cover
Patricia Jane Castillo

Satinshades

Verborgene Schatten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Satinshades





 

Satinshades

 

 

 


 

I. Verborgene Schatten

 

 

 

 

Satinshades

 

I. Verborgene Schatten

 

 

 

Du glaubst ihn zu kennen?
Sieh genau hin. 
Schau dir seinen Schatten an.

1.


 

 

 

Die Angst waberte wie Nebel durch den Raum voller Mädchen.

»Zadou Aldanha.« Eine mechanische Roboterstimme rief ihren Namen. Er schallte metallisch durch den Lautsprecher, der über dem Flachbildschirm hing. Dieser zeigte gerade ein Musikvideo. Fünf junge Frauen bewegten sich in perfekter Synchronizität.

Zadou schluckte die Angst herunter. Die anderen Mädchen beobachteten sie. Sie spürte jeden Blick ihrer Konkurrentinnen, als sie sich vom Stuhl erhob. Ihre Augen tasteten sie nach möglichen Schwächen ab. Pfeile aus Neid und Missgunst bohrten sich in ihren Rücken, während sie den langen Flur entlang schritt. Die Wände waren mit Bildern erfolgreicher Künstler gepflastert. Genau dort würde bald auch ein Bild von Zadou hängen und dieser Tag sollte den Grundstein dafür legen.

Bauch einziehen. Schultern zurück. Sie hatte nur ein paar Minuten. Im Kopf ging sie blitzschnell alles durch, was sie in den letzten Monaten gelernt hatte, dann drückte sie die Klinke herunter.

Zadou hatte eine Chance. Alles oder nichts. Das erste was sie bemerkte, als sie den Raum betrat, waren die spiegelnden Oberflächen. Drei Wände waren vollständig mit Spiegeln tapeziert, dadurch entstand die Illusion, dass sich das Mädchen mit graugrünen Augen und langen bronzebraunen Haaren vervielfältigt hatte. Durch die grelle Belichtung wirkte ihre Haut weiß wie Papier. Zadou kam sich fremd vor.

»Hallo Zadou.« Am Tisch direkt vor ihr saß ein attraktiver Mann im maßgeschneiderten Anzug. Sein dunkelbraunes Haar war mit Gel gebändigt und seine nachtblauen Augen musterten sie gespannt. Es war BaIyon Ferrer, Chef von Music Might Production, einer der größten Entertainmentfirmen Reagos. Sie hatte ihn oft im Fernsehen gesehen. Er entschied, wer es schaffte und wer nicht.

»Hallo Herr Ferrer«, stammelte Zadou. Wo kam diese plötzliche Nervosität her? Sie war doch sonst nicht so aufgeregt.
»Zadou Aldanha. 15 Jahre alt. 1,72 Meter groß. Wohnhaft in Dalxatir, Haupstadt des Landes Reago.«, las eine perfekt geschminkte Frau von ihrem Tablet vor. Ihr hellblondes Haar sah durch die grellen Scheinwerfer fast silbern aus. Zadou schluckte, ihr Hals war plötzlich so trocken wie Schleifpapier. Neben Ferrer und der puppenhaften Frau saßen noch zwei weitere Personen. Ein junger Mann und eine Frau mit Kurzhaarfrisur. Zadou fragte sich, welche Positionen sie bei MMP besetzten.

»Sind die Angaben korrekt?« Die Puppenfrau sah vom handtellergroßen Bildschirm auf. Ihr Blick wirkte seltsam leblos.

»Ja«, beeilte sich Zadou zu sagen.

»Sehr gut. Dann bin ich gespannt darauf zu sehen, was du vorbereitet hast.« Balyon lächelte ihr aufmunternd zu. Ein Grübchen stahl sich in seine Wangen. Er sah wie ein Popstar aus. Gerüchten zufolge konnte er selbst singen. »Fangen wir mit dem Tanz an.«

»Musik«, rief die kurzhaarige Frau neben ihm. Das Wort knallte wie ein Peitschenhieb.

Ruhig. Du schaffst das. Zadou kämpfte die aufwallende Panik nieder. Sie hatte die Choreographie tausend Mal geübt und beherrschte die Schritte im Schlaf. Ihre Nerven durften ihr jetzt keinen Strich durch die Rechnung machen. Zadous Herzschlag rauschte in ihren Ohren. Die ersten Takte des Stückes erklangen. Balyon Ferrer und die anderen beobachteten sie aufmerksam. Zadou vollführte die erste Bewegung.

