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WARUM SCHREIEN BABYS?

ALLE BABYS SCHREIEN, ABER MANCHE MEHR ALS ANDERE. WICHTIG IST ZUNÄCHST ZU VERSTEHEN, WARUM BABYS ÜBERHAUPT SCHREIEN UND WARUM WIR UNS NICHT AM SCHREIEN, SONDERN AM BEDÜRFNIS DAHINTER ORIENTIEREN SOLLTEN.

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DIE BEDÜRFNISSE EINES BABYS

Nach der Geburt ist zunächst alles anders für das Baby. Eine völlig neue Welt tut sich auf, in der es sich mit unserer Hilfe nach und nach zurechtfinden muss. Und wir als Eltern müssen einen Weg finden, das Verhalten unseres Babys im Lauf der Zeit immer besser zu verstehen. Das ist nicht einfach, wenn unser Baby anscheinend ganz andere Bedürfnisse hat als andere Babys und mehr weint als andere.

Wann Babys weinen

Babys kommen schon sehr kompetent auf die Welt und können sich auf vielfältige Weise ausdrücken. Für einzelne Bedürfnisse haben sie verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. So gibt es beispielsweise den Suchreflex, mit dem sie nach der mütterlichen Brust suchen, wenn sie Hunger haben. Oder sie werden unruhig, zappeln, unterbrechen das Trinken und stoßen einen Schrei aus, wenn sie ausscheiden müssen. Sie blicken wach und aufmerksam um sich, wenn sie zur Interaktion bereit sind, und sie wenden sich ab, wenn sie müde werden. Werden die kleinen Signale übersehen oder können sie von den Eltern noch nicht gelesen werden, verstärken sie sich bis hin zum Schrei, der das Maximum des Ausdrucks ist, dass etwas gerade nicht stimmt und wir das Baby mit Aufmerksamkeit, Nahrung oder Pflege versorgen sollen. Gehen wir darauf ein, beendet das Baby das Schreien.

Das tun jedenfalls die meisten Babys. Es gibt jedoch so manche, deren Verhalten nicht so einfach zu deuten ist oder die zwar diese Verhaltensweisen zeigen, aber dann nicht mit dem vermeintlich zum Signal passendem Angebot zu beruhigen sind oder sich nur kurzfristig beruhigen lassen.

Das empfindsame Baby

Dem amerikanischen Wissenschaftler-Ehepaar Alexander Thomas und Stella Chess zufolge werden ungefähr zehn Prozent aller Kinder, die geboren werden, als besonders empfindsam und irritierbar bezeichnet – und dies von Anfang an, denn das kindliche Temperament ist angeboren. Es ist nicht eindeutig nachweisbar, ob es heute mehr Babys gibt als früher, die viel weinen. Neben dem angeborenen Temperament gibt es aber Faktoren, die sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben und die sich auch auf die Empfindsamkeit des Babys auswirken können. Hier ist insbesondere der Stress zu nennen, dem Schwangere und Familien ausgesetzt sind, zum Beispiel durch Arbeitsbelastung, »Vereinbarkeit« oder medizinische Maßnahmen. Schon während der Schwangerschaft kann sich Stress auf die Empfindsamkeit eines Babys auswirken.

Kinder unterscheiden sich

Es gehört zum natürlichen Verhalten des Kindes, dass Babys weinen. Wie oft sie weinen, ist sehr unterschiedlich – und einige weinen wesentlich häufiger als andere. Zwar können wir durch unser Erziehungsverhalten ein wenig Einfluss nehmen auf das konkrete Verhalten und auch die Erfahrungen, die das Kind im Laufe des Lebens sammelt, wirken sich aus. Eine bestimmte Grundmelodie des Temperaments aber bleibt ein Leben lang bestehen. Das Kind ist, wie es ist, und wir begleiten es auf diesem Weg so gut wir das eben können. Während »easy« Babys also problemlos einen eigenen Rhythmus finden und gute Schläfer sind, sind »difficult« Babys leicht irritierbar, weinen mehr und sind schreckhafter. Ihre Stimmung schlägt schneller um, was es Eltern erschwert, rechtzeitig zu reagieren. Sie haben deswegen besondere Bedürfnisse und stellen an Eltern andere Anforderungen als »easy« Babys.

VERHALTENSZUSTÄNDE DES BABYS NACH MARGARITA KLEIN

Die Hebamme, Diplom-Pädagogin und Familientherapeutin Margarita Klein, die eine einfache Babymassage auf der Grundlage der Schmetterlingsmassage von Eva Reich und anderen Massagetechniken entwickelt hat, begleitet seit vielen Jahren Eltern und Babys beim Start ins Leben. Sie hat folgende Verhaltenszustände des Babys beschrieben.

