auf dem Kuvert sah nach einer sehr alten Hand aus – nach jemandem mit schlechten Augen und zittrigen Fingern.

Absender und Poststempel versetzten meine Mutter in flatternde Aufregung. „Ach du lieber Himmel!”, sagte sie. „Bestimmt ist mit Tante Jule etwas nicht in Ordnung. Ich hab seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihr gehört. Hoffentlich ist nichts passiert! Sie ist immerhin fast achtzig … “

Der Brief war an Familie Trotta adressiert. Eigentlich waren wir längst keine Familie mehr. Mein Vater lebte jetzt in der Schweiz, meine Schwester hatte vor einem Jahr die heimatliche Höhle verlassen und studierte in Heidelberg. Übrig waren nur noch Mama und ich.

Ich sah meiner Mutter über die Schulter, während sie las. Der Brief, auf liniertem Papier geschrieben, war in recht witzigem Deutsch abgefasst. Werthe Familie Trotta!, stand da. Förmudlich wird es Sie wunderlich erscheinen, dies Schreiben von unbekanntem Sender zu erhalten. Doch ich denke Ihr müsst wissen wie der Sachen steht mit Julen Timmerman …

So ging es drei Seiten lang weiter. Es war nicht immer leicht zu verstehen, aber am Ende begriffen wir doch, was die Absenderin uns mitteilen wollte.

„Ich hab’s geahnt!”, sagte meine Mutter und steckte den Brief geistesabwesend ins Kuvert zurück. „Gestern oder vorgestern hab ich noch geträumt, dass sie einen Schlaganfall hatte und allein in ihrem Haus lag.”

„Sie scheint aber noch ganz fit zu sein, jedenfalls körperlich.”

„Schon, aber das tröstet mich wenig. Nach allem, was ihre Nachbarin schreibt, leidet Tante Jule vermutlich an Arterienverkalkung oder Alzheimer.” Mama seufzte. „Sie müsste wohl in ein Seniorenheim, aber damit wird sie sicher nicht einverstanden sein.”

„Vielleicht lässt sich jemand finden, der sich um sie kümmert.”

„Hast du eine Ahnung, was so eine Pflege kostet? Um das auf die Dauer zu finanzieren, müsste sie ihr ganzes Anwesen verkaufen.” Sie warf mir einen ratlosen Blick zu. „Was machen wir nur, Sofie? Wir können sie nicht einfach sich selbst überlassen. Ihre Nachbarin schreibt, dass sie vergisst, Herdplatten auszuschalten, dass sie nachts Kerzen brennen lässt und im Unterrock durch die Gegend irrt.”

„Wir müssen hinfahren”, erwiderte ich. „Das ist mal der erste Schritt.”

Irgendwie hatte ich im Laufe der letzten Jahre fast unmerklich die Rolle der vernünftigen Tochter übernommen, während sich meine Mutter in schwierigen Situationen in hilflose Unselbstständigkeit flüchtete; dann war es meist so, als wäre sie die Jüngere von uns beiden.

„Ich habe nur noch sechs Tage Urlaub.”

„In einer Woche kann man viel erledigen”, sagte ich. „Wir nehmen mein Auto.” Mein Vater hatte mir zur bestandenen Fahrprüfung einen gebrauchten Wagen geschenkt, der schon ziemlich alt war.

„Aber du hast doch noch kaum Fahrpraxis! Und es ist eine riesige Strecke. Von hier bis Hamburg sind es neunhundert Kilometer; und dann müssen wir noch über die dänische Grenze und bei Sønderborg auf die Fähre.” Sie sah auf den Briefumschlag nieder, als wäre er eine Zeitbombe, die jeden Augenblick losgehen konnte.

„Wenn ich die Strecke gefahren bin, habe ich Fahrpraxis”, sagte ich. „Außerdem können wir uns abwechseln.”

„Können wir nicht. Du weißt genau, dass ich nur Automatik fahre; und es ist Jahre her, seit ich zum letzten Mal hinterm Steuer gesessen habe.”