Es war eine leichte Welle ihrer Arme. Sie sank in den Tanz hinein wie in Watte. Die Musik verschluckte ihre Nervosität. Mit jedem weiteren Schritt kehrte ihre Selbstsicherheit zurück. Sie verlor sich im Tanz, bis sie vergaß, dass sie sich bei der wichtigsten Prüfung ihres bisherigen Lebens befand.

Die Choreographie saß ihr im Blut. Sie atmete durch jede Bewegung. Dann hörte sie die letzten Takte der Musik und es war vorbei. Schneller, als sie gedacht hatte. Schwer atmend versuchte sie in den Gesichtern der Jury ein Urteil zu erkennen. Doch sie schwiegen.

Balyon stützte sein Kinn auf seine Hände. Der Mund der Puppenfrau war zu einem dünnen Strich verzogen. Die Frau mit den kurzen Haaren machte sich Notizen. Der Mann neben ihr, der bisher geschwiegen hatte, wippte mit seinem Fuß. Die Sekunden, die verstrichen, kamen Zadou wie eine Ewigkeit vor.

»Sehr schön.« Balyon klatschte in die Hände.

»Danke.« Zadou verneigte sich leicht. Sie glaubte ihren Ohren nicht. Der Chef von MMP, einer der größten Plattenfirmen des Landes, lobte ihren Tanz.

»Aber unsere Voluntees müssen mehr können«, fuhr er fort.

»Du hast drei Lieder vorbereitet.« Zum ersten Mal sprach der Mann, der ganz außen saß. Sie nahm ihn genauer in Augenschein. Seine halblangen Haare waren violett getönt und bedeckten sein halbes Gesicht.

»Du fragst dich sicher, warum wir dich erst tanzen und dann singen lassen. Die Antwort ist ganz einfach. Die Bühne verlangt euch alles ab. Ihr müsst schwierige Choreographien tanzen und dabei stimmliche Höchstleistungen zeigen.« Die Worte der kurzhaarigen Frau waren abgehackt und hart wie Stockhiebe. Hoffentlich war sie nicht eine der Ausbilderinnen hier. Ihr Unterricht war bestimmt kein Zuckerschlecken.

»Musik.«

Zadou wurde ins kalte Wasser geworfen. Immer noch kurzatmig, versuchte sie sich auf den Titel zu konzentrieren. Es war Meeresrauschen von Missada, einer der bekanntesten Sängerinnen Reagos. Sie war ihr Vorbild und einer der Gründe, warum sie sich bei MMP beworben hatte. Missada Targue hatte ihre Karriere hier begonnen. Als Voluntee.

Zadou wollte in ihre Fußstapfen treten. Das Intro dieser Ballade endete und die erste Strophe begann. Zadou fing an zu singen. Leise, fast wispernd. Sie hatte Missada immer dafür bewundert, wie sich ihre Stimme an das Meeresrauschen des Tracks schmiegte. Ob es bei ihr auch so klang? Im Pre-Chorus wurde ihre Stimme lauter. Zadou hatte diesen Song nicht nur gewählt, weil er ihr gefiel, sondern auch, weil er die Bandbreite ihrer Stimme zeigte. Sie hatte nur wenige Minuten, um die Leute von MMP zu überzeugen. Draußen warteten hunderte von talentierten Mädchen auf ihre Chance. Jede von ihnen freute sich, wenn ihre Konkurrentin einen Fehler machte.

Nach dem zweiten Refrain kam eine instrumentale Bridge, die den letzten fulminanten Refrain einleiten sollte, doch plötzlich verstummte die Musik.

»Danke«, sagte die Frau mit der Männerfrisur eisig. Obwohl es in diesem Raum warm war und Zadou vor wenigen Minuten eine schweißtreibende Choreographie gezeigt hatte, wurde ihr augenblicklich kalt.

Das war kein gutes Zeichen. Sie suchte in den Gesichtern der anderen nach Hinweisen. Ihre Mimik schien festgefroren zu sein.

»Soll ich noch etwas singen? Ich habe noch zwei weitere Lieder vorbereitet«, sagte sie leise.

Niemand antwortete ihr. Die Gesichter der Jury waren ausdruckslose Masken.

Das war es. Zadou ließ die Schultern hängen.

»Wir haben genug gehört.« Balyons Lippen bewegten sich kaum, als er sprach. Er sah sie mit einem neutralen Gesichtsausdruck an, der alles bedeuten konnten. Zadou hätte ihr ganzes Taschengeld dafür gegeben, um seine Gedanken zu lesen.

»Jetzt brauchen wir nur noch ein paar Aufnahmen deines Gesichts.« Ein winziges Grübchen zeigte sich neben seinem rechten Mundwinkel. »So testen wir deine Kameratauglichkeit.«

Auch das noch. Zadou schluckte, als ein untersetzter Mann mit einer Spiegelreflexkamera auf sie zukam. Wo hatte er sich die ganze Zeit über versteckt? Zadou sah sich um. Einer der Spiegel war eine Schiebewand, hinter der sich ein ganzes Kamerateam verbarg.

»Sei ganz natürlich.« Balyon zwinkerte ihr zu. Zadou fuhr sich durch das Haar und versuchte es mit den Fingern zu entwirren. Ihr Tanz hatte es ganz durcheinander gebracht. Jemand richtete einen Scheinwerfer auf sie. Mit einem Seitenblick in einen der gigantischen Spiegel vergewisserte sie sich, wie sie aussah. Gerne hätte sie die Bürste aus ihrer Tasche geholt, die vorne an der Tür lag.

»Wir machen ein paar Porträtaufnahmen. Anschließend Halbporträt und Ganzkörperbilder«, erklärte der Fotograf in einem sachlichen Ton.

Bevor sie etwas erwidern konnte, drückte der Mann auf den Auslöser. Blitzlicht blendete sie. Sie lächelte und stemmte ihre Hände in die Hüften. Es fiel ihr schwer natürlich zu bleiben, wenn sie von so vielen Menschen beobachtet wurde. Nicht irgendwelchen Menschen, sondern wichtigen Leuten von Music Might Production, korrigierte sie sich.

»Das Lächeln ist zu wächsern. Entspann dich. Gib mir mehr Posen. Mehr Ausdrücke«, wies der Fotograf sie ungeduldig an.

Zadou drehte sich ins Profil, sie drückte den Rücken durch und zog ihren Bauch ein.

»Kinn runter. Gesicht mehr zu mir. So ist es gut. Pose halten.« Der Fotograf knipste ein Bild nach dem anderen. Zadou gab sich Mühe und setzte jeden Hinweis um. Die Blitze des Apparates brannten sich in ihre Netzhaut. Das Kamerateam und die Menschen hinter dem Jurytisch verschwammen hinter dem Blitzlichtgewitter zu grauen Schemen, aber sie verschwanden leider nicht aus ihrem Kopf. Zadou musste einen guten Eindruck hinterlassen, komme was wolle.

»Das war es. Ich habe genug Aufnahmen« Der Fotograf senkte seine Spiegelreflexkamera und nickte Balyon zu.

»Perfekt.« Der Chef von MMP erhob sich von seinem Stuhl und kam auf sie zu. Sie war beeindruckt von seiner Größe und schlanken Statur. Er war mindestens 1,90 Meter groß. Sein Blick war zielgerichtet wie eine Kameralinse.

»Jetzt fehlt nur noch das Interview«, meldete sich der Lilahaarige zu Wort.

Jemand aus dem Produktionsteam schleifte einen Metallstuhl über den Boden und stellte ihn vor Zadou.

»Setz dich.« Balyon legte seine Hand auf ihre Schulter. Die Wärme seiner Finger drang durch den Stoff ihres Oberteils. Ihr Körper gehorchte von allein. Balyon Ferrer hatte etwas an sich, das andere Menschen gefügig machen konnte. Doch bevor sie sich mehr Gedanken darüber machen konnte, postierte sich der Kameramann vor ihr. Ein weiterer Mann filmte sie mit einer kleinen Handykamera aus einer anderer Perspektive. Der Chef von MMP trat zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Zadou fühlte sich wie ein Tier im Zoo. Sie war noch nie so vielen Blicken ausgesetzt gewesen.

»Es sind nur ein paar Fragen. Für das Protokoll.« Balyon verschränkte die Finger ineinander. »Warum willst du bei MMP unter Vertrag genommen werden?«

Zadou fühlte, wie ein Zug über sie rollte. Mit einem Interview hatte sie nicht gerechnet, schnell legte sie sich eine Antwort zusammen, die halbwegs angemessen war.

»Music Might Productions bringt seit vielen Jahren die größten Künstler hervor. Es wäre eine Ehre bei ihnen als Voluntee aufgenommen zu werden.« Zadou wusste nicht, ob Balyon diese Antwort gefiel, denn sein Gesichtsausdruck war absolut neutral.

»Wie sehr willst du es?«, stellte er die nächste Frage.

»Sehr.« Zadou schluckte. »Es gibt wenige Dinge, die ich mehr will.«

Die Menschen aus dem Produktionsteam betrachteten sie wie ein kompliziertes Rätsel. Ihre Blicke schüchterten sie ein.

»Bist du bereit Opfer zu bringen?« Für einen winzigen Moment verdunkelten sich Balyons Pupillen.

»Es kommt drauf an.« Zadou fühlte sich unwohl in ihrer Haut. War das ein Test? Konnte sie sich mit einer falschen Antwort alles zunichte machen? »Ich bin bereit viel dafür zu geben, um meinen Traum leben zu können.«

Balyons Mundwinkel hoben sich leicht nach oben. Die nächsten Fragen beantwortete sie selbstsicherer. Es ging darum, wo sie sich in fünf Jahren sah, welche Musikrichtung sie mochte und welche Stars von MMP zu ihren Vorbildern zählten.

»Schnitt.«, rief der Mann, der mit der kleinen Kamera gefilmt hatte.

»Schön, dass du hier warst Zadou.« Balyon streckte seine Hand aus. Zadou ergriff sie zögerlich. Die Aura dieses Mannes umfing sie wie ein Samtmantel. Sie war selten einem Menschen begegnet der so geheimnisvoll war.

»Vielen Dank.« Zadou verbeugte sich. In ihrer Kultur zollte man älteren Personen Respekt.

»Wir melden uns bei dir.«

 

 

 

Turnschuhe quietschten über den Hallenboden, Ein Ball prallte gegen die Wand. Rufe ertönten. Der Sportlehrer pfiff.

Zadou langweilte sich. Sie hatte überhaupt nichts für Mannschaftsspiele übrig, außerdem war sie wieder mal als Letzte ausgewählt worden. Jira hatte sie aus Mitleid in ihr Team gewählt, nachdem Herr Refor sich lautstark geräuspert hatte. Ein Geräusch, um die anderen zu erinnern, dass sie noch eine weitere Mitschülerin hatten.

Es gab fast nichts Schlimmeres als die Ballspiele, die ihr Lehrer sie am Ende der Stunde spielen ließ. Zadou saß herum, während zwei Leute aus ihrer Klasse ihre Mannschaften wählten. Früher hatte sie verzweifelt darauf gewartet, dass ihr Name aufgerufen wurde und nie verstanden, warum sie immer als Letzte auf der Bank saß.

Es hatte stärker geschmerzt, als die Knie, die sie sich aufschürfte, wenn sie beim Hindernisparcour stürzte und es hatte mehr wehgetan, als die Seitenstiche, die sie beim Kilometerlauf bekam. Doch das war lange her. Mittlerweile war es ihr egal, das Mädchen zu sein, das aus Mitleid ins Team gewählt wurde.

»Wie wäre es, wenn du mal den Ball fängst, statt nur dumm herum zu stehen?«, zischte Lona.

»Kümmere dich um deinen Kram.« Zadou hatte nicht vor, sich mehr Mühe zu geben als nötig. Sie brauchte ihre Energie für den Tanzunterricht und wollte sie nicht bei sinnlosen Spielen verpulvern.

Der Ball flog auf sie zu. Statt ihn zu fangen, wich sie aus.

»Mehr Einsatz, Zadou.« Herr Refor setzte die Pfeife an die Lippen. »Noch fünf Minuten.«

Die Stunde endete mit einem unentschieden und einem weiteren Kommentar von Lona. »Herr Refor sollte dir eine Sechs geben.«

»Interessiert dich eigentlich etwas anderes, als mein Leben, Lona? Nein? Dann ist deine Existenz ziemlich armselig.« Zadou wartete nicht auf die Antwort, der drahtigen Blondine, sondern ging mit schnellen Schritten in die Umkleide.

Sie hatte kaum Freunde in ihrer Klasse. Nur Nallit unterhielt sich mit ihr und interessierte sich für sie. Doch das schüchterne Mädchen setzte sich nie für sie ein, wenn Lona und ihre Clique gehässig wurden. Zadou konnte es ihr nicht verübeln, Nallit fürchtete selbst, zum Opfer zu werden, wenn sie ihre Meinung aussprach.

Sie pfefferte ihre Turnschuhe in ihre Sporttasche und beeilte sich, die stickige Umkleide zu verlassen. Die Schule gehörte nicht zu ihren Lieblingsorten. Sie hetzte über die belebten Gänge und wich einer Gruppe Mädchen aus. Wie gerne würde sie in der Pause mit Freundinnen lachen und über Jungs reden, statt ständig auf der Hut zu sein. Sie wusste nicht, warum Lona sie zum Hassobjekt erkoren hatte. Es war irgendwann in der siebten Klasse passiert. Es hatte mit kleinen Sticheleien und Witzen auf ihre Kosten angefangen. Anfangs hatte Zadou geglaubt, dass es aufhören und wie eine graue Wolke vorbeiziehen würde. Doch aus der Wolke war ein Gewitter geworden. Die anderen Schüler fingen an, sie zu meiden und den Gerüchten immer mehr Glauben zu schenken.

Lona hatte am Ende der siebten Klasse herumerzählt, dass Zadou regelmäßig zum Psychiater ging und in eine Klinik eingewiesen werden sollte. Die anderen hatten ihr geglaubt, niemand hatte Zadou gefragt, ob ihre Geschichte der Realität entsprach. Es hatte nicht lange gedauert, bis Zadou ihre ersten Spitznamen erhielt.

Verrückte und Geisteskranke waren noch die harmloseren davon. Wie kam Lona auf diese Ideen? Für Zadou war der Monat vor den Sommerferien, der schlimmste in ihrem Leben gewesen. Niemand hatte ihr zur Seite gestanden. Nallit hatte damals eine andere Schule besucht und war erst in der achten Klasse dazugekommen.

Nicht mal Zadous Eltern wussten davon. Sie vermuteten, dass ihre schlechte Laune von den miesen Noten kam, die sich langsam auf das Zeugnis geschlichen hatten. Ihre Tochter war bis dahin immer gut in der Schule gewesen. So falsch lagen sie gar nicht. Zadou fiel es zunehmend schwerer, zu lernen. Denn die Schule hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen. Sobald sie einen Hefter aufschlug und sich mit dem Stoff befassen wollte, musste sie an ihre Klasse denken, in der sie zu einem Phantom mutiert war, das entweder ignoriert oder beleidigt wurde.

Auch den Mädchen aus ihrem Tanzunterricht erzählte sie nichts davon. Dort war sie ein anderer Mensch, eine völlig andere Zadou. Sie wollte einen der wenigen Orte, an dem sie sich wohl fühlte, nicht mit ihren dunklen Gedanken beschmutzen. Im Tanzsaal war sie frei. Sie flog wie ein Vogel, dessen Käfigtür aufgestoßen worden war. Das Singen hatte eine ähnliche Wirkung auf sie.

»Du bist aber früh.« Frau Henders, ihre Musiklehrerin sortierte gerade Notenblätter in einen Ordner, als Zadou die Tür aufstieß.

»Ich dachte, ich könnte kurz ins Studio gehen, solange die anderen noch nicht da sind.« Musik war wie ein Balsam für sie.

»Du hast zehn Minuten.« Frau Henders warf ihr den Schlüssel zu. Nicht alles war schlecht. Es gab ein paar Lichtblicke an ihrer Schule. Nallit, Frau Henders, die Tanz-AG einmal pro Woche und das kleine Studio, das sich im Hinterzimmer des Bandraums befand.

Eine Tür schräg hinter der Tafel führte in den Probenraum, der mit Instrumenten vollgestellt war. Ein Flügel stand mitten im Raum. An den Wänden hingen E-Gitarren und auf einem kleinen Podest befand sich ein Schlagzeug. Zadou mochte diesen Ort, den sich einige Schulbands teilten. Ihr Weg führte sie zwischen zwei Mikrofonständern vorbei zu einer schwarzen Tür.

Sie stürmte in das Studio und lehnte sich an die gepolsterte Wand. Die Stille beruhigte ihre Nerven. Sie war stärker als in der siebten Klasse, Lonas Angriffe taten nicht mehr weh. Zadou hatte ein Granitschild aufgebaut, das alle Attacken abprallen ließ. Jede getrocknete Träne hatte neue Schichten entstehen lassen.

Sie saß noch einen Augenblick in völliger Dunkelheit, dann knipste sie das Licht an. Sie schloss ihren Mp3-Player an die Boxen und schaltete das Mikrofon ein.

Missadas Lied Herzklang schallte gedämpft in die Aufnahmekabine. Schnelle Gitarrenriffe setzten ein, das Schlagzeug imitierte einen Herzschlag. Zadou kannte dieses Lied auswendig. Die Instrumentalversion war ein wenig anders, als das Original aber es genügte ihren Ansprüchen. Sie sang und entließ die Wut, die sich aufgestaut hatte. Der dunkle Nebel verließ ihre Seele. Ihre Stimme war kraftvoll und schenkte ihr Mut.
Wenn meine Stimme eine Waffe wäre, könnte ich Lona damit durch die Luft schleudern. Zadou grinste bei diesem Gedanken.

Gleichzeitig dachte sie an MMP. Das kleine Schulstudio erinnerte sie an das Casting vor zwei Wochen. Balyon Ferrer hatte sich noch nicht gemeldet. Die Leute von Music Might Productions hatten ihre Daten eingespeichert. Sie konnten anrufen, eine Mail oder sogar einen Brief schreiben. Doch bisher herrschte Funkstille. War sie nicht gut genug gewesen, um als Voluntee aufgenommen zu werden? Sie hatte nichts in den Mienen der Leute lesen können.

»Zadou, der Unterricht beginnt gleich.« Frau Henders klopfte an die Tür.

»Ich bin gleich da.«

Die Stunde verlief ohne große Vorkommnisse. Frau Henders spielte ihnen klassische Musik vor und erklärte den Aufbau eines solchen Stückes. Zadou saß mit Nallit in der vorletzten Reihe und lauschte einer Geigenmelodie. Sie war seit jeher fasziniert von klassischer Musik und verstand nicht, warum die meisten gelangweilt in ihren Stühlen hingen. Aber es hatte auch Vorteile. Lona und ihre Schergen Fiola und Belty waren damit beschäftigt, über ihre Smartphones zu wischen und beachteten sie nicht.

Gerade als Zadou sich nach hinten lehnen wollte, drehte sich Lona um. Ihre blonden Augenbrauen berührten sich wie zwei gezackte Blitze und ihre grauen Augen musterten Zadou abfällig.

»Was will sie schon wieder? « Zadou schüttelte den Kopf.

»Dich in kleine Häppchen zerlegen?« Nallit zuckte die Schultern. »Beachte sie einfach nicht.«

Das wollte Zadou, doch Lonas Verhalten ließ ihre Alarmglocken schrillen. Sie stieß Fiola den Ellenbogen in die Rippen und zeigte ihr etwas auf ihrem Handy. Die beiden tuschelten lautstark. Belty, die eine Reihe vor ihnen saß, drehte sich um und starrte neugierig auf den Bildschirm.

Auf einmal ging die Musik aus.

»Kannst du der Klasse erklären, welchen Einfluss die Stilrichtungen der alten Epoche auf unsere Musik hatten, Lona?«, fragte Frau Henders.

»Ich... ja...« Lona ließ ihr Handy schnell in ihrer Handtasche verschwinden. »Die Musik der alten Epoche, ja das waren ganz besondere Stilrichtungen.« Die Blonde plapperte drauflos. Jira kicherte. Fimo und Wain lachten. Lona ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.

»Aber ist es nicht eigentlich egal, was die Leute damals für Musik gehört haben? Wer hört so etwas heutzutage überhaupt noch? Das ist so veraltet und ätzend«, platzte sie heraus.

»Danke für deine Ausführung.« Frau Henders runzelte die Stirn, »Unsere heutige Musik würde es ohne die Entwicklung in den früheren Jahrhunderten nicht geben. Das solltest du dir vor Augen, führen, wenn du dir das nächste Mal Musik auf dein Handy lädst.«

»Aha.« Lona warf Jira einen giftigen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ. Auch den Jungs blieb das Lachen im Halse stecken, als sie eine Grimasse zog.

»Gefahr«, murmelte Nallit. »Wenn sie nicht aufpassen, werden sie die nächsten Opfer.«

»Ich hätte kein Problem, mal aus ihrer Schusslinie zu kommen«, seufzte Zadou. »Oder noch besser: Warum zieht sie nicht auf eine einsame Insel und kommt nie wieder zurück? Dann haben alle Ruhe.«

Ihr Wunsch wurde leider nicht erfüllt. Die Klingel übertönte das klassische Stück, das Frau Henders wieder eingeschaltet hatte. Zadou entspannte sich, der harte Teil des Tages war vorbei.

In einer halben Stunde begann ihre Tanz-AG in der Aula. Heute probten sie das letzte Mal vor ihrem Auftritt am Samstag. Da fand in der Schule eine Spendengala statt. Die unterschiedlichen Arbeitsgemeinschaften präsentierten sich und sammelten Geld für ein Projekt, das sozial benachteiligten Kinder die Möglichkeit gab, im sportlichen oder künstlerischen Bereich gefördert zu werden.

Neben Zadous Tanz-AG traten die Schauspieler, der Chor, die Zirkusgruppe und ein Gitarrenquartett auf. Vielleicht hatten sich in der Zwischenzeit noch einige weitere AGs angemeldet.

»Wir sehen uns dann morgen.« Nallits rotbraune Locken kitzelten Zadous Oberarme. Nallit war ein ganzes Stück kleiner als sie.

»Viel Spaß bei deiner AG. Schade, dass ihr nicht bei der Spendenaktion mitmacht«, sagte Zadou.

»Unser Schwimmteam? Was sollen wir auf der Bühne zeigen? Ein paar Trockenübungen?« Nallit prustete los. Ihre Nase kräuselte sich dabei.

»Witzig wäre es.«

»Ich kann die anderen fragen.« Nallit winkte ihr zum Abschied. Zadou schlenderte über die leerer werdenden Flure. Die meisten hatten es eilig, das Schulgebäude zu verlassen oder zu ihren AGs zu kommen. Doch Zadou hatte Zeit, die Aula befand sich am Ende des Flures. Sie war froh, dass die Tanzgruppe diesen großen Raum erhalten hatte. Sie brauchten Platz, um zu proben. Mittlerweile machten 11 Leute mit. Zadou, Dati und Benko dachten sich abwechselnd die Choreographien aus. Zadou ging im Kopf gerade ein paar Schritte durch, als Benko die Tür aufriss und hinausstürmte-

»Was ist los?«

»Sieh es dir selbst an.« Er kam schlitternd zum Stehen und fuhr sich durch sein raspelkurzes blondes Haar. Das hörte sich nicht gut an. Sie ging hinein und erstarrte.

Auf der Bühne standen dutzende Stühle und Tische. Sie waren aufeinander gestapelt und ineinander verhakt wie ein moderndes Kunstwerk.

»Wer war das?«, stammelte Zadou.

»Dreimal darfst du raten.« Benko kam langsam wieder zu Atem.

»Vorhin sah es noch schlimmer aus«, meldete sich Rila, eine der jüngeren Schülerinnen, zu Wort. »Überall lag Zeitung und zerknülltes Papier.«

»Wir haben es mit vereinten Kräften weggeräumt.« Dati pustete sich eine schwarze Locke aus der Stirn. »Hier sah es aus, als ob ein Orkan gewütet hätte.«

Die Hälfte der Tanz-AG war dabei, Tische und Stühle von dem schiefen Turm zu lösen. Die anderen trugen Papier in Mülltüten hinaus.

»Diese miese...« Zadou ballte ihre Hände zu Fäusten. Wenn die Mädchen ihrer Ballettschule keine Ahnung hatten, welche Attacken sie in ihrer Schule einstecken musste, wusste es ihre Tanz-AG umso besser.

»Lona hat das bestimmt nicht allein gemacht.« Benko sprang auf die Bühne und begann zwei Stühle auseinander zu ziehen.

»Es gibt mehr von ihrer Sorte«, murmelte Zadou und dachte dabei an Belty und Fiola. Lonas Clique, umspannte noch einen Haufen von Leuten, die nicht in ihre Klasse gingen.

Beispielsweise Amdria und Geras aus der 9c, die einen anderen Stundenplan hatten. Lona hatte bei diesem Werk keinen Finger krumm gemacht. Wie auch, sie hätte es in den zehn Minuten nach dem Unterricht nie allein geschafft, die komplette Bühne zuzustellen. Andererseits hätten sie die Pausen nutzen können. Vormittags fanden keine Veranstaltungen in der Aula statt. Zadou traute Lona alles zu.

Zähneknirschend lief sie die kleine Treppe hinauf und begann, mitzuhelfen. Es würde ewig dauern, die Bühne von den Möbeln zu befreien. Wut kochte in ihr hoch.

Sie wollte schreien. Wenn Lona ein Problem mit ihr hatte, fein. Doch warum ließ sie die ganze Tanz-AG darunter leiden? Genau heute, zwei Tage vor ihrem Auftritt?

»Hallo Zadou.« Jemand tippte ihr auf die Schulter.

»Hey Dim.« Zadou war überrascht, Nallits kleinen Bruder hier zu sehen.»Habt ihr nicht schon längst Schluss?«

»Eigentlich schon, aber wir wollten euch bei den Proben zusehen.« Er deutete auf zwei weitere Jungs, die hinter ihm standen. »Das sind übrigens Venni und Nias.«

Zadou verdrehte die Augen. Zu ihrem Glück fehlten ihr nur noch drei 12-jährige Jungen, die nichts mit ihrer Freizeit anzufangen wussten.

»Ist das nicht langweilig?« Zadou musterte die Sechstklässler, die mindesteins einen Kopf kleiner waren als sie.

»Nein«, antwortete einer von Dims Freunden wie aus der Pistole geschossen. Venni, soweit sie sich erinnern konnte. Er trug eine runde Brille, die seine blauen Augen größer erscheinen ließ. Sie waren klar wie ein wolkenloser Morgenhimmel. Hellbraune Wellen lockten sich um das dünne Gestell. Seine Stimme war erstaunlich melodisch.

»Nein? Dann könnt ihr uns gerne helfen. Na,wie sieht es aus?«

Zadou reichte Dim den Stuhl, den sie gerade heruntergetragen hatte.

»Wir hätten lieber zu mir gehen sollen, um Computer zu spielen«, maulte er, nahm das Möbelstück aber entgegen.

»Ich helfe euch gern.« Vennis himmelblaue Augen strahlten.

»Sehr gut. Was ist mit dir, Nias?«

»Wenn es sein muss«, grummelte er und begann den anderen zur Hand zu gehen.

»Mit der zusätzlichen Hilfe sind wir schneller fertig. Danke, Jungs.« Benko streckte einen Daumen nach oben. Tatsächlich lichtete sich die Bühne nach ein paar Minuten und bald hatten sie alle Tische und Stühle heruntergeholt und wieder im Zuschauerraum verteilt.

»Das war unsere Aufwärmung«, rief Dati. »Eigentlich wollte ich etwas anderes machen, aber dazu fehlt uns leider die Zeit.«

Die Aula war nicht nur bei der Tanz-AG begehrt. Nach ihnen war die Percussion-AG an der Reihe. Vielleicht würden ihnen die Trommler fünf Minuten mehr einräumen, doch darauf wollte Zadou nicht spekulieren.

»Machst du die Musik an?«,Sie wandte sich an Benko.

»Den letzten Mix?«

»Genau den.«

Die Gruppe stellte sich auf. Jeder nahm seine Anfangsposition ein. Dann begann das Lied. Benko beeilte sich auf die Bühne zu kommen. Sobald die Musik spielte, betrat Zadou eine andere Welt. Etwas übernahm von ihr Besitz, etwas, was im Alltag nie zum Vorschein kam. Die Musik und der Tanz machten sie zu einer anderen Person.

Am Rande nahm sie wahr, dass sie drei Zuschauer hatte. Dim, Nias und Venni saßen in der dritten Reihe. Nallits Bruder und Nias waren über den Bildschirm eine tragbaren Spielkonsole gebeugt aber Venni beobachtete das Geschehen auf der Bühne gebannt. Er sah sie an und betrachtete jede ihrer Bewegungen konzentriert.

Zadou kannte nicht vielen Jungen, die solch ein Interesse am Tanzen zeigten. Vielleicht sollte sie ihn fragen, ob er Lust hatte, der Tanz-AG beizutreten, wenn er etwas älter war.

Sie probten den Tanz noch vier Mal. Es gab kleine Unsicherheiten bei den Formationswechseln, aber die Choreographien saßen.

Zufrieden sah sie eines der Videos an, dass mit Rilas Handykamera gefilmt worden war. Keine Lona würde sie kleinkriegen, egal was geschah.