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Ludger Eversmann
Die Große Digitalmaschinerie

Ludger Eversmann

Die Große Digitalmaschinerie

Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus
mit den Mitteln der Computerwissenschaften

Tectum Verlag

Ludger Eversmann

Die Große Digitalmaschinerie

Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus

mit den Mitteln der Computerwissenschaften

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018

ePub: 978-3-8288-6757-4

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4038-6 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes # 93450080
von Paul Sakuma, picture alliance / AP

 

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www.tectum-verlag.de

 

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

„Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird.“

Karl Marx

„Wir müssen die Eigentumsfrage stellen. Denn die Automatisierung ist nur dann ein Horrorszenario, wenn man innerhalb der kapitalistischen Logik denkt. Sie könnte ein Paradies sein, wenn die Maschinen allen gehörten.“

Patrick Spät

 

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Amazon’s Textilfabrik

INHALT

Vorwort

Einleitung

Ein Kantischer Wertehorizont

Normative Implikationen des Menschenbildes

Das Kantische und das Aristotelische Gute

Menschenwürde, Freiheit und Notwendigkeit

Vernunft und Autonomie

Rationalität

Kultur

Wissenschaftstheorie

Ästhetik

Grundlegende Begriffe und Annahmen

Poietische und Praktische Handlungen

Dispositive und exekutive (funktionale) Handlungen

Automatisierbare und nichtautomatisierbare (Arbeits-)Handlungen

Wertschöpfung und Werteverzehr

Zielsetzungsautorität

Grenzen der Automatisierbarkeit

Endliche und nichtendliche Bedürfnisse

Rationale Bedürfnisse

Objektive (nichtteilbare) und subjektive (teilbare) Werte

Vermehrbare und nichtvermehrbare Güter

Automatisierbare Ökonomie

Ziele der Ökonomie

Marktökonomie und Automation

Sicherung der Funktionsfähigkeit

Nichtautomatisierbare Ökonomie

Transformation

Kapitalismus: Blüte, Degeneration und Götterdämmerung

Krisentheorien

Die Krise der Realwirtschaft

Das Goldene Zeitalter

Die Krise der Eurozone

Kondratieff, Rostow, Toffler

Die Bankenkrise

Die Krise der öffentlichen Haushalte

Die Krise der Institutionen und der öffentlichen Meinung

Neoliberalismus

Die Krise der Intellektuellen – Kritik ohne Lösungen

Neue politische Ökonomie mit „Commons“ und „Open Source Ecology“?

Im Maschinenraum: Die Emergenz produktiver Universalität

Digitale Fabrikation

Lehren aus dem Maschinenfragment

Make or buy or buy the maker

Evolution der Produktionssysteme im Wandel des Marktumfeldes

Automobilproduktion gestern, heute und morgen

Chancen für Start-Ups und Unternehmensgründer?

Self Sufficient Cities? Smart Cities?

Ausblick: Keine Plünderung der Erde!

Weltfabrik und Weltzivilisation

Perspektiven des tertiären Sektors

Arbeitsmittel und ihre ökonomischen Epochen

Epilog

Literatur und Links

Abbildungen

VORWORT

Lebt die Welt schon bald im „Maschinopozän“? Der israelische Historiker Yuval Noah Harari findet mit dieser Deutung seiner „kurzen Geschichte von Morgen“ große publizistische Aufmerksamkeit. Die sinnstiftende Erzählung der „Digitalmoderne“ ist der „Dataismus“: Datenfluten und die sie auswertenden Algorithmen beherrschen die Menschenwelt, und geben ihr einen Sinn, den die Menschen nicht verstehen müssen.

Auf der CeBIT des Jahres 2017 präsentierte der japanische Premierminister Shinzo Abe den Entwurf seines Landes für das „fünfte Zeitalter der Menschheitsgeschichte“, die „Gesellschaft 5.0“. Darunter versteht man in Japan die „Integration von Sensoren, Robotern, Big Data und Cloud Computing in die Gesellschaft, um die Lebensqualität zu verbessern und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln“.1

Wachstum ankurbeln – das klingt vertraut. So wenig man auch weiß über das „fünfte Zeitalter der Menschheitsgeschichte“, die „Gesellschaft 5.0“ oder die „kurze Geschichte von morgen“, so doch scheinbar dies: ein Wirtschaftswachstum wird schon dazugehören. Warum – vielleicht, weil Daten für die Tech-Konzerne dann zu Geld werden können. Aber entsteht so Lebensqualität? Yuval Noah Harari schreibt dazu in seinem Buch „Homo Deus“, die Algorithmisierung der Gesellschaft erodiere die Autonomie des Einzelnen; der Mensch werde so entmündigt.

Das „Smart Home“ wird zu einer Fabrikhalle, in der Daten produziert werden, schreibt der junge Journalist Adrian Lobe in der ZEIT. Und noch die Kapitalismuskritik selber, der politische Diskurs, diffundiere auf Facebook oder Google zu „Treibstoff für die riesige Datenmaschinerie“ – weil „die Tech-Konzerne damit nur ein paar Werbedollar mehr verdienen. Es ist diese Kapitalisierung des Diskurses, die jeden Protest in den Serverfarmen diffundieren lässt.“

Es wäre zu wünschen, dass die Politik diesen Techno-Utopien eine Erzählung entgegensetzt, sagt Lobe, eine positive Erzählung, „die nicht nur die Gefahren der Automatisierung beschwört, sondern auch das Menschsein in einer maschinellen Weltfabrik betont.“2

Betonung des Menschseins? Wenn damit gemeint ist, die Autonomie und die Würde des Menschen zu betonen und anzuerkennen, sollte es durchaus möglich sein, eine „maschinelle Weltfabrik“ zu beschreiben, in der der Mensch ihr sinnstiftender Mittelpunkt ist, auch ihr Schöpfer; und ihr Nutznießer, der sie nutzen darf zu legitimen Zwecken. Dann geht es auch nicht mehr um ewiges Wachstum. Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck, und auch die Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern soll dem Menschen dienen. Letzter und einziger Zweck allen Wirtschaftens ist der Konsum, sagte Adam Smith, der zweckdienliche Gebrauch. Einen letzten Zweck in sich selber hat nur der durch seine unantastbare Würde ausgezeichnete Mensch.

Um die entstehende maschinelle Weltfabrik aber in diesem Sinne nutzbar zu machen, wird sie in einem entscheidenden Punkt anders sein müssen als alle bisherigen maschinellen Fabriken.

In aller uns bisher bekannten industrialisierten Ökonomie brachte die einzelne spezialisierte Fabrik das individuelle Wirtschaftsgut hervor, das dem Konsumenten den individuellen Nutzen stiftet. Viele spezialisierte private Fabriken im Wettbewerb brachten viele Wirtschaftsgüter hervor, in der Summe diese Marxsche „ungeheure Warensammlung“, die den Kapitalismus kennzeichnet, und der Gesellschaft den größtmöglichen Nutzen stiften soll. Allokiert wurden diese Güter über den Markt.

Vor unseren Augen entsteht aber nun eine universale digitalisierte Weltfabrik, und dies nicht etwa nur in dem allegorischen Sinne, den Journalisten oder Philosophen diesem Begriff gerne unterlegen. Ein Beispiel: Im April des Jahres 2017 gewann der Versandhändler Amazon, auf dem besten Wege zu einem weltweite Warenströme beherrschenden Monopolisten zu werden, ein Patent auf ein vollautomatisches Fabrikationssystem zur Herstellung von Bekleidung.3 Die Kunden wählen im Internet das Design ihres Wunschartikels, in diesem Fall das Bekleidungsstück, passen es ihren Wünschen und Bedürfnissen an, und geben seine Produktion in Auftrag. Die maschinelle Fabrik erstellt dann universal (fast) jedes beliebige Kleidungsstück.

So etwas ist sicher eine tolle Sache für die Kunden. Aber genau darum unterstützt es leider auch die Tendenz zur Bildung eines sogenannten natürlichen Monopols: der erste Anbieter, der ein solches weltumspannendes System installiert, ist von seiner Marktposition kaum noch zu verdrängen. Nicht nur, weil diese Möglichkeit in einer kapitalistischen Ökonomie trotzdem immer besteht, ist er mehr oder weniger gezwungen, Monopolpreise durchzusetzen, so weit und so lange es ihm möglich ist. Und das ist dann keine tolle Sache mehr für die Kunden.

Dieses Fabrikationssystem von Amazon ist nun nicht etwa ein Unikat, sondern, ganz im Gegenteil: es stellt gewissermaßen einen (bisherigen) Gipfelpunkt der Evolution von Fertigungssystemen dar, dem die gesamte industrielle Produktion bereits seit Jahrzehnten folgt. Das Prinzip heißt: Produktion on demand, hochflexibel und möglichst universal, dezentral und klein. Amazon ist nur der Trendsetter.

Darum sehen wir hier in nuce die Entwicklung vor einem kritischen Scheidepunkt: entweder die Öffentlichkeit, die Menschen als Verbraucher übernehmen Betrieb und Nutzung dieser maschinellen Produktionssysteme selber, vertreten durch demokratisch legitimierte Organe, oder – der Kapitalismus siegt sich vollends zu Tode.

~

Vor gut zwanzig Jahren wurde in Deutschland einmal eine Revolution ausgerufen. Die deutsche Wirtschaftsinformatik, eigentlich eher konservative Professoren, hatte die „Vollautomation des Unternehmens“ proklamiert. Auch die amerikanische ACM, die Assoziation for Computing Machinery, hatte sich forschend die Frage gestellt, was die Information Technology eigentlich treibt und will, und fand: sie will immer nur das gleiche – alles automatisieren, was irgendwie automatisiert werden kann.

Diesen Trend hatte schon Karl Marx erkannt, wie man sich heute auch etwa aus Anlass des 150. Jahrestages der Kapital-Veröffentlichung nur zu gut erinnert. In seinem „Maschinenfragment“ sah Marx dadurch die bürgerliche Gesellschaft eines Tages „in die Luft gesprengt“. Wie aber das nun genau vor sich gehen soll, konnte weder Marx genauer beschreiben, noch wäre dies bisher in den Debatten um das Ende des Kapitalismus deutlich geworden. Offensichtlich spielt die Automation eine zentrale Rolle, aber – man weiß nicht genau wie.4

Wie mir damals genauere Betrachtung zeigte, entfaltet sich der Begriff Automation in zwei Dimensionen: Produktivität und Universalität. Ich hatte als Kind der Utopie gläubigen 1968er Jahre irgendwie zur Informatik gefunden, und schrieb später meine Doktorarbeit über diese proklamierte Vollautomation des Unternehmens. Gedanklich weniger von Marx geleitet als etwa von Kant und der Vernunftphilosophie fand ich, dass ein vollautomatisiertes Unternehmen eigentlich kein Unternehmen mehr ist, sondern ein Automat. Da aber nun die Automaten der Informatik notwendigerweise universale Automaten sind – ohne die Universale Turing Maschine gäbe es keinen Computer, und keine Informatik –, kam ich zu dem Schluss, dass ein Automat, der einmal ein Unternehmen war, auch ein universaler Automat sein muss, in dem Fall also eine universale Fabrikationsmaschine, denn sonst könnte er – normativ beschrieben – das Unternehmen als Wohlstand erzeugende Instanz nicht ersetzen.

Meine Doktorarbeit wurde angenommen; allerdings gab es damit noch keine universale Fabrikationsmaschine. Aber wie gerufen betrat dann einige Jahre später Neil Gershenfeld die Bühne, Informatik-Professor am berühmten MIT5, der auch als Physiker auf dem Feld der Nanotechnologie mit Nano-Bots geforscht hatte, und erklärte die universale Fabrikationsmaschine zum nächsten großen Thema der Informatik, zum Next Big Thing. Seine neue Wissenschaft der Informatik nannte er Science of Digital Fabrication, ihr Forschungsgegenstand sei die Universal Desktop Fabrication oder der Personal Fabricator, und jeder macht sich damit selber anything, anytime, anywhere. Aus der Automatisierung wurde dadurch die Digitalisierung.

Die Idee der Universalen Digitalen Fabrikation war damit geboren. Aber sie muss nun noch recht verstanden werden, sowohl in ihrer Verursachung, als auch in ihren – positiven wie negativen – Potenzialen.6 Wie im Brennglas werden diese sichtbar in der vollautomatischen Textilproduktion des Versandhändlers Amazon: das System ist zwar (noch) spezialisiert auf die Produktion von Textilien, von diesen kann aber universal, also so gut wie jedes beliebige Teil auf Knopfdruck hergestellt werden; es werden nur die in digitaler Form abgelegten Produktmodelle benötigt. Und genau darum braucht es kein spezialisiertes Textil-Unternehmen mehr, um so ein System zu betreiben: jeder kann es betreiben, auch ein privater Versandhändler, oder eben, am besten, mit dem größten Wohlfahrtseffekt: die Verbraucher „selber“.

Digitalisierung ist nun irgendwie in, ohne dass man recht wüsste, warum. Wer von Digitalisierung spricht, auf vielerlei Konferenzen, meint damit etwas, das man nicht verpassen darf, sonst wird man abgehängt. Es müsse sich eben alles vernetzen, sagte Premierminister Abe auf der CeBIT. Auch wer sich nicht upgradet, wird abgehängt. Die Industrie soll die Vierte Industrielle Revolution nicht verpassen, und alle andern sollen Digitalunternehmer werden und Start-Ups gründen. Start-Ups gründen – die Gründung eines Start-Ups ist tatsächlich nicht automatisierbar, das Scheitern der großen Mehrheit aller Start-Up-Versuche ist allerdings so gut wie vor-programmiert.

Die Idee der Vollautomation indes taucht wieder auf bei jungen Revolutionären, die die verlorene Zukunft wieder entdecken wollen. „Künftig soll niemand mehr arbeiten müssen!“, schreiben sie sich auf die Fahnen. Und sie wissen möglicherweise nichts von dem Automationsplan der deutschen Wirtschaftsinformatik, von der Digitalen Fabrikation, oder von Marx‘ Maschinenfragment.

Ist das aber nun die Erzählung des „Maschinopozäns“? Vollautomation? Niemand soll mehr arbeiten?

Die Erzählung ist die, dass die ehemals private Maschinerie der „großen Industrie“ im Verlauf der Digitalisierung öffentlich und gesellschaftlich wird (genauer: werden muss). Sie muss dazu nicht per politischem Dekret erklärt werden, denn sie kann nur auf diese Weise ihren wohlstandserweiternden und ihrer Funktionsweise eingeschriebenen Zweck erfüllen. Genau diese weltweit vernetzte digitale Maschinerie hervorzubringen, war der Kapitalismus „transitorisch notwendig“. Wenn die Menschen, die Gesellschaften diesen Zusammenhang erkennen und die weltweite digitale Maschinerie dieser ihr ureigensten Bestimmung zuführen, dann kann es sein, dass die Weltfabrik zu einer großen automatischen Maschine für alle Menschen, und zur Grundlage einer verbesserten Chance für das bonum humanum geworden ist. Sie muss dann tatsächlich für alle da sein und kann nicht an der Börse gehandelt werden, so wenig wie die ganze Welt an der Börse gehandelt werden kann. Dann kann das „fünfte Zeitalter der Menschheitsgeschichte“ beginnen, die Gesellschaft 5.0.

Ist diese Erzählung Historischer Materialismus? Jürgen Habermas legte vor über 40 Jahren seine Bemühungen um eine Rekonstruktion des Historischen Materialismus vor. Dessen Tradition sah Habermas damals noch nicht verschüttet, weshalb der Marxismus eine „Renaissance nicht nötig“ habe. Aber eine Rekonstruktion: „Das bedeutet in unserem Zusammenhang, dass man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das ist der normale (ich meine: auch für Marxisten normale) Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf, deren Anregungspotential aber noch (immer) nicht erschöpft ist.“

In der Tat ist das Anregungspotential des Marxismus spätestens nach der Finanzkrise ab 2008 wiederentdeckt worden. Aber vielleicht kommt der entscheidende Impuls zu einer Wieder- oder auch erst Neubelebung der zuerst von Marx ausgesprochenen und ausgearbeiteten Ideen und Hoffnungen aus ganz anderen Wissensquellen als jenen, in denen Marx, Marxisten nach ihm, Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Politologen und Philosophen danach je gesucht haben.

1 A. Lobe: Japans smarte Utopie. Die ZEIT online vom 9.4.2017

2 A. Lobe: Ist die Menschheit bald am Ende… Die ZEIT online vom 10.4.2017

3 Detailing Amazon’s Custom-Clothing Patent: Bericht der New York Times vom 30.04.2017. https://www.nytimes.com/2017/04/30/technology/detailing-amazons-custom-clothing-patent.html [Stand 1.07.2017]

4 Vgl. dazu auch die von M. Grefrath herausgegebene Sammlung von „neuen Lektüren des Kapital“. RE: Das Kapital. München 2017

5 Massachusetts Institute of Technology, in Cambridge, Massachusetts, USA.

6 Ein Kolloquium, das am 4. Juni 2016 in Leipzig stattfand, bemühte sich um ein Verständnis der Bedeutung der „digitalen Revolution“ für die „sozialen Verhältnisse des 21. Jahrhunderts“. Über die Feststellung hinaus, dass die „digitale Revolution“ oder die „Industrie 4.0“ mit „fundamentalen Veränderungen in den Produktions- und Lebenswelten“ in verursachendem Zusammenhang steht, hat man sich der Frage, was „das Bestimmende“ sei an diesen Veränderungen, offenbar kaum weiter annähern können. Vgl. Janke / Leibiger (Hrsg.) (2017).

EINLEITUNG

Wie sieht die nächste Gesellschaft aus? Was erwartet uns nach dem Kapitalismus?

In aller Kürze wird in diesem Buch die folgende Antwort auf diese – nicht unerhebliche – Fragestellung versucht:

Man kann den Einstieg wählen über die Frage nach dem Ort der wirtschaftlichen Belange in einer Gesellschaft. Seit den Anfängen der klassischen Wirtschaftswissenschaften, durch alle Schulen und Lager hinweg, war die ordnungspolitische Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft eine entscheidende und richtungweisende, von der die Mehrzahl der weiteren abhängt. Gehören die wirtschaftlichen Belange der Gesellschaft ganz oder überwiegend in die öffentliche, oder in die private Sphäre? Welche Sphäre ist die dominierende? Etwa nach Joseph Schumpeters heute rund 70 Jahre alter Definition war eine sozialistische Gesellschaft ein „institutionelles System, in dem die Kontrolle über die Produktionsmittel und über die Produktion selbst einer Zentralbehörde zusteht“,7 mit anderen Worten, in dem die wirtschaftlichen Belange der Gesellschaft in die öffentliche Sphäre gehören. In einem nichtsozialistischen System gehören sie in die private Sphäre.

Schumpeter unterscheidet hier nun zwischen Kontrolle über die Produktionsmittel und Kontrolle über die Produktion selbst. Unabhängig davon wo Schumpeter den Unterschied sah, kann man danach unterscheiden, ob sich die Kontrolle auf die Abläufe in der Produktion selber richtet, also deren Verfahrensrationalität und die ressourceneffiziente Verwendung der Produktionsfaktoren, oder auf die Kontrolle über die Produktentwicklung und die Produktionsentscheidungen, also was produziert wird, in welchen Mengen, und zu welchem Preis es verkauft wird. Nach welchen Kriterien werden diese letzteren Entscheidungen getroffen? In privatwirtschaftlich verfassten Ökonomien wird hier nach erwerbswirtschaftlichen Prinzipien entschieden, also nach der Marktrationalität. Liegt die Kontrolle darüber in der öffentlichen Sphäre, kann nach Prinzipien einer politischen Vernunft entschieden werden, die Produktionsentscheidungen können also nach öffentlichen, allgemeinen, überprivaten Interessen ausgerichtet werden.

Die vergangenen Jahre seit der Finanzkrise ab 2008 haben nun Zweifel an der Steuerungskapazität der Marktkräfte nach marktrationalen Prinzipien geweckt. In zunehmend reifen, wohlhabenden und konsolidierten Ökonomien mit gesättigten Märkten führt die Suche nach renditetragenden Verwendungen des nicht in den Produktionsmitteln gebundenen Kapitals zu immer weniger wohlfahrtsichernden oder -erweiternden Investitionen; das Geld wird aufgesogen von der Finanzindustrie, und wandert in unproduktive, spekulative Verwendungen. Auf der anderen Seite hat sich im Laufe des realsozialistischen Experiments gezeigt, dass die Steuerungsfunktion frei gebildeter Marktpreise kaum effizient zu ersetzen ist; die politische Vernunft ist bei der Planung und Festlegung solcher mikroökonomischer Produktions- und Preisentscheidungen offenbar überfordert. Dieses Dilemma hat seither immer wieder die Suche nach „dritten Wegen“ motiviert, nach neuen Modalitäten der wirtschaftlichen Kooperation und Ordnungsbildung zwischen oder jenseits von Markt und Staat – gefunden wurden sie bisher nicht.

Die Entwicklungen der digitalen Fertigungstechnologien haben nun im Verlauf eines bereits seit mehr als drei Jahrzehnten anhaltenden Prozesses dazu geführt, dass diese Trennung zwischen „Kontrolle der Produktionsmittel selbst“ und den Produktdesign- und Produktionsentscheidungen sich in den Fertigungsprozess selbst hineinverlagert hat. Der Fertigungsprozess selbst wird gesteuert durch das digitale Design, den „digitalen Zwilling“8 des Produkts, eine auf verschiedensten Datenträgern verfügbare Menge von Daten, die das zu fertigende Produkt und seinen Produktionsprozess digital beschreiben. Ist dieser digitale Zwilling einmal entwickelt, steuert er seinen Produktionsprozess weitgehend selber. Die Entscheidung, wie er aussieht, und ob er real und physisch das Licht der Welt erblicken soll, ist dann an anderer Stelle getroffen worden.

Absicht dieses Buches ist es, die Annahme zu begründen, dass sich durch diese Aufspaltung des Fertigungsprozesses, durch die Entkopplung von Fertigung und Design, ein neuer dritter Weg der ordnungspolitischen Gestaltung der Sphäre des Ökonomischen eröffnet. Ermöglicht würde dies dadurch, dass man die physische Gestaltung, also die industriellen Produktionsmittel, die (fast) beliebige digitale Datenmodelle realisieren und dem Konsumenten zur Verfügung stellen können, der Kontrolle der Öffentlichkeit9 übergibt, während die Produktentwicklung, der kreative und eigentlich wertschöpfende Prozess, in privater oder teilprivater Zuständigkeit verbleiben.

Eine damit gekoppelte bzw. resultierende Annahme ist die, dass öffentliche Produktionssysteme die in den vergangenen Jahrzehnten und zuletzt in der sog. Finanzkrise kulminierten Funktionsstörungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise korrigieren können, indem sie das in ihnen gebundene Kapital vom globalen Kapitalverwertungsprozess isolieren, und es privaten, renditeorientierten Verwendungen verwehren. In der längeren Frist könnte ihnen dadurch das Potential zuwachsen, die von privaten Kapitalverwertungsinteressen dominierte wachstumsabhängige Wirtschaft in ein stabiles, ökologisch nachhaltiges und am Ziel der Erhaltung oder Erweiterung öffentlicher und privater Wohlfahrt orientiertes System zu transformieren.

Das Niveau der Leistungsfähigkeit der industriellen Produktion muss dabei generell bzw. mindestens als Potential erhalten werden können. Dies wird durch die Entkopplung der Fertigung vom Produktdesign und eine weitgehend maschinelle faktorunspezifische Produktion prinzipiell ermöglicht. Eine maximal ressourcensparende Effizienz der materiellen Produktion kann wegen ihres zunehmend maschinellen Charakters auch in öffentlicher oder teilöffentlicher Verantwortung gewährleistet werden. Wertschöpfung geschieht dann nur noch in der Produktentwicklung, die mit Vertrieb und Markenrechten etc. in privater, zumindest zum Teil auch gewinnwirtschaftlich getriebener Regie und Verantwortung verbleibt, und so die an sich wünschenswerte Produktvielfalt gewährleistet, dies jedoch bei stark vermindertem renditegetriebenem Gewinnerwartungsdruck und damit reduziertem Wachstumsdruck. Gleichzeitig eröffnete sich so aber auch Einzelpersonen (dem einzelnen Konsumenten) oder sonstigen Gruppierungen der Weg zu Ressourcen zur Produktentwicklung (Open-User-Innovation; „Wiki of Things“), die ihre Produktentwürfe zur Selbstversorgung nutzen oder sie der Öffentlichkeit zum Kauf anbieten können.

Der unterliegenden Erwartung gemäß wird dies ermöglichen, dass in weit größerem Umfang überprivate Interessen bei Produktionsentscheidungen berücksichtigt werden können, und in der längeren Perspektive ein zentraler Quell der Interessenkollision zwischen privaten Erwerbsinteressen und öffentlichen Wohlfahrtsinteressen neutralisiert werden kann. Dabei wird dies nicht mit einem Verlust von verfahrensrationaler Effizienz und einer Reduzierung der Produktvielfalt, oder der Einschränkung der Souveränität und Wahlfreiheit des privaten Konsumenten erkauft; die verfügbare Produktvielfalt und -qualität soll erhalten bleiben, soweit die private, nicht künstlich stimulierte Nachfrage danach eben besteht.

Die Überführung der Produktion in (teil)-öffentliche Hände kann die Bildung und Nutzung von Produktionsnetzwerken induzieren und befördern, woraus sich Synergieeffekte ergeben, die sonst durch die Initiative privater Initiatoren kaum realisierbar wären, im Falle ihres Entstehens aber mit der Gefahr von Monopolbildung, der Erzielung von Monopolrenten und wettbewerbsverzerrenden Effekten zum Nachteil der Konsumenten verbunden wären.

Die politische Verantwortung für die Koordination, Steuerung und Fortentwicklung der wirtschaftlichen Belange der Gesellschaft in diesem Sinne wäre dann eher einem Automationsministerium10 zu übergeben, das das Ziel einer wohlfahrtsorientierten Steuerung der automationsorientierten Umwandlung und Gestaltung der Ökonomien verfolgt, in Ablösung eines Wirtschaftsministeriums, das wachstumsorientierte Ziele verfolgte, in der Hoffnung auf die immer weiter bestehende Möglichkeit der Entfesselung gewinngetriebener Wachstumskräfte.

Soweit die sehr gestraffte Darstellung des Inhalts dieses Buches. Etwas weniger gestrafft und ausführlicher mögen nun die folgenden Gedanken und Überlegungen in den Problemzusammenhang einführen, und die Motive für den verfolgten Lösungsansatz verdeutlichen.

Joseph A. Schumpeters Klassiker „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ erschien 1942 in englischer Sprache, und 1947 auch in Deutsch, bevor er dann im Laufe der Jahre in mindestens 20 weitere Sprachen übersetzt worden ist. Schumpeter war ein konservativer Ökonom, dessen Begriff von Innovation und wirtschaftlichem Fortschritt als „schöpferische Zerstörung“ und seine emphatische Verehrung der Unternehmerpersönlichkeit als „Führer“ mit „Siegerwillen“ ihm in wirtschaftsfreundlichen Kreisen wesentlich größere Sympathien und höhere Akzeptanz verschafft haben dürften als etwa in linken sozialrevolutionären Milieus. Dennoch stammt von ihm dieser Satz, den Menschen mit postkapitalistischen Hoffnungen und Denkweisen mit ganz anderen Augen und Empfindungen zur Kenntnis genommen haben dürften als „Konservative“: „Kann der Kapitalismus weiterleben? Nein, meines Erachtens nicht.“

Schumpeter hat in diesem Werk seine Auffassung entwickelt und vorgetragen, dass der Kapitalismus sich auf eine ganz natürliche und zwanglose Weise in einen staatlich und zentral gelenkten Sozialismus verwandeln werde. Diese Entwicklung betrachte er aber nicht mit Sympathie oder Antipathie, sondern als unparteiischer Beobachter; er stelle eine Prognose auf der Basis der ihm zur Verfügung stehenden Daten, so wie ein Arzt eine positive oder negative Prognose auf der Grundlage seiner Befunde stelle, ohne sich hierbei durch Sympathie für den einen oder anderen zu erwartenden Ausgang beeinflussen zu lassen.

Bisher hat nun diese Entwicklung – die Transformation des privatwirtschaftlich dominierten Kapitalismus in einen staatlich-öffentlich dominierten Sozialismus – ganz offensichtlich nicht stattgefunden. Allerdings hat die Frage, ob der Kapitalismus weiterleben kann, spätestens mit Hereinbrechen der bislang letzten großen Krise, der sog. Finanz- oder Hypothekenkrise zwischen den Jahren 2007 und 2010 eine ganz neue und wohl nie erlebte Aktualität erhalten. Die Stimmen, die dem Kapitalismus eher geringere Überlebensaussichten bescheinigten, dürften dabei in Anzahl und der Eindeutigkeit und Differenziertheit ihres Urteils diejenigen optimistischen Stimmen überwogen haben, die unverdrossen von einer unerschöpften Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus ausgehen, und für die Welt der Börsen, der Konzerne, der Produktivitätssteigerungen, des Wachstums und der Vollbeschäftigung am Horizont kein Ende aufziehen sehen, und die dabei möglicherweise noch nicht einmal die ökologisch verursachten Wolken am Himmel des ewigen Wachstums ihre Stimmung trüben lassen.

Wer allerdings eher geneigt ist, eine Endlichkeit der kapitalistisch geprägten Entwicklung für wahrscheinlich zu halten, ist damit noch nicht unbedingt und in jedem Fall in der Lage oder auch willens11, einen Nachfolger zu benennen, also die wirtschaftlichen und politischen Umstände anzugeben oder zu umreißen, unter denen jenseits kapitalistischer ökonomischer Prinzipien und Regularien würde gelebt und gearbeitet werden. Dass es allerdings nicht ein Sozialismus – so wie wir ihn kannten – sein wird, in den sich die sozioökonomische Wirklichkeit verwandelt, bezweifelt nach den gemachten Erfahrungen in den realsozialistischen Ökonomien des ehemaligen Ostblocks kaum jemand.

Insofern würde man zu Schumpeters Erwartung nun aus der heutigen Sicht einfach konstatieren müssen, dass er sich in dem Punkt offenbar geirrt hat. Schumpeters Werk hat im Laufe der Jahre wellenförmig an- und wieder absteigende Aufmerksamkeit erfahren, und seine Erwartung eines Abschwächens oder eben sogar Verebbens und Versiegens der kapitalistischen Dynamik und wohlfahrtsteigernden Kraft wurde durchaus geteilt, kaum aber jemals seine Prognose eines Übergleitens in einen staatlich gelenkten Sozialismus.

Inwieweit kann denn nun ein erneuter Blick in Schumpeters Werk und Gedanken aus dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts dazu beitragen, möglicherweise Antworten zu finden auf die heute ja noch immer nicht obsoleten und umgekehrt immer mehr drängenden Fragen nach der Zukunft des Kapitalismus, und, wenn diesem tatsächlich über kurz oder lang keine Zukunft beschieden sein sollte, nach der dann entstehenden oder zu erwartenden Ordnung des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens?

Es ist vielleicht hilfreich, zunächst einmal in seinen Fragen und Antworten diejenigen zu isolieren, die tatsächlich noch immer Gültigkeit beanspruchen können, und von diesen Fragestellungen und Antworten ausgehend auf die Entwicklungen in der Wirtschaft, in den Gesellschaften, der Politik und der Technik zu schauen, wie sie sich dem heutigen Blick darstellen. Wo finden sich seine Erwartungen bestätigt, und wo nicht – und lässt sich auch sagen, warum, oder warum nicht? So hat sich etwa seine Erwartung eines langfristigen Absinkens des Zinsniveaus der entwickelten Volkswirtschaften der Welt ganz offensichtlich bestätigt12, oder seine Erwartung der „Verbürokratisierung“ der Unternehmensleitungen, also des Übergangs der aktiven Geschäftsführung aus der Hand der Gründerpersönlichkeiten oder –familien in die der angestellten Gremien und zeitlich und in ihrer persönlichen Erfolgshaftung beschränkten Manager.

Schumpeter war beileibe kein Marxist, trotz seiner intensiven Auseinandersetzung mit der „Marxschen Lehre“, seiner Verehrung und Bewunderung für die bleibende „Größe“ der Marxschen Schöpfung, für den Marxismus und die „Macht seines Baus“. Dies hinderte ihn aber nicht, „Fehler in den Grundlagen oder den Einzelheiten“ aufzudecken, wo immer sie ihm als solche erschienen. Aber es blieben eben auch Übereinstimmungen, wie etwa hinsichtlich der zentralen Rolle des technischen Fortschritts für die Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus. Während aber Marx diesen – nach der Unterkonsumtionstheorie – in absolute und relative Verelendung der Massen einmünden sah, erwartete Schumpeter über Phasensequenzen von Überproduktion und Unterbeschäftigung und sich ablösende Konjunkturen hinweg letztlich eine „Vervollkommnung“ der Technologie, eine damit verbundene Sättigung der Bedürfnisse, und ein daher rührendes Erlahmen der Dynamik und der Innovationskräfte des Kapitalismus. Der Kapitalismus werde an einem Mangel an Investitionsmöglichkeiten und an Betätigungen für die ihn treibende Schicht der Unternehmer (ab)sterben, und einem geplanten Sozialismus, geleitet von einer staatlichen Zentralbehörde, Platz machen. Er glaubte, die „Schicht der Bourgeoisie, die von Gewinnen und Zinsen lebt, hätte die Tendenz zu verschwinden“; „für die Unternehmer werde nichts mehr zu tun bleiben“, sie werden also – nach geschichtlich erfülltem Auftrag sozusagen – freiwillig abtreten, und der Staat werde die Privatwirtschaft – offensichtlich ohne nennenswert auf deren Widerstand zu stoßen – „erobern“.13

Die in den vergangenen Jahrzehnten etwa seit 1980 zu beobachtenden Entwicklungen bieten offensichtlich reichlich Belege, dieser Annahme zu widersprechen. Zwar ist der Mangel an Investitionsmöglichkeiten14 ganz offensichtlich eingetreten, und das Zinsniveau hat jedenfalls im Euroraum den negativen Bereich erreicht, keineswegs aber hat der Staat die Privatwirtschaft erobert – ganz im Gegenteil hat die Privatwirtschaft sich in Domänen eingekauft, die über lange Phasen der kapitalistischen Entwicklung als öffentliche, von gemeinnützigen Trägern zu erledigende Aufgaben des Staates oder der Kommunen angesehen worden sind. Es hat, jedenfalls bis dato, auch keinesfalls den Anschein, als habe die „Schicht der Bourgeoisie, die von Gewinnen und Zinsen lebt“, die Absicht abzutreten und zu verschwinden, und ihren Drang nach Erwirtschaftung von Kapitalrenditen aufzugeben. Die Entwicklungen nach Eintreten dieses Stadiums der Sättigung haben offenbar geradezu zu einer Flut von „Erfindungen“ von Investitionsmöglichkeiten geführt, dies dann aber bezeichnenderweise vor allem auf dem Gebiet der unproduktiven – und eben nicht wohlstandserweiternden – Finanzinvestitionen.

Auf dem Feld der Technik, von Marx und Schumpeter immer nur als „Automation“ oder „Perfektion“ bzw. „Verwandlung der lebendigen Arbeit in totes Kapital“ beschrieben, hat sich aber nun – und zwar eben als Folge der ja wie erwartet eingetretenen Sättigung auf einer Vielzahl von Massenmärkten – eine Art von Vervollkommnung der „Automation“ herausgebildet, die in dieser Form weder von Marx noch von Schumpeter noch von sonst einem der großen modernen Ökonomen vorausgesehen worden ist, und, so muss man es wohl sagen, auch nicht vorausgesehen werden konnte. Es entstand der Trend zur Flexibilisierung oder sogar zur Universalisierung der Produktion, also die Entstehung von großindustriellen Fertigungsanlagen, die mit geringem oder fast gänzlich ohne Aufwand („innerhalb von Sekunden“15) auf die Herstellung vollkommen verschiedener Produkte umgestellt werden können. Aus Mangel an Absatzmöglichkeiten für das Massenprodukt und wegen der Volatilität der Nachfrage auf den umkämpften und eben sehr weit gesättigten Märkten musste das möglichst weitgehend individualisierbare Produkt entwickelt und angeboten werden, und die Fertigungsanlagen wurden möglichst bis zur Kapazität der kostengünstigen Produktion von Klein- und Kleinstserien bis hinab zur Losgröße 1 – also dem Unikat – fortentwickelt. Es entstand ein neuer evolutionärer Trend der industriellen Produktion, mit einer neuen Evolutionsrichtung: gleichberechtigt neben den seit Jahrtausenden bekannten Trend der Steigerung der Produktivität, über lange Zeit nur auf Kosten von Variabilität und Flexibilität erreichbar, tritt nun der Trend zur Flexibilität und Universalität. Durch einen hohen Grad von Universalität vermindert sich die Faktorspezifität von Fertigungsanlagen, dadurch werden sie „resilient“, also produktbezogen vielfach verwendbar, und erhalten bei einem notwendig werdenden Produktwechsel aufgrund nachlassender Nachfrage ihren Wert. Die hochproduktive und gleichzeitig möglichst vielseitig und idealerweise universal einsetzbare Fabrik wird zum neuen „Leitbild der Produktion“, und damit zur „Fabrik der Zukunft“.

Schumpeter zitiert Marx‘ „berühmte Feststellung, dass die Handmühle die feudale, die Dampfmühle die kapitalistische Gesellschaft hervorbringt“,16 und ist der Meinung, dies lege „dem technischen Element ein gefährliches Gewicht bei, kann aber akzeptiert werden unter der Voraussetzung, dass bloße Technik nicht alles ist“.

In diesem Buch wird nun die Auffassung vertreten, dass dieses „technische Element“, die im skizzierten Sinne hinreichend reife, hinreichend hoch produktive wie gleichzeitig hoch variable „Fabrik der Zukunft“ das Produktionsmittel ist, das die „nächste Gesellschaft“ hervorbringt.

Diese Art von Fabrik der Zukunft wird als ein gänzlich neuer ökonomisch relevanter Tatbestand zu verstehen und plausibel zu machen sein, der bisher noch von keiner ökonomischen Theorie in ihren Beobachtungsbereich aufgenommen wurde, um durch ihn ihr analytisches und prognostisches Instrumentarium zu erweitern.17 In diesem Sinne soll auch gezeigt werden, dass erst diese Art von Universalen Fabriken, die der Tendenz nach beliebige, als digitaler Datensatz verfügbare Dinge in physische Güter, in Gebrauchswerte verwandeln können18, den wohlstandsbewahrenden und –erweiternden Übergang der Produktionsmittel in öffentlichen Besitz ermöglichen werden.19 Es ist nicht etwa der Computer für sich genommen ist, noch der gesamte Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, noch das Internet der Dinge, also nicht „Big Data“, die „Cloud“, Robotik, Sensorik oder die Künstliche Intelligenz an sich, wodurch dieser Schritt möglich gemacht werden kann. Erst die Kombination der Vielfalt dieser neuen Technologien, die Digitalisierung der Produktion mit ihrer Entkopplung von (lokaler) Fertigung von (global verfügbaren) digitalen Produktmodellen20 und dem Potenzial der Übertragung der Universalität des Computers aus der Welt der 2-Dimensionalität in die physische Welt der 3-Dimensionalität, in die Welt der nützlichen Dinge, der Gebrauchswerte, können diese neue Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen.

Dass die „bloße Technik“ ist nicht alles ist, ist richtig, wie gesehen. Aber richtig ist auch: ohne sie wäre alles nichts. Ohne sie ist der Schritt in neue nichtkapitalistische Verhältnisse aussichtslos und wirkt, wo er versucht wird, überanstrengt und zuweilen nachgerade verzweifelt.21 Richtig ist zur gleichen Zeit auch, dass die Notwendigkeit mit immer peinigenderer Dringlichkeit ins Bewusstsein rückt, aus der Welt der Märkte, der Investoren und der weltumspannenden Kapitalströme auszusteigen; aus der Welt der Kapitaleigner und ihrer bezahlten Verwalter und Manager, die immer mehr zu Getriebenen ihrer selbst und von ihresgleichen werden und geworden sind, und die möglicherweise auch schon selber auf die erlösende Macht einer gesellschaftlichen Kraft hoffen22, die diesem zunehmend bösartigen23 und irrationalen Spiel24 ein Ende macht. Hiermit scheinen sich geeignete Mittel dazu anzudeuten.

Es ist wird an dieser Stelle nun noch nicht unmittelbar einsichtig sein, wie diese Art von neuen hochgradig flexiblen oder universal einsetzbaren Produktionsmitteln diese große Transformation ins Werk zu setzen vermag, und zu deren Voraussetzung werden kann. Die folgende knappe Skizze möge dies zur Einleitung illustrieren.

Wir wollen vorher kurz rekapitulieren, wie sich die Argumentation von der Schumpeters unterscheidet, der den Entwicklungsgang des Kapitalismus auf eine „natürliche“ Weise in einen Sozialismus einmünden sah. Schumpeter sah dazu zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen: a) ein genügend hoher Grad an Nachfragesättigung (der wegen der „Ausdehnbarkeit“ der Bedürfnisse schwer zu erreichen sei, wie Schumpeter – offensichtlich richtig – bemerkte), und b) ein hinreichender Zustand von Vollkommenheit der Produktionsmittel, „der keine weitere Verbesserung mehr zulässt“.25 Mit Vollkommenheit konnte Schumpeter nur sehr hohe Produktivität (unterstelltermaßen bei gegebenen sonstigen Anforderungen wie Qualitätsstandards und Ressourceneffizienz) meinen. Wir argumentieren hier nun, dass ein hinreichend hoher Grad an Universalität dazu kommen muss, um einen qualitativ neuen und höheren Zustand der wirtschaftlichen Organisation zu erreichen, der aber keineswegs „Sozialismus“ heißen oder sein muss – der diesen noch unbekannten und unerfahrenen Zustand kennzeichnende Begriff wird wohl noch erst gefunden werden müssen.

Was meint nun „hoher Grad an Universalität“? Das bedeutet, dass ein und dasselbe Fertigungsystem nahezu beliebige Produkte herstellen kann, ohne dass an dem Fertigungssystem (Maschinen und Menschen, also deren spezifischer Qualifikation) etwas verändert werden müsste. Ein Computer kann beliebige Softwareprogramme implementieren, und ist darum ein Universalrechner. Eine Universalfabrik könnte entsprechend beliebige Dinge herstellen. Es scheint offensichtlich, dass dies ein Idealbild ist, dem die Realität sich nur annähern kann – die Frage ist also, wann diese Annäherung hinreichend weit erreicht ist. Dass die Entwicklung seit Jahrzehnten dabei ist, sich diesem Ideal anzunähern, und zwar getrieben vom erreichten Zustand der Marktsättigung, werden wir weiter hinten sehen.

Fragt man nun, was den „Wohlstand der Nationen“ heute ausmacht, so findet man in grober Zusammenfassung die folgende Aufteilung der Konsumausgaben (am Beispiel Deutschlands, das aber in den Dimensionen sicherlich auf andere entwickelte Industrienationen übertragbar wäre): es ist zum größeren Teil das Wohnen (etwa 37%), in das die durchschnittlichen Konsumausgaben fließen, also Kosten für Miete oder selbstgenutztes Wohneigentum, zugehörige Nebenkosten wie Strom, Heizung und Wasser; ferner die Mobilität (13%), häufig in Gestalt des privaten Automobils mitsamt seinen Unterhalts- und Betriebskosten, sowie das Mobiliar in der Wohnung (5,3%); sodann die Bekleidung (4,4%), die Bildung (0,7%), und etwa Ausgaben für Freizeitbetätigung und Hobbies (10,5%). Es sollen durchschnittlich rund 10.000 Dinge sein, die sich im Laufe der Jahre in einem Haushalt ansammeln, die zusammengenommen diese vielzitierte Marxsche „ungeheure Warensammlung“ bilden mögen, aus denen der Reichtum der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften besteht, wobei diese Dinge sich in der Qualität und der Gesamtheit ihrer Nutzen und Gebrauchswert stiftenden Eigenschaften ständig weiterentwickeln. Ferner gehört dazu die gesamte Infrastruktur, um diese Dinge eben herstellen und verteilen zu können, sodann eine Reihe von Dienstleistungen etwa in Gesundheit und Kultur, ein freier Zugang zu Informationen, und eine hinreichende soziale Sicherheit sowie Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Alle diese Dinge und Leistungen sind es, die den Wohlstand der modernen Gesellschaften ausmachen.

Mit der Herstellung dieser 10.000 Dinge ist – jedenfalls zum Teil, sofern es sich nicht um handwerklich hergestellte Dinge handelt, oder etwa um gar nicht im engeren Sinn hergestellte Dinge wie Mineraliensammlungen oder aufbewahrte Liebesbriefe – die „große Industrie“ beschäftigt, und zwar durchaus nicht nebenher. Noch immer sind die Menschen zu etwa 25% im produzierenden Gewerbe beschäftigt, und ein großer Teil der Leistungen des Dienstleistungssektors wie Banken und Versicherungen, Berater, Makler, Transportlogistik und der Einzel- und Großhandel ist darauf bezogen und davon abhängig. Im Auto-Land Deutschland steht dabei die Automobilproduktion mit ihrer großen Zahl von Zulieferbetrieben absolut an erster Stelle der wertschöpfenden Industrien; in Deutschland waren in diesem Sektor im Jahr 2015 fast 800.000 Menschen beschäftigt.26 Wie könnte eine „universale“ und hochproduktive Fabrik hier nun das Bild tiefgreifend ändern?

Grundsätzlich kommt es auf die Dimensionen an – das Marxsche Bild vom „Umschlag der Quantität in Qualität“ drängt sich hier geradezu auf. Dies gilt sowohl für den Grad an Produktivität bei gleichzeitiger Universalität der Produktionssysteme, wie auch für die Anzahl der Branchen, die von dieser Entwicklung erfasst sind. Ein hoher Grad von Flexibilität etwa in der Automobilindustrie würde bedeuten, dass in einem Werk nicht nur ganz bestimmte und auf dieses Werk zugeschnittene Modellreihen produziert werden, sondern ganz verschiedene, ja bis zu einem gewissen Grad beliebige. Wenn die Faktorspezifität eines Werkes, seiner Anlagen und seines Personals hinreichend niedrig ist, also nicht auf ein bestimmtes Modell abgestimmt, können in einem Werk verschiedene Modelle oder sogar Modelle ganz verschiedener Hersteller gefertigt werden; es würden sich dann also verschiedene Hersteller ein Werk teilen. Möglich würde dies (unter anderem) eben dadurch, dass man idealerweise versucht, die Produktionsabläufe so zu gestalten, dass alle den Produktionsablauf steuernden Informationen – wenn auch auf den verschiedensten Datenträgern – digital verfügbar sind, und das Werk, das Produktionssystem, die Fertigungsstraße, die jeweils nächste Fertigungsinsel „weiß“, welches Automodell gefertigt werden soll.27

Eben dies, ein hoher Automationsgrad und niedrige Faktorspezifität, wären die Bedingung dafür, dass auf die typischen Potenziale eines Unternehmens – die Strukturierung eines komplexen Möglichkeitsraumes unter Unsicherheit – verzichtet werden kann,28 und ein derartig hochflexibles Fertigungssystem mit dem größeren Wohlfahrtseffekt von der öffentlichen Hand, in einem gemeinnützigen Auftrag betrieben werden könnte – auch wenn dies auf den ersten Blick allem widerspricht, was jemals über die „Industrie 4.0“ , die „smarte Fabrik“ oder das Prinzip „Plug and Produce“ je gesagt und geschrieben wurde.

Das Automobil als „Modell“, als Innovation und für den Kunden attraktives Gut sowie als Datensatz, als maschinenlesbarer CAD-Entwurf und als Produktionsvorschrift für die Vielzahl der produzierenden maschinellen und menschlichen Aufgabenträger würde von privaten Entwicklern, von Open-Innovation-Projekten oder von dezentralen Designbüros hergestellt – der Autobauer würde sich so zum Automobildesigner verwandeln. Die physische Fertigung dagegen übernimmt eine – öffentliche, kommunale, staatliche – Fabrik, die keine Gewinninteressen verfolgt, sondern lediglich bestrebt ist, im Auftrag der Öffentlichkeit als abstraktem Konsumenten ressourceneffizient und kostendeckend zu arbeiten.

Was wäre der gesamtwirtschaftliche Vorteil einer öffentlichen Trägerschaft? Kurz gesagt, geht es darum: hoch automatisierte Fertigungsysteme mit niedriger Faktorspezifität sind vergleichsweise risikoarm zu betreiben, und erzeugen nur noch geringe Wertschöpfung. Das Interesse eines Kapitalinvestors läge dann darin, einen eher geringen, aber risikoarmen und beständigen Monopolaufschlag durchzusetzen. Dies wäre aber aus gesamtwirtschaftlicher Sicht schädlich. Um dies abzuwenden, müssten Fertigungssysteme nach Erreichen dieses Reifegrades von öffentlichen Trägern betrieben werden.29 Auf den ersten Blick mag das unerheblich erscheinen, bedeutet aber langfristig einen Richtungswechsel des technischen Fortschritts hin zu einer Veröffentlichung oder „Vergesellschaftung“ des Kapitals, statt zu weiterer infiniter privater Kapitalkonzentration.

Ohne den Gedanken an dieser Stelle schon ausführlich zu entwickeln, sei das Argument einmal am Beispiel eines großen Konzerns wie etwa des Zwölf-Marken-Konzerns Volkswagen knapp skizziert. Was bedeutete die Verfügbarkeit dieser technischen Möglichkeiten? Gäbe es sie nicht, also unter der Bedingung der Verfügbarkeit „herkömmlicher“ bzw. konventioneller Produktionsmittel, stünde als Alternative zur privatwirtschaftlichen Trägerschaft nur der Weg der Verstaatlichung des gesamten Konzerns zur Wahl, um öffentliche Interessen zur Geltung zu bringen. Würde nun der gesamte Konzern in staatliches Eigentum überführt, stünde ein nun staatlich beauftragtes und kontrolliertes Managergremium vor der Aufgabe, ein für den Weltmarkt attraktives Angebot von Automobilen zu entwickeln, und dies so kostengünstig wie möglich zu produzieren und zu vertreiben. Dieses Gremium stünde – auch bei den allerbesten und lautersten Absichten – sehr bald und kaum vermeidbar unter sehr ähnlichen, ja nahezu identischen Sachzwängen wie das heutige von privaten Kapitaleignern unter Gewinnerwartungsdruck gesetzte Management30. Es stünde als kohärenter Block von Produktions- und Entwicklungskapazität, als Marke oder Markenverbund den Mitbewerbern um Anteile des Weltmarktes gegenüber, und stünde mit diesen in einem Wettbewerb letztlich um das Überleben als selbstständiger Anbieter. Ganz kapitalistisch ginge es um Wachsen oder Weichen, um das Ausnutzen aller Potenziale zur Kosteneinsparung und Erhöhung der Profitabilität, wobei man sich nicht die kleinste Nachlässigkeit erlauben darf, „bei Strafe des Untergangs“. Der Blick zu den staatlich gelenkten Autokonzernen Chinas zeigt in der Tat, dass diese sich nicht grundsätzlich anders verhalten als private Autokonzerne, weder gegenüber ihren Mitarbeitern, noch ihren Kunden, noch ihren Mitbewerbern. Dass sie recht erfolgreich auf ihren Märkten mit durchschnittlich noch immer anhaltendem Umsatzwachstum operieren liegt wohl hauptsächlich daran, dass in China noch immer ein erheblicher Nachholbedarf besteht, und die Automobildichte pro Haushalt hier noch lange nicht an ähnliche Sättigungsgrenzen gestoßen ist wie sie im entwickelten Westen erreicht worden sind.31