Wie immer war alles ungeheuer kompliziert.

„Kannst du denn überhaupt hier weg?”, fragte sie. „Musst du nicht abwarten, bis sich das mit deiner Praktikumsstelle entscheidet?”

Ich schüttelte den Kopf. „Ich sitze seit drei Monaten nur herum und warte, was die ausbrüten. Natürlich brauchen sie in den Behinderten-Wohngemeinschaften dringend Hilfe, aber die Gelder werden ja ständig gekürzt. Das kann noch ewig dauern, bis sie entschieden haben, ob sie mich einstellen oder nicht. Vielleicht klappt es im Herbst ja schon mit dem Studienplatz für Behindertenpädagogik.”

„Am besten sagst du Bescheid, wo du zu erreichen bist, falls sich etwas tut.” Mama begann in ihrer Handtasche zu wühlen. „Wo hab ich nur mein Adressbuch mit den Telefonnummern? Oder meinst du, es hat keinen Sinn, Tante Jule anzurufen, wenn sie so verwirrt ist?”

„Ich glaube nicht, dass es allzu viel bringt. Aber versuchen kannst du’s ja mal.”

Sie gab die Idee, in Dänemark anzurufen, vorerst auf und wählte die Nummer einer Kollegin, um mit ihr wegen der Urlaubsvertretung zu verhandeln. Ich ging in den Abstellraum, überlegte, ob ich einen Koffer oder die Reisetasche mitnehmen sollte, und entschied mich für die Reisetasche.

Viel würde ich nicht brauchen, dachte ich; ein paar Klamotten, ein Buch, den Walkman, ein paar Kassetten. Den Regenumhang konnte ich auf den Rücksitz des Wagens legen.

Ich ahnte nicht, wie lange ich bleiben würde.

2

Die Fahrt war wie eine zweite, ins Endlose verlängerte Fahrprüfung; nur dass statt des Fahrlehrers und eines Prüfers meine Mutter mit schreckgeweiteten Augen neben mir saß. Bei jedem Überholmanöver klammerte sie sich am Griff der Beifahrertür fest, wobei sie die Luft hörbar einsog.

Wir übernachteten in einer Pension, in der das Bettzeug nach Rauch und Fußschweiß roch. Im Schlaf fuhr ich weiter, über Pisten, die durch eine Wüstenlandschaft ins Unendliche führten. Früh am Morgen weckte mich das Rauschen der nahen Autobahn. Ich fühlte mich wie gerädert.

„Noch einmal vierhundert Kilometer, fast so weit wie gestern!”, seufzte meine Mutter. „Und die ganze Strecke in acht Tagen wieder zurück.”

Der krönende Abschluss dieser Gewalttour war die Überfahrt mit dem Fährschiff oder vielmehr der Auftakt dazu. In einer Schlange von Fahrzeugen musste ich den Wagen über die Laderampe steuern und fast millimetergenau zwischen der Wand des Schiffsleibs und einem grünen Volvo einparken.

Meine Mutter stieß spitze Schreie aus. „Vorsicht! Nicht so nahe! Nein, um Himmels willen, pass auf den Außenspiegel auf!” Zwischen den Lastautos und Personenwagen stand ein Matrose gelassen wie ein Fels in der Brandung und wies mich mit winkenden Bewegungen und freundlichem Lächeln ein.

Schweißgebadet schleppte ich mich an Deck und ließ mir den Seewind um die Nase wehen. Schon verschwand die Küste hinter rauchfarbenen Dunstschwaden. Das Meer war schiefergrau unter den tief hängenden Wolken.

Meine Mutter kam mit einem Becher Kaffee. „Hier, trink das!”, sagte sie. „Das war ziemlich stressig für eine Anfängerin.”

„Ja; besonders, wenn einem jemand ständig wie verrückt ins Ohr kreischt. Das baut unheimlich auf.”