Wach und aufmerksam: Das Baby hat offene Augen und wendet sich gezielt Dingen zu. Seine Körperspannung ist ausgeglichen und es ist bereit für Interaktion.

Wach und nach innen gekehrt: Das Baby wird schnell müde und hat ein geringes Aufnahmevermögen. Es wendet das Gesicht ab, da es eine Pause braucht. Jetzt möchte es nicht unterhalten werden, weil es sonst überreizt wird.

Wach und angespannt: Das Baby hat offene Augen, die eventuell etwas starr wirken. Es macht hektische Bewegungen und ist auf der Suche nach Reizen, die es ablenken. Vielleicht versucht es auch, sich selbst zu beruhigen. Wichtig ist nun: Das Baby keinen weiteren Reizen aussetzen, sondern ihm Ruhe und Halt anbieten.

Dösen: Das Baby befindet sich in der Vorstufe des Schlafes, die Augen fallen immer wieder zu, aber es schläft noch nicht ganz.

Offene Augen, die an Trance erinnern: Vor allem nach dem Stillen ist das Baby manchmal in einem Zustand, der an Trance erinnert, da es mit offenen Augen starr vor sich hin blickt. Jetzt sollte es nicht gestört werden, denn häufig findet in diesem Zustand der Übergang zum Schlaf statt.

Schlafen: Auch bei Babys wechseln sich die Schlafphasen ab zwischen ruhigem Tiefschlaf und bewegtem REM-Schlaf (siehe >). Das Baby versichert sich immer wieder der beruhigenden Nähe der Bezugspersonen und erwacht, wenn es ausgeschlafen oder beunruhigt ist.

Quengeln: Quengeln ist eine Zwischenphase, bis ein anderer Zustand erreicht wird. Das Baby fordert mit diesem Verhalten Ruhe oder Anregung.

Schreien: Das Baby drückt damit Unwohlsein aus und verlangt nach Beruhigung durch Bezugspersonen.

INFO

IST MEIN KIND EIN SCHREIBABY?

Der Begriff »Schreibaby«, den wir auch im Titel dieses Buches verwenden, hat sich als Begriff für untröstlich weinende Babys etabliert. Doch auch wenn Ihr Baby gerade viel und untröstlich weint, ist es nicht einfach nur ein Schreibaby, sondern Ihr wundervolles Kind, das Sie gerade durch sein vermehrtes Weinen ganz besonders fordert.

Übertragen Sie deshalb diesen Begriff nicht einfach auf Ihr Kind, wodurch es primär auf sein Schreiverhalten reduziert wird. Das Wort Schreibaby soll eigentlich nur eine Situation oder ein Verhalten beschreiben, aber niemals Ihr Baby als Person. Nehmen Sie Ihr Kind also immer als ganzen Menschen wahr, auch wenn das Schreien Ihren Alltag momentan vielleicht sehr beeinflusst. Und machen Sie auch Ihr Umfeld darauf aufmerksam, wenn es unbedacht mit diesem Begriff umgeht. Es wäre zu wünschen, dass sich zukünftig ein passenderes Wort etabliert. Wir sprechen in diesem Buch deshalb auch oft von erhöhten Bedürfnissen oder eben untröstlich weinenden Babys.

Schreie sind schwieriger zu deuten

Es ist viel schwieriger, das Weinen und Schreien des Babys zu interpretieren als die kleinen Anzeichen zuvor. Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst erfahrene Säuglingskrankenschwestern das Schreien von Babys nur zu 50 Prozent richtig deuten können. Zudem geraten wir in Stress, wenn das Baby weint, weil wir dies (von der Natur so vorgesehen) unbedingt beenden wollen. Da es so schwierig ist, vom Weinen auf die Ursache zu schließen, kommt es umso mehr darauf an, nach und nach die kleinen Signale des Babys verstehen zu lernen, um vor dem Weinen eingreifen und sein Bedürfnis erfüllen zu können.

Den Grund für das untröstliche Weinen erkennen lernen

Bei Babys, die ein von der Norm abweichendes Schreiverhalten zeigen, ist es zudem besonders wichtig, dass Eltern nicht nur die Signale für Bedürfnisse verstehen lernen. Sie sollten vor allem auch die Gründe für mögliche andere Reaktionen verstehen, um das Baby richtig einzuschätzen und auf dieser Basis handeln zu können. Auf diese Gründe gehen wir in Kapitel 2 (siehe >) noch näher ein. Denn eines ist klar: Alle Eltern wollen das andauernde Weinen des Babys verhindern, aber einige haben einen schwierigeren Weg dorthin, weil das Verhalten des Kindes schwerer verständlich ist und von dem Verhalten der meisten anderen Kinder abweicht.

INFO

WELTWEIT HILFE NUMMER 1: TRAGEN

2017 hat eine vergleichende Studie mit über 684 Frauen aus elf verschiedenen Ländern ergeben, dass es ein kulturübergreifend gleiches Handeln bei Müttern gibt, wenn ihre Babys weinen: Sie nehmen sie auf den Arm, tragen sie und sprechen mit ihnen. Ablenkung oder Kuscheln sind eher nicht die Mittel der Wahl.

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Wird ein weinendes Baby auf den Arm genommen, beruhigt es sich meist rasch.

Der schwierige Weg zum Verstehen des Kindes

Um einen guten Weg mit Babys, die viel weinen, zu finden, müssen wir einen dreistufigen Weg gehen: Beobachten – Verstehen – Handeln. Insbesonders der zweite Schritt des Verstehens ist bei viel weinenden Babys von großer Bedeutung. Oft reagieren Eltern nur in zwei Schritten: Sie beobachten – und handeln. Weint das Baby, nehmen sie es auf den Arm oder stillen beziehungsweise füttern es zur Beruhigung. Bei vielen Babys funktioniert das zweistufige Vorgehen auch problemlos, bis sich eine differenziertere Kommunikation eingespielt hat.

Generell ist es dennoch wünschenswert, dass Eltern den zweiten Schritt des Verstehens in ihren Familienalltag einbinden. Bei viel weinenden Babys ist das Verstehen der Gründe allerdings unerlässlich, um langfristig ein passendes Beruhigungsangebot auswählen zu können.

Fehlende Vorbilder und Lernerfahrungen

Wenn uns das Verstehen schwerfällt, so liegt das daran, dass wir als Eltern zwar von Natur aus darauf vorbereitet sind, das Baby beruhigen zu wollen, und dafür mit einigen grundlegenden Verhaltensweisen ausgestattet wurden, dass aber die richtige Interpretation auch eine Frage der Übung ist. Diese Übung ist es, die uns heute fehlt, denn bevor wir selbst Eltern werden, haben wir nur wenige Möglichkeiten, mit Babys und Kleinkindern zusammen zu sein. Uns fehlt es an Vorbildern und auch an Probesituationen, in denen wir lernen, wie wir mit dem Baby umgehen können. Geburtsvorbereitungskurse, YouTube-Videos und Foren bereiten uns nicht darauf vor, wie es wirklich sein wird, das eigene weinende Baby im Arm zu halten.

Natürliche Verhaltensweisen

Die Natur hat uns einige Verhaltensweisen mitgegeben, die wir unseren Kindern gegenüber zeigen: Beispielsweise sprechen Erwachsene und schon Kleinkinder auf der ganzen Welt ein Baby mit einer anderen Sprache an, einem Singsang in einer höheren Stimmlage. Diese sogenannte Ammensprache erleichtert die Kommunikation mit dem Baby und ermöglicht einen besseren Zugang zu ihm. Auch der Wunsch, das Weinen und Schreien des Babys zu beenden, ist in uns angelegt: Schreit ein Baby, reagieren wir instinktiv und wenden uns ihm zu, selbst wenn es nicht einmal unser eigenes Baby ist. Der Schrei eines Babys ist ein Notsignal, auf das wir unwillkürlich reagieren.

TIPP

URSACHENFORSCHUNG IST DAS A UND O

Wenn wir ein Baby, das häufig untröstlich weint, verstehen wollen, sollten wir während des Weinens nicht nach dem Grund suchen, sondern nach den Ursachen und Rahmenbedingungen zuvor. Der erste wichtige Eckpfeiler zur Babyberuhigung ist deswegen die Beobachtung. Ein Tagesprotokoll kann dabei helfen (siehe >).

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Durch Zuwendung und Aufmerksamkeit lernen Eltern, die Signale ihres Kindes zu verstehen.

Mein Baby spricht eine andere Verhaltenssprache

Wird das Baby mit einem besonders sensiblen oder starken Temperament geboren oder gibt es medizinische Einflussfaktoren, erschwert das die Interpretationsmöglichkeit der Eltern, denn dieses Baby zeigt noch einmal andere Verhaltensweisen als die vielleicht wenigen anderen der Umgebung. Die Eltern fragen sich dann schnell: Was mache ich nur falsch? Warum reagiert mein Kind auf meine Handlungen nicht wie die anderen Babys? Doch der Grund liegt nicht unbedingt in den Handlungen der Eltern, sondern darin, dass dieses eine Baby eben eine »andere Sprache« spricht als die Babys der Umgebung oder andere Bedürfnisse hat. Die Eltern müssen lernen, diese speziellen Signale mit speziellen Handlungen zu beantworten, die manchmal ganz anders sind als bei den Nachbarskindern. Die große Aufgabe für uns Eltern besteht darin, die jeweils passende Reaktion auf die Signale des Babys zu finden und seine individuellen Bedürfnisse anzuerkennen. Diese Aufgabe begleitet uns das gesamte Elternleben und stellt uns je nach kindlicher Persönlichkeit vor größere oder kleinere Herausforderungen.

Auch wenn Eltern schon Kinder haben, kann ein neues Geschwisterkind mit einem sensiblen Temperament oder anderen Besonderheiten geboren werden, die von den Eltern ganz andere Handlungsmuster verlangen. Die Gründe für häufiges Weinen sind wesentlich komplexer als der oft geäußerte Vorwurf: Dein Baby schreit viel, dann machst du etwas falsch.

SIE WERDEN ES NIE VERSTEHEN

Menschen, die superentspannte Babys oder auch nur »mittelmäßig« entspannte Babys haben, werden nie verstehen können, was wir durchmachen, wir, die wir leider nicht solche Kinder bekommen. Sie kennen die Panik nicht, wenn das Kind zu früh aufwacht. Die Eine-Minute-Dusche und immer wieder die Dusche ausmachen, um zu lauschen, ob da nicht doch wieder Geschrei ist. Überhaupt das Phantom-Geschrei, das ich ständig höre! Sie fragen sich, warum das Kind schon so früh einen Schnuller antrainiert bekommt, weil sie keine Ahnung haben, wie es ist, wenn man stundenlang ein brüllendes Baby zu beruhigen versucht. Sie sagen: Tragen, Stillen – ist doch ganz einfach, das Geheimnis zufriedener Babys – und sie haben keine Ahnung. Die Allerschlimmsten sagen: Vielleicht seid ihr nicht entspannt? Da muss ich mich richtig zusammenreißen.

littleyears.de

Eltern sollten sich nicht isolieren

Es ist eine sehr schwierige Zeit für Eltern, bis sie verstehen und annehmen, dass ihr Kind anders ist als andere und andere Handlungsmuster braucht. Es ist eine Zeit, in der viel infrage gestellt wird, eine Zeit der Erschöpfung, des Missmuts, der Sorgen, Zweifel und Ängste. Und oft ist es auch eine Zeit der Isolation, wenn sich das Gefühl einschleicht, anders zu sein als andere.

Gerade beim ersten Baby denken viele Eltern, dass sie etwas falsch machen, wenn ihr Kind viel weint. Oder die Umgebung lässt sie mit verunsichernden Aussagen zurück und vermittelt ihnen das Gefühl, sie seien selbst schuld an der Situation. Ein Kreislauf der Verunsicherung kann so entstehen, der mitunter zur Folge hat, dass sich Eltern aus Scham immer seltener an Außenstehende wenden und über ihre Probleme sprechen. Sie ziehen sich immer weiter zurück, was die Probleme verstärken und zu Vereinsamung und Depression führen kann.

Deswegen ist es so wichtig, von Anfang an zu wissen: Wenn Ihr Baby viel weint und schreit, sollten Sie Hilfe in Anspruch nehmen. Nicht, weil Sie eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater sind, sondern weil Ihr Baby ein besonderes Baby ist und Sie Unterstützung brauchen, um es in seinen individuellen Bedürfnissen zu begleiten. Wie wir in einem späteren Kapitel (siehe >) noch sehen werden, kann das Schreien des Babys viele Ursachen haben.

»Keine Mutter ist eine schlechte Mutter, kein Vater ein schlechter Vater, weil das Baby besonders viel weint.«

SUSANNE MIERAU

Wichtig: Kontakt zu Menschen, die Verständnis haben

Seien Sie mutig und gehen Sie offen auf andere Menschen zu. Sagen Sie ihnen, dass die Ursachen des Schreiens unklar sind, oder erklären Sie, dass Ihr Baby besonders empfindsam ist. Distanzieren Sie sich jedoch von Menschen, die Ihnen Schuld am Verhalten des Babys geben wollen, und suchen Sie sich Gruppen und Kurse, in denen Sie sich austauschen können über die Belastungen, die Sie erleben.

Es ist von großer Bedeutung, einen Teil der Last durch Gespräche abzugeben und manchmal auch einfach in freundlicher Umgebung weinen zu dürfen und getröstet zu werden. Genauso wie Ihr Baby seine Anspannung durch das Weinen und Schreien loslässt, brauchen auch Sie diese Möglichkeit und Menschen, die Ihnen Verständnis, Halt und Trost bieten.