Je weiter wir aufs offene Meer kamen, desto rauer wurde der Wind. Wir setzten uns in den verräucherten Aufenthaltsraum, in dem es Bier, Zigaretten, Erbsensuppe und Kaffee zu kaufen gab. Neben ein paar deutschen Touristen waren vor allem Dänen an Bord. Der Klang ihrer Sprache weckte Erinnerungen in mir.

Wir waren vor dreizehn Jahren schon einmal in den Sommerferien auf der Füneninsel gewesen, um Tante Jule zu besuchen, damals noch vollzählig – meine Eltern, Sylvie, meine Schwester, und ich, gerade sechs Jahre alt.

„Was für eine schreckliche Sprache!”, sagte Mama, den Blick auf die schiefergraue Wasserfläche hinter den staubigen Scheiben gerichtet. „Sie rollen die Worte, als hätten sie heiße Kartoffeln im Mund.”

Ich sah Tante Jule vor mir, klein, zierlich und ständig in Bewegung, mit verblassenden blonden Haaren und flinken dunklen Augen. Und ihre Freundin Jette, untersetzt und ein wenig vierschrötig, wie Vater das nannte. Ich erinnerte mich an ihre tiefe, volltönende Stimme und die hellen Augen. Jette hatte Pfeife geraucht – Pfeife! Für uns Kinder war das ein Quell ständiger Verwunderung gewesen, es hatte uns fasziniert. Inzwischen wusste ich, dass das Rauchen von Pfeife oder Zigarillos bei dänischen Frauen eine lange Tradition hat und nicht weiter ungewöhnlich ist.

Ich dachte an die Blicke, die meine Eltern getauscht hatten, wenn Tante Jule und ihre Freundin Jette Hand in Hand vom Strand kamen, wenn sie abends gemeinsam in der Schlafstube verschwanden, die über dem Wohnzimmer lag, oder sich spontan umarmten und küssten, wenn sie etwas besonders stark bewegte.

Sonderbar hatte ich nur die Reaktion meiner Eltern gefunden, denn ich begriff mit der Einfühlungsgabe eines Kindes, dass da etwas anders war, als es ihrer Meinung nach sein sollte.

„Seit wann lebt Tante Jule allein?”, fragte ich.

Mama überlegte. „Wart mal, wie lange ist es her, seit Jette gestorben ist? Zwei Jahre, würde ich sagen.”

„Und ihr Mann? Tante Jule war doch mal verheiratet, nicht? Lebt er noch auf der Insel?”

„Wohl kaum. Die beiden hatten nach der Scheidung keinen Kontakt mehr, er war furchtbar gekränkt und böse, weil sie ihn verlassen hatte, noch dazu … “ Sie verstummte.

„Noch dazu wegen einer Frau”, vervollständigte ich. „Du kannst es ruhig aussprechen, was ist schon dabei? Sie waren glücklich miteinander. Das ist alles, was zählt.”

3

Vielleicht entwickelt man den Sinn für das Schöne ja erst mit dem Erwachsenwerden. Ich hatte die Insel nicht als einen besonders reizvollen Ort in Erinnerung. Das, was mich beeindruckte, war das Meer gewesen, die Spiele am Strand, ein Mädchen in meinem Alter, mit dem ich viel Zeit verbrachte; die Früchte der wilden Mirabellenbäumchen in den Hecken und der Geschmack von Tante Jules Kranzkuchen.

Jetzt war ich alt genug, um die Schönheit dieser kleinen fünenschen Insel wahrzunehmen. Wir fuhren auf einer schmalen Landstraße zwischen Weizenfeldern und der Küste, mit Blick auf sanft geschwungene Buchten und zerklüftete Steilhänge, vorbei an Bilderbuchhäusern aus Fachwerk, deren dicke Reetdächer wie die Bärenfellmützen der englischen Palastwache aussahen. Heckenrosen blühten am Straßenrand. Unterwegs kam zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne zwischen Wolkengebirgen hervor.

Ich kurbelte mein Fenster herunter. Es roch nach Weizenfeldern, nach Meer und Wind; und ein unsagbarer Frieden erfüllte die prickelnde Luft, so, als wären wir an einen Ort gekommen, den mehr als nur ein paar Seemeilen vom Rest der Welt trennten – eine Welt, in der alles seinen eigenen Rhythmus hatte und seinen ureigensten Gesetzen folgte.

„Schau, da ist ein Schild!”, sagte meine Mutter. „Røndal – das war doch die Ortschaft, in der wir links abbiegen sollten, nicht? Jedenfalls hab ich den Mann am Hafen so verstanden. Er sprach ja ein derartiges Kauderwelsch … “

Es war keine Ortschaft, nur eine Ansammlung von sieben oder acht Häusern und Höfen, die inmitten blühender Gärten die Straße säumten, und einige hatten Namen. Eines davon, ein Backsteinhaus mit Vortreppe und hohen Fenstern, hieß Peders Minde.

„Jules und Jettes altes Häuschen war in der Nähe des Fährhafens; das hätte ich vielleicht wieder gefunden”, sagte Mama. „Jetzt nach links! Ja, das müsste stimmen, wir sollten an den Windmühlen vorbei, hat er gesagt, und da sind sie.”

Ein halbes Dutzend Pferde grasten auf den Klippen. Ihre Mähnen und Schweife wehten im Wind. Ein Brauner hob den Kopf und sah zu uns herüber, als wir vorüberfuhren.

Mein Herz schlug rascher. Und plötzlich, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, war alles verändert. Unversehens war diese Reise nicht länger eine Pflichtübung, etwas, das erledigt und möglichst rasch abgehakt werden musste, sondern ein Geschenk des Schicksals, ein unverhofftes Stück Freiheit und Abenteuer.

Die Landstraße führte in Schlangenlinien immer dichter an der Küste entlang, sodass ich von meinem Platz hinter dem Steuer tief unter mir das Meer glitzern sah, mit Segelschiffen und dem Fährboot, das inzwischen wieder abgelegt hatte und zum Festland zurückkehrte. Es war kaum Verkehr auf der Straße; nur ein Lieferwagen begegnete uns, ein Traktor und eine Gruppe Radfahrer.

„Dein Vater hat immer gesagt, diese Insel ist eine Welt für sich. Er hatte sogar mal die Idee, wir könnten uns hier eine von den kleinen alten Fischerkaten kaufen und als Ferienhaus nutzen. Leider ist daraus nichts geworden.”

Mein Vater war ein Meister im Pläneschmieden. „War da nicht eben ein Schild?”, fragte ich. „Hast du gelesen, was darauf stand?”

Meine Mutter, offenbar in trübe Erinnerungen versunken, schüttelte den Kopf.

Ich legte den Rückwärtsgang ein. Dunkær, stand auf dem Schild. „Dann müssen wir jetzt geradeaus weiter.”

„Nein”, behauptete Mama. „Wieder nach links!”

Später fanden wir heraus, dass beide Wege nach Dunkær führten, auch wenn einer davon ein Umweg war. Wir fuhren den Umweg, der an drei seltsamen Gebilden aus Steinblöcken und einer Kuhweide vorbei im Zickzackkurs der Küstenlinie folgte; und auf dem höchsten Punkt, auf einer Art Plattform über dem Meer, umgeben von Bäumen, die unter dem ständigen Anprall des Windes in Schräglage gewachsen waren, standen zwei Häuser.

Das erste Haus war fast an den Straßenrand gebaut. Es war sehr klein, mit struppigem Strohdach und winzigen, gewölbten Fensterscheiben, in denen sich das Licht brach. Das zweite Haus, auf dem höchsten Punkt der Klippen errichtet, war von mächtigen Rotbuchen umgeben. Das ockerfarbene Dach leuchtete aus den Baumwipfeln.

Es stand am Ende einer Lindenallee, ein großes Haus, nicht mehr als zwei Stockwerke hoch, aber breit angelegt, mit einem Quergiebel in der Mitte und zwei Seitenflügeln. Der mittlere Teil des Hauses mit der Vortreppe und dem Eingang war ein Stück vorgesetzt. Über der Treppe befand sich ein halbmondförmiges Fenster.

„Das muss es sein!”, sagte meine Mutter und deutete auf das putzige kleine Haus am Straßenrand. „Obwohl mich das wundert. Jule hat immer geschrieben, sie wären in ein großes Haus gezogen, mit einem riesigen Grundstück und eigenem Strand. Es heißt Runestengaard.”

Ich fuhr an den Straßenrand. Als wir ausstiegen, öffnete sich ein Fenster des Knusperhäuschens. Eine Frau mit grauem Haar und dicker Brille streckte den Kopf heraus wie die Hexe bei Hänsel und Gretel. Es fehlte nur noch die Katze auf ihrer Schulter. Sie hätte nicht besser in dieses Haus passen können. Trotzdem war sie nicht Tante Jule.

Es dauerte eine Weile, bis wir uns verständigten und herausfanden, dass die grauhaarige Dame Frau Andersen war, die Absenderin des Briefes, der uns zu dieser Reise veranlasst hatte.

Hocherfreut kam sie an die Gartenpforte, um uns in altmodischem, gebrochenem Deutsch von dem verwirrten Geisteszustand Tante Jules zu erzählen, davon, dass sie angeblich Gespenster sah und Stimmen hörte und nachts ums Haus wanderte, nur mit einem Nachthemd bekleidet.

„Wie lange geht das schon so?”, fragte meine Mutter.

„Ein paar Monater. Mag sein, schon länger. Wir haben nicht so vielen Kontakt, wissen Sie. Julen Timmerman lebt sehr hintergezogen.”

Sie lebte oben in dem großen Haus unter den Rotbuchen. Wir bedankten uns bei Frau Andersen, stiegen wieder in den Wagen und fuhren zwischen vom Wind gekrümmten Linden bis zur Vortreppe, die mit altem Laub und Zweigen bedeckt war.

Es war genug Platz für ein halbes Dutzend Autos zu beiden Seiten der Treppe, die eine verwitterte Eleganz ausstrahlte. Steinsäulen mit Blumenschalen, in denen Moos wuchs, flankierten die unterste Stufe. Über der Eingangstür hing an einer rostigen Stange eine zerrissene Fahne, die leicht im Wind wehte.

Es gab eine Klingel, aber sie schien nicht zu funktionieren, denn nichts rührte sich, so fest und lange wir auch darauf drückten. Meine Mutter versuchte es mit der Klinke. Die Tür war verschlossen.

„Lass uns mal hinters Haus gehen”, sagte ich.

Als wir um die Hausecke bogen, begegnete uns ein Huhn. Es kam zwischen alten Gartenmöbeln daher spaziert, einer Badewanne voller Wasser und einem Schrotthaufen, bestehend aus einem Rasenmäher, einem eisernen Ofen ohne Türen und jeder Menge verrostetem Kram. Es betrachtete uns gelassen, dann begann es dicht vor unseren Füßen im Laub zu scharren.

„Heiliger Himmel, das ist ja die reinste Altwarenhandlung!”, murmelte meine Mutter.

Der Garten hinterm Haus war eine Wildnis von Brombeersträuchern und Brennnesselfeldern, zwischen denen sich ein paar Rosenstöcke und Taglilien behauptet hatten. Und unter einem Baum, in dem eine zerschlissene Hängematte baumelte, stand ein feuerrotes Pferd mit hängendem Kopf und döste.

Mama sah mich an. „Das darf doch nicht wahr sein! Sie hat ein Pferd! “

„Sie und Jette hatten doch immer jede Menge Tiere, erinnerst du dich nicht?”

Als der Fuchs unsere Stimmen hörte, wurde er munter, hob den Kopf und kam eifrig auf uns zu. Sicher hoffte er auf einen Leckerbissen. Meine Mutter wich ein paar Schritte zurück, doch ich sah es ihm an den Augen an, wie gutmütig er war. Ich streichelte seine Stirn und seinen Hals, und er prustete leise und freundlich, senkte dann die Nase und schnupperte an den Taschen meines Anoraks.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich dir was mitgebracht”, sagte ich. „Bist du ganz allein? Wo ist Jule?”

Mama deutete zum Haus.

Jetzt sah ich, dass ein Flügel der breiten Terrassentür offen stand; ein Vorhang flappte nach draußen.

Wir gingen auf die Terrasse, gefolgt von dem Rotfuchs, der offenbar für jede Abwechslung dankbar war. Auf dem Pflaster standen mehrere Eimer voll mit einer gelblichen Masse, ein Topf mit festgetrockneter Farbe, jede Menge Stühle, ein Korbsessel, dessen Sitzfläche durchgebrochen war, ein umgekipptes Regal, über dem nasse Kleidungsstücke hingen, ein riesiger alter Koffer, beklebt mit bunten Etiketten, und ein aufgeplatztes Sofa, aus dem Rosshaar hervorquoll.

„Heiliger Himmel!”, sagte meine Mutter wieder.

Ich musste lachen. „Nicht jeder kann so ordentlich sein wie du, Mama.”

„Ordentlich? Das ist doch die reinste Müllhalde! Ich möchte nicht wissen, wie es drinnen aussieht.”

Sie schob den Vorhang beiseite und streckte den Kopf durch die Tür. „Jule!”, rief sie. „Tante Jule! Bist du da? Ich bin’s, Edith aus Deutschland! Können wir reinkommen?”

Als keine Antwort kam, betraten wir das Haus. Das Wohnzimmer sah besser aus als die Terrasse, aber es muffelte schrecklich. Während wir dastanden und nicht recht wussten, was wir tun sollten, raschelte es irgendwo zwischen den ausladenden Sesseln mit den fleckigen Samtbezügen.

Mama fasste mich am Arm; da kam eine rote Katze unter dem Tisch hervor, sah uns wie ein verwunschener Prinz aus unergründlichen Augen an, schnurrte und rieb sich am Sesselbein. Eine zweite Katze, schwarz, mit weißem Brustfleck und weißen Pfoten, robbte unter dem Sofa hervor.

Mama stieß ein Geräusch aus, das wie ein Stöhnen klang. „Wer soll sich um all die Tiere kümmern? Das wird ja immer schlimmer! Ich weiß wirklich nicht … “

Ich kniete mich hin, um die Katzen zu locken. Dabei fiel mein Blick auf die Wohnzimmertür. Sie war bei unserem Eintritt geschlossen oder zumindest angelehnt gewesen, jetzt aber stand sie offen. Ich sah eine kleine, dünne Gestalt im Dämmerlicht auf der Schwelle stehen, die sich sehr aufrecht hielt und uns mit ihren Vogelaugen beobachtete.

Vermutlich hatte sie Mamas Bemerkung mitangehört, sonst hätte sie uns wohl kaum auf Deutsch angesprochen. „Was suchen Sie hier?”, fragte sie.

Meine Mutter zuckte heftig zusammen.

Die rote Katze kam und rieb ihren Kopf an meinem Knie, als wären wir alte Freunde.

Mama brach in einen Wortschwall aus. „Tante Jule, entschuldige … Ich bin’s doch, Edith! Und das ist Sofie – erkennst du sie wieder? Sie war ja noch ein Kind, als wir letztes Mal hier waren! Tut mir Leid, dass wir uns nicht angemeldet haben, es kam alles so plötzlich … Hoffentlich kommen wir nicht ungelegen?” Dann ging ihr die Luft aus.

„Ach, ja?”, sagte die alte Dame. „Da kann ja jeder kommen! Können Sie sich ausweisen?”

Ich bemerkte das Funkeln in ihren Augen, während meine Mutter immer nervöser wurde. „Natürlich … meine Handtasche ist draußen im Wagen. Aber erkennst du mich nicht, Tante Jule